Sommergedanken

Der Sommer hat seinen eigenen Rhythmus. Wenn es draussen heiss ist, wenn alles unter einer heissen Mittagssonne liegt, zieht man sich gern ins kühle Zimmer zurück. Wer in den Süden gefahren ist, um auszuspannen, entdeckt die Siesta. Die Sonne dringt durch die Läden ins abgedunkelte Zimmer und erzeugt eine zauberhafte Stimmung.

Der Abend hat seine eigene Weisheit. Man ahnt etwas, wenn man im Garten sitzt und die Düfte der blühenden Büsche herüber wehen. Man trifft sich mit Freunden, unterm Gespräch geht der Abend dahin und man sitzt noch lange in die Nacht hinein. Vielleicht macht man noch einen Spaziergang und entdeckt den Sternenhimmel über sich. In einer Wiese tanzen Glühwürmchen, es ist wie ein Sternenhimmel in Bewegung…

Man begreift, dass das „Schauen“ in der Antike ein eigener Zugang zu Welt war. Im Schauen eröffnet sich ein Zauber, der anders nur schwer zu entdecken ist. Es braucht eine innere Gleichgestimmtheit, um ihn wahrzunehmen und wertschätzen zu können.

 

Antike
Die Philosophen ordneten die Welt nach dem Zugang, den wir zu ihr haben. Vieles können wir nicht beeinflussen, wir haben nur schauend einen Zugang. Das ist der Bereich der Theoria. Von diesem Zugang leitet sich die moderne Wissenschaft her. Sie sucht nach Wahrheit. Anderes ist uns Menschen aufgegeben, damit wir ein rechtes Leben führen. Das ist der Bereich der Praxis. Von diesem Zugang leitet sich Ethik und Politik her. Sie suchen nach dem richtigen Handeln. Daneben kannte die Antike noch einen dritten Zugang zur Welt. Er betrifft Dinge, die ihren Zweck nicht in sich selber haben. Sie werden gemacht, um anderer Dinge willen. Das ist das «Machen» oder die Poiesis. Es umschreibt das Wirtschaftsleben.

Wichtig aber war, das Menschsein recht zu leben. Und diese menschliche Praxis holte sich Orientierung an der Theoria, an dem, was am Himmel zu schauen war: die rechte Ordnung für alles, was da ist. Das Machen hat damals noch nicht die ganze Welt erobert, es war nur ein Teil der menschlichen Tätigkeit.

 

Mittelalter
Im Mittelalter diskutierten die Weisen, was vorzuziehen sei, ein Leben in Betrachtung (vita contemplativa) oder ein aktives Leben (vita activa). Und man fühlte sich unterstützt von der Bibel. Auch Jesus gab Maria Recht, die im biblischen Gleichnis lieber Jesus zu Füssen sitzt, als sich um seine Bewirtung zu kümmern, wie es Marta tat. «Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.» (Lk 10, 41f)

Das Mittelalter war nicht unfähig zu modernem Wachstum, es hatte andere Werte. Aber bald begann man Martha recht zu geben. Ein Geist der Tätigkeit breitet sich aus. Und Werte, die man angehäuft hatte als Sicherheit für die Zukunft, sollten nicht mehr nutzlos gehortet werden. Damit ging das Zeitalter zu Ende, als man noch Schätze häufte, und das Zeitalter des Kapitals begann.

Auch Geld kann arbeiten. Schätze wurden verkauft, Schmuck „versilbert“, Pokale eingeschmolzen, und mit dem Geld rüstete man Schiffe aus. Diese fuhren in ferne Länder, brachten Gewürze und seltene Waren mit und das eingesetzte Kapital vervielfachte sich. Der Händler wurde reich. Er rüstete weitere Schiffe aus.

So nahm das Machen überhand. Die Poiesis wurde wichtiger als die Praxis. Und die Theoria ging verloren. Wer hat noch Zeit, in den Himmel zu schauen.

 

Heute
Heute reicht ein Augenblick aus und spekulative Milliardenwerte vernichten das Vermögen, das viele Menschen sich angespart haben. Ein Leben lang haben sie Geld zur Seite gelegt, damit sollten ihre Kinder eine Ausbildung machen. Es sollte den Ruhestand sichern, wenn sie alt sind. Die Banken krachen, Staaten gehen Bankrott oder entledigen sich ihrer Schulden durch Geldentwertung. Und in einem Augenblick ist vernichtet, was viele Menschen in langen Jahren angespart haben.

Das Machen hat überhandgenommen. Aber es löst nicht ein, was es versprochen hat.

 

Aus Notizen 2012