Ferienlektüre

In den Ferien sucht man Entspannung. Nach ein paar Tagen erwacht die Neugier wieder. – Warum nicht eine Sage aus dem Altertum lesen?

Ein Aufsteiger
Phaeton ist der Sohn des Sonnengottes Apollo und einer menschlichen Mutter. Von einem Bruder gekränkt, will er wissen, wer sein Vater war. Er fragt seine Mutter: „Bin ich wirklich ein Spross aus göttlichem Stamm, dann gib mir ein Zeichen und erhalte mir meinen Anspruch auf den Himmel.“ Seine Mutter zeigt ihm die Sonne. „Der Gott da, den du erblickst, der Gott, der die Welt erwärmt, ist dein Vater. Treibt dich dein Herz, so geh und befrage ihn selbst.“ So erzählt Ovid. Phaeton stürzt davon „und greift nach dem Himmel im Herzen.».

Er kommt zum Sonnengott, bestürmt ihn: „Gib mir ein Pfand, damit man mir glaubt, und nimm den Zweifel aus meinem Herzen!“ Der Vater will alles tun, was er sich wünscht. Phaeton will an Stelle des Vaters stehen. «Ich möchte den Sonnenwagen lenken.» „Natürlich, dass du glauben kannst verlangst du sichere Beweise», sagt der Vater, «aber diese Aufgabe ist zu gross für dich».

Phaeton beharrt auf seinem Wunsch. Der Vater, der geschworen hat, muss ihn gewähren lassen. Phaeton steigt auf. Bald verliert er den Weg. Er kann den Wagen nicht lenken, die Rosse gehen durch. Bald steigt er zu hoch, bald sinkt er zu tief. Die Himmel geraten durcheinander, die Erde verbrennt. Phaeton erschrickt, er verliert die Kontrolle, schon bereut er seinen Wunsch. Der Kosmos gerät aus den Fugen. Zeus schleudert einen Blitz gegen den überforderten Weltenlenker und rettet den Kosmos.

Wenn die Pole rauchen
Für Zeitgenossen der Klimakrise klingt es vertraut, wenn sie hier lesen, wie Phaetons Eingriff in den Naturablauf Wetter und Klima durcheinanderbringen. Wälder brennen, Flüsse und Seen vertrocknen, Wüsten breiten sich aus. Phaeton steckt die Erde in Brand. Die Erde beklagt sich. «Ist das der Dank für meine Fruchtbarkeit und meine Dienstbereitschaft?» «Bereits rauchen die Pole. Wenn diese das Feuer zerstört hat, stürzen auch eure Paläste.»

Während Prometheus ein Kulturbringer-Mythos ist (er bringt der Menschheit das Feuer), könnte man Phaeton als Mythos der Zivilisations-Kritik bezeichnen: Er warnt die Menschheit davor, einen falschen Entwicklungspfad einzuschlagen – nicht nur einmal, in grauer Vorzeit, sondern immer wieder, weil die Versuchung dazu immer neu ist.

Phaeton möchte die Bedingungen seiner Existenz selber kontrollieren und scheitert daran, weil er sich selber nicht erschaffen hat, weil er abhängig ist von all dem, was vor ihm auf der Welt war. Sich darauf zu verlassen, ist ihm zu unsicher, es macht ihm Angst. So will er kontrollieren. Aber gerade sein Kontrollieren ist es, das die Dinge immer wieder entgleisen lässt.

Gefragt wäre ein Vertrauen, das Grenzen annehmen kann. Das Leben selber ist begrenzt, hier stellt sich die Frage in aller Schärfe, wie wir uns einstellen zu unserer „condition humaine“. Mit aller Technologie kann man die Lebens-Grenze nicht aufheben, man kann sie allenfalls etwas hinausschieben. Aber das um jeden Preis verlängerte Leben erfüllt nicht immer, was man sich davon verspricht. Hier ist nicht eine technologische Antwort gefragt, sondern eine kulturelle.

Was hat Apollo dem Phaeton gesagt? Das Folgende ist von Ovid nicht überliefert.

Die Solidarität des Lebendigen
„Glaube doch, dass du mein Sohn bist und ich dir als Vater zugetan. Was willst du den Wagen lenken, was suchst du den Beweis, dass du aus meinem Geschlecht bist? Das kannst du nicht. Lass es genug sein an dieser Liebe, die ich zu dir spüre.

Du bist mein Sohn! Du hast einen göttlichen Vater, der zu dir steht und dich nicht vergisst. Er führt dich, und du wirst zu ihm kommen, eines Tages, wenn alle vereint sind. Es wird ein grosses Ankommen geben.

Darum darfst du jetzt aufstehen und gehen. Auf der Erde, die ich dir bestimmt habe.

Ich habe eine grosse Liebe eingepflanzt allem was auf dieser Erde lebt. Du kannst es spüren. Es ist eine tiefe Solidarität, dass alles Leben sich zudienen muss. Unter allem Schein von Feindschaft und Gegnerschaft. Es ist der Weg, den ich dir bestimmt habe.

So geh jetzt in Gottes Namen. Nimm diese Erinnerung mit, dann hast du genug. Du brauchst nicht immer wieder Halt zu machen, umzukehren und zu suchen, als ob du alles verloren hättest. Ich sage dir, ich verlasse dich nicht, bis du am Ziel angekommen bist, das ich dir jetzt zugesagt habe.

 

Aus Notizen 2012
Die Geschichte von Phaeton erzählt Ovid in den «Metamorphosen»
Bild Phaëton, Thomas de Leu, 1614, nach Antoine Caron