Von Gott erzählen

„Wie finde ich eine Glaubenssprache, die der Katastrophe in Tschernobyl gewachsen ist?“ Das war die Frage meiner Schlussarbeit nach dem Theologie-Studium 1992. Anfangs des Millenniums kamen viele verstörende Erlebnisse dazu: der Anschlag von Nine-Eleven, der Amok-Lauf im Zuger Parlament, das Grounding der Swissair, die Klima-Veränderung… Für mich war es auch privat eine schwierige Zeit. Das löste bei mir eine Suchbewegung aus, die sich vielleicht in die Frage kleiden liesse: Wie kann ich in all diesen Infragestellungen vertrauen, von Gott gehalten zu sein? Wie kann ich unsere Kinder in diese Zukunft hineingehen lassen, die so verstellt scheint?

Die Notizen aus dem Jahr 2003 gehen einen Schritt weiter. Ausgehend von der Erfahrung, dass das Erleben traumatisierter Menschen eine innere Nähe zur Bildsprache mythologischer Erzählungen hat, wollen sie diese mythologische Sprache wieder nutzen für die Seelsorge und die kirchliche Verkündigung.

Die Hindernisse stellen sich weniger bei den angesprochenen Personen ein. Die Sprache der Bibel wird in existenziellen Situationen akzeptiert, auch wenn die Betroffenen sonst weit davon entfernt scheinen. Die Widerstände kommen aus der kirchlichen Praxis. Hat die Theologie die Mythen nicht aus dem Bereich erlaubter Sprache ausgeschieden? Wird die Metaphysik, die da aufscheint, nicht seit 200 Jahren von unserer Kultur verabschiedet? Es wirkt grotesk, in diesem Umfeld eine „neue Mythologie“ zu fordern.

Die Erfahrung zeigt aber, dass die Widerstände letztlich weniger von diesen weltanschaulichen Fragen herrühren als von einem Welt-Erleben, das vielen Menschen fremd ist, die „bodenständig“ im Leben stehen. Menschen mit tiefen Verletzungs-Erfahrungen ist es aber vertraut. Diese finden Ansprache in einer ganzen Fantasy-Kultur, die sich im Windschatten des kirchlichen Mythenverbots breit entfaltet hat. Sie hat die Phantasie der Menschen erobert. Und die auf Historie und Moral reduzierte Botschaft der Kirchensprache wirkt nur blutleer auf sie.

Ein theoretisches Buch zur Frage einer „Neuen Mythologie“ würde heute kaum auf Verständnis stossen. Diese Forderung ist aber nicht am Schreibtisch entstanden, sondern in der Seelsorge. In der mythologischen Bildsprache fand ich eine Hilfe für heutige Fragen. Und wer weiss, ob sie nicht eine Zukunft vor sich hat? Denn die Infragestellungen unserer Zeit werden nicht kleiner. So kann auch die Normalsprache etwas von der seelsorgerlichen Sprache aufnehmen, so wie die Normalpädagogik Methoden aufgenommen hat, die früher für die Sonderpädagogik entwickelt wurden. Was „normal“ ist und was „am Rand steht“ – diese Grenzen verschieben sich.

Das Wesentliche der „mythologischen Sprache“ besteht darin, dass sie die Gegenwart Gottes gerade auch im Schwierigen glaubhaft machen kann, dass sie Hoffnung weckt und dazu einlädt, den Weg im Vertrauen zu gehen. Das wünsche ich unseren Kindern und der kommenden Generation.

Aus «Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt. Für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in der reformierten Kirche. Notizen 2003. (Vorwort)

 

Inhaltsverzeichnis

Von Gott erzählen. 1

Mytho-Poesie. 2

Mythos und Trauma. 3

Ein Comic aus Hiroshima. 3

Mystik zur Zeit der Katastrophen. 6

Nach dem Hitze-Sommer 2003. 7

Wirkmächtig erzählen. 7

Stirbt Gott in den Unglücken dieser Welt?. 8

 

Mytho-Poesie

Immer wieder ist es mir ein Bedürfnis, den Weg Christi zu meditieren, nicht nur seinen Weg auf dieser Welt, sondern auch das, was von der Theologie als „Mythologie“ ausgeschieden worden ist. Anders als die Fachtheologen finde ich tiefe Befriedigung darin. Diese Geschichten antworten auf Fragen; sie antworten nicht, wie die Wissenschaft das tut, und nicht, wie die tätige Praxis das tut. Aber sie füllen mit ihrer Erzählung eine Lücke, die die Wissenschaft und die Praxis nicht füllen können. Sie liegen eine Etage tiefer oder höher.

 

Erzählte Wirklichkeit
Es geht um eine Erschliessung der „Welt“, die diese erst so vor Augen führen, dass Grenzpfähle sichtbar werden und ein Weg sich abzeichnet. Sie geben der Wirklichkeit eine Struktur, entsprechend den Bedürfnissen des Menschen. Sie ordnen, was „es gibt“ so, dass es „begegnet“ auf dem Weg des Lebensvollzugs. Sie geben ihm ein Gesicht, sodass er sich „gegenüber stellen“ kann. Sie bereiten alles, was ist, war und kommt, so auf, dass es „entgegen tritt“ in der Gegenwart.

Sie erlauben die Konzentration auf das Wichtige im Augenblick. (Im Gebet findet der Gläubige eine Haltung, sei es am Morgen zum Aufstehen, sei es am Mittag im hellen Tag, sei es am Abend zum Abschliessen und Anvertrauen.) Sie fassen die Wirklichkeit nicht in eine Formel zu ihrer Berechnung und technischen Ausbeutung – aber in ein „Du“. Das entspricht der menschlichen Selbstwerdung. An diesem Du lernt der Mensch sich selber verstehen.

 

Himmel- und Höllenfahrt
Hier eröffnet sich ein neues Verstehen für die mythologischen Teile der biblischen Christus-Verkündigung. Sie können rekonstruiert werden nicht nur philosophisch im Sinn einer „neuen Mythologie“, einer Rehabilitierung des symbolischen, narrativen, mythologischen Redens. Der „Abstieg ins Reich des Todes“, die Begegnung mit „Dämonen und Gewalten“, der „Aufstieg zu Gott“, das Überwinden von „Thronen und Mächten“ und das Erhöht-Werden zur Rechten des Vaters, von wo er wiederkommen wird als Richter am Jüngsten Tag – das alles sind Bilder, die unmittelbar verständlich sind, sie entsprechen einem Empfinden, das sich diesen im Körper abgespeicherten Erfahrungen öffnet.

 

Mythos und Trauma

Die Trauma-Psychologie, die Erfahrung mit den grossen historischen Traumatisierungen des 20. Jahrhunderts, die erst jetzt, mit 50, 60 Jahren Abstand, in grösserem Umfang angeschaut und ausgesprochen werden, das verlangt geradezu nach einer solchen Sprache, die den Schrecken der inneren Erfahrung gewachsen ist.

Woher der gemeinsame Bilderschatz auch stammt, ob aus dem kulturellen Erbe, ob aus atavistischen, biologisch verankerten Erfahrungen, ob durch das Erbe der Kollektivpsyche in ihrer phylogenetischen Entwicklung – er spricht sich heute überall aus, in Comics, in Filmen, in Fantasy-Produkten der Unterhaltungsindustrie – nur in der Theologie nicht, die sich immer noch ans das Verdikt der mythologischen Sprache hält und ans Phantasiebild eines „modernen Menschen“, der nicht gleichzeitig Radio hören und an Mythen glauben könne.

Aus Notizen 2014

 

Ein Comic aus Hiroshima

Seit vielen Jahren habe ich wieder mal einen Comic gelesen: „Akira“ von Katsuhiro Otomo.

„So ist es!“
Am Anfang steht eine Explosion wie seinerzeit die Atomexplosion über Japan. Und wenn ich sein Buch lese, spüre ich, dass ich seither eigentlich – trotz Ende des Kalten Krieges – immer noch den Kopf eingezogen habe.

Die Japaner leben in dem Land, in dem die Bombe niederging. Sie haben sich in den Trümmern wiedergefunden. Sie mussten die Städte wieder aufbauen. Sie kämpfen mit den Spätfolgen bis heute. Sie mussten hinsehen. Das macht das Packende dieser Erzählung aus und das Gefühl: hier ist Wahrheit. Sie ist in Comic-Form, aber die Bilder wirken authentisch.

Im Hintergrund steht bei mir auch der neue Konfirmanden-Unterricht. Bald habe ich wieder 30-35 Jugendliche, denen ich die Welt und das Leben aus christlicher Sicht erzählen soll und die genau spüren, wo das Authentische aufhört und „die Mache“ beginnt… Nicht das Unvermögen ist hier schlimm, das kennen sie auch, aber das Unechte, das Sich-nicht-Stellen.

Jugendliche in diesem Alter gibt es auch in diesem Comic. Eine Bande von Jugendlichen lebt in Neu-Tokyo, sie kommen aus Familien, die so zerrüttet sind wie das Land. Sie sind in Gangs organisiert, die ihnen den Schutz geben, den ihnen die desintegrierte Gesellschaft und die desorganisierte öffentliche Gewalt nicht geben können.

Der Wiederaufbau von unten, das „nation-building“, der Aufbau einer neuen Zivilgesellschaft, reproduziert nicht das Alte. Das ist so nicht mehr zu haben. Es organisiert sich um kleine Zellen, die Sicherheit garantieren können. Das sind z.B. Gangs, Banden in den Suburbs, Jugend-Gruppen, die zu allererst mal den Schulweg sichern. (Wir kennen das aus dem Ausland, Ansätze gibt es auch in der Schweiz).

Wir sehen ihre Selbstorganisation, die sich um „die Erwachsenen“ und ihre Welt gar nicht mehr kümmert und die der Schule mit Verachtung und mit Tricks des Sich-Gerade-Noch-Durschummelns begegnet. Wir sehen die Ohnmacht der Lehrer, ihren verbissenen Zorn, der sich bis zu Hass und Verachtung steigert, weil sie mit diesen verlorenen Kindern auch ihr eigenes Leben verlieren an dieser Schule. – Ein Teufelskreis des gegenseitigen Kleinmachens, der ausgerechnet das erzeugt, was er verhindern will. Diese Story, diese Bilder wecken in mir das Gefühl: „So ist es!“

Das grosse Erzählen …
Dazu kommt das grosse Erzählen. Es nimmt die Grunddaten der Weltwerdung auf, beginnt bei der Stunde null, mit dem Einschlag der Bombe, in der zerstörten Welt und spielt „38 Jahre danach“, als der Wiederaufbau erst begonnen hat, aber die Zerstörung überall noch weiterwirkt, auch in der Traumatisierung der Menschen.

… angefangen bei der Stunde null
Das ist auch eine Grundtatsache im subjektiven Erleben der Menschen, dass sie vom „Alten“ immer wieder eingeholt werden, dass das Leben immer wieder in dieselbe Kerbe schlägt. Ihr Leben steht wie unter einem Bann. Und diese Traumatisierung greift jetzt bereits auf die zweite Generation über: auf Jugendliche, die nicht erhalten, was sie brauchen, die bis in die Mimik hinein zeigen, dass sie „kaputt“ sind, die sich mit Jungend-Gangs Umgang und Sicherheit organisieren und mit Tablettenschlucken „Speed“ oder Benebelung „einwerfen“.

Die Bombe hat auch im Erleben der Menschen einen ungeheuren Krater geschlagen, so wie er im Eröffnungs-Bild zu sehen ist, als die Jugendlichen ausbrechen, in die alte Stadt fahren (in unbewusster Suche nach der Ursache ihrer Misere) und plötzlich vor diesem ungeheuren schwarzen Loch stehen.

… entlang dem Suchweg der Seele
Eine solche Art des Erzählens, das beim Donnerschlag ansetzt, bei den Grunddaten des Daseins und Erlebens, eine solche Art des Erzählens, das den Suchweg der Psyche nachzeichnet, die ihre Labyrinth-Wege verstehen will, die sich versichern will, woher sie kommt und wo sie gehalten ist, die spüren will, dass sie auf einem grossen Weg geht, der durch alles hindurch führt, eine solche Erzählung kannte seinerzeit auch die Bibel. Es hat sich durch Wiederholung und Distanz abgeschliffen. Die Bilder reden nicht mehr. Ausser sie werden auf diese Art mit Erfahrungen aus unserer Zeit, aus unserem eigenen Erleben aufgefüllt.

Da sind die grossen «Äonen», wie im apokalyptischen Schema in der zwischen-testamentlichen und früh-neutestamentlichen Zeit. Da ist die „Schöpfung“, der „Untergang“, der Beginn der „Neuen Schöpfung“. Da sind die Bombenschläge und die kosmischen Ereignisse, die das Leben des einzelnen in einen ungeheuren Rahmen spannen. Da sind aber auch die Kräfte, die aufbauen – nicht spektakulär, aber sie bringen die ganze Geschichte ins Rollen. Da ist das Trotzdem des Lebens, die Kraft, die Leben zeugt auch ohne den Willen des Menschen und die sich selbst gegen seinen Willen durchsetzt.

Da ist die ganze Macht der Sinnlosigkeit. Ihre Argumente sind unwiderleglich. Da ist der Weltkrieg, da ist der Völkermord, da ist die Schoah, da ist Wiederholung um Wiederholung. (Und die Opfer werden Täter. Auch die Hoffnung auf das Besserwissen der Opfer wird enttäuscht.) Aus dieser Kraft erfolgt nichts als Untergang. Da ist das Faktum des Lebens, ohne Argument. Es geht auf wie die Sonne, und niemand wusste davon, niemand hat sie aus der Tasche gezaubert. Das schlicht Undenkbare und Unmachbare. Und wieder ist es wie bei der Sinnlosigkeit: ihre Argumente sind unleugbar. Es ist licht. Und es bricht sich genauso Bahn im Leben der Protagonisten wie die Schatten der Vergangenheit. Das macht die Geschichte dieser Jugendlichen in Neu-Tokyo aus. Das macht unser Leben aus.

Das ist ein Modell, wie man wieder erzählen kann. Das Neue kommt wie ein Faktum. Wie die Sonne, die aufgeht. Aber erst ist das Hinsehen, das Wahrnehmen von dem, was ist. Erst muss man die Katastrophe wahrnehmen, das Trauma erzählen. Dann ereignet sich der Neubeginn. Nicht aus unserer Kraft.

Im Dunkelraum
Das Erzählen gewinnt seine Gewalt erst wieder, wenn es Himmel und Hölle in Bewegung setzt, und zwar glaubhaft. Wie habe ich als Kind mitgefiebert bei Seereisen, bei der „Schatz-Insel“ von Robert Louis Stevenson! Die Schifffahrt als Modell der Seelenfahrt durch ihre Abgründe, als Bild der Odyssee des Menschen durch sein Leben auf der Suche nach seiner Bestimmung… – die Schifffahrt funktioniert so nicht mehr. Die x-tausend-Bruttoregistertonnen-Schiffe fahren ruhig durch die Brecher, wo die kleinen Segelschiffe früher auf Tod und Leben konfrontiert waren.

Die Satelliten-Navigation weist dem Autopiloten den Weg, wo früher das Dunkel einer sternenlosen Nacht das Erleben in alle Abenteuer der Psyche stürzte, wo aus dem Dunkel archetypische Bilder auftauchten und die Seefahrt zu einem überzeitlichen Ereignis machten.

Aber gehe mit Kindern durch einen Dunkelraum, und sei es nur im Erlebnispfad einer Freizeitanlage. Da ist es wieder zu erleben! Ursprünglich ist das Dunkel (wie der Wald im Märchen, wie die Nacht auf See) die Folie, vor der die Kräfte aus dem eigenen Innern sich bemerkbar machen.

Wegmarken
Im Dunkeln orientiert sich die Psyche wie im Traum. Sie setzt Wegmarken. Sie entfaltet das einmalige, grosse Abenteuer des Menschseins, ja der Menschheit auf ihrem Grossen Weg. Sie weiss nicht, woher sie kommt, sie weiss nicht wohin sie geht. Sie hat nichts als Ahnungen. Sie hat nichts als die Furcht, die sich immer wieder in Katastrophen-Ängsten konkretisiert, dass ihr Weg im Dunkeln endet.

Sie hat nichts als die Hoffnung, die sie immer wieder in Herkunfts-Erzählungen vergewissert, dass sie aus einem anderen Ursprung entstanden ist, einem Ursprung, der die eigene Kraft übersteigt. Sie hofft in diesen Herkunfts-Erzählungen, dass ihr Weg einem anderen Willen folgt, so dass sie sich dort gehalten weiss – über alle Schwäche menschlicher Kraft hinaus, über all die Böswilligkeit und Unfähigkeit des Menschen hinaus, die immer nur Zerstörung zu bewirken scheinen.

Äussere und innere Welt
Zur Wahrnehmung der äusseren Realität, wie es Katsuhiro Otomo eindrücklich zeigt, gehört die Wahrnehmung der inneren Welt. Das Erzählen gewinnt seine Gewalt erst zurück, wenn die Mechanismen der inneren Welt, ihre Bilder und Mythen, aufgenommen werden. Das ist eigentlich schon ein Gemeinplatz im Zeitalter der Re-Mythologisierung.

Aus Notizen 2003

 

Mystik zur Zeit der Katastrophen

Die Krisen und Infragestellungen zu Beginn des neuen Millenniums lösten bei mir eine Suchbewegung aus, ich suchte eine Antwort im Glauben. Bei Psychologen fand ich Versuche, die «Seele» neu zu denken und im Konzept des «Ganzen» zu verankern. So finden sich in der Kultur dieser Zeit Ansätze zu einer «neuen Mystik», während die Fachtheologen die Bibel noch «historisch» lesen.

Wenn «Mystik» eine Art der Betrachtung meint, die das Kleine im Grossen und das Grosse im Kleinen anwesend sieht, dann zeigt sich hier vielleicht eine «Mystik für das Zeitalter der Katastrophen». So kann die erschrockene Seele sich vergewissern, dass sie aus aller Wirklichkeit nicht herausfallen wird.

Die Entwürfe der Psychologen driften teils ins Esoterische ab, sie ermutigen aber doch, alte theologische Konzepte neu zu befragen.

 

Eine reformierte Mystik
Die reformatorische Auffassung von der Bibel, vom biblischen Wort und seiner Verkündigung, ist ein mystisches Konzept. Es handelt von „allem“ und wie der Mensch darin situiert ist. Das Wort, das verkündigt wird, steht in Beziehung zu jenem „Wort“, das am Uranfang ergangen ist und das die Welt ins Leben gerufen hat. Das ist der „Logos“, wie es der Evangelist Johannes beschreibt.

Er ist gegenwärtig und immer neu zu finden. Er ist das «lebendige Wort», das im «gesprochenen Wort» anwesend ist und mithilft, dass dieses auf Glauben stösst. Im glaubenden Aufnehmen des Wortes erhalten die Hörenden Anteil an dem dort ausgesagten Heil, an Vergebung und Versöhnung. Sie dürfen in neuer Unschuld einen neuen Anfang machen in ihrem Leben und trotz allen Versagens und Zerbrechens alter Hoffnungen wieder das Höchste hoffen: dass ihr Leben nicht verloren geht sondern ans Ziel kommt.

Mystik heute
Die Erneuerung der mystischen Frageweise ist interessant für die Frage, wie sich heute von dem reden lässt, was die Tradition mit «Christus» meinte:

  • Da ist die Gegenwart des Ganzen im Augenblick; die Teilhabe des einzelnen am Ziel; sein Hervorgehen aus einem grossen Ursprung und sein unverlierbares Gehalten-Sein.
  • Der Weg des Menschen erscheint als Nachfolge auf einem Weg, der uns und dem Sein schon eingeprägt ist, so dass wir darauf Ziele erreichen, die aufgrund unserer Kräfte allein unerreichbar wären, die aber doch unsere Wachsamkeit, Anstrengung und Verantwortung verlangen, von Schritt zu Schritt, von Augenblick zu Augenblick.
  • Der Weg kann auch verpasst werden. Aber es gibt immer wieder Hilfen zur Rückkehr.
  • Noch im letzten Augenblick kann das Ganze gewonnen werden, wie der «Schächer» am Kreuz zeigt. Aber diese Kraft hat jeder Augenblick, wir können uns ins Ganze stellen, das Tor in der Mauer durchschreiten und in den Garten eintreten.
  • Das Ganze ist schon da, und doch müssen wir den Weg gehen, ohne Stellvertretung.

Aus Notizen 2003

 

Nach dem Hitze-Sommer 2003

Alles, was uns in den letzten Wochen und Monaten beunruhigt hat, scheint wieder im Geleise: Die Hitze ist vorbei, es hat endlich geregnet, Gärten und Kulturen haben wieder Wasser. Die Waldbrände sind gelöscht. Die Temperaturen sind etwa 10 Grad tiefer, man mag wieder hinausgehen. Die Geiseln, die ein halbes Jahr in der Sahara festgehalten wurden, sind frei. Die grösste Katastrophe, die es je in einem Stromnetz gegeben hat, ist ohne schlimme Folgen vorübergegangen. Rund 40 Mio. Menschen in den USA und in Kanada waren ohne Strom. Zuguterletzt hat sich auch die Börse etwas erholt…

Alles scheint wieder gut, wie oft nach den Ferien. Die unwirklichen Bilder, die uns oft während der Ferien erreichen – in den Ferien nehmen wir alles nur von ferne wahr – diese unwirklichen Bilder sind vorbei. Der Alltag hat wieder angefangen mit seinen kleinen Alltagsfragen. Die Nachrichten dieses Sommers wirken aber doch nach. Es ist nicht so leicht, wieder zum Alltag überzugehen. Die Hitzewelle hat uns echt aufgeschreckt.

Gilt das nicht mehr, dass wir von Gott gehalten sind, dass er uns einen guten Weg führt? Zeigt die Wirklichkeit hier ein abgründiges Gesicht? Wird der Boden plötzlich löchrig und abschüssig, auf dem wir bisher standen? Müssen wir schwarzsehen für den Weg der Menschheit? Müssen wir Angst haben für unsere Kinder und Ihre Zukunft?

Aus einem Gottesdienst 2003

 

Wirkmächtig erzählen

Die Notizen 2003 schliessen sich an die Notizen zum „Katastrophenjahr“ 2001 an und führen die dort begonnenen Suchprozesse fort: Wie können die Infragestellungen des neuen Millenniums im Glauben beantwortet werden? Im Trauma finde ich eine Wirklichkeitserfahrung, die der mythischen Sprache nahe kommt in ihrer Intensität und in der Verschränkung von objektiver und subjektiver Realität, die „jetzt“ begegnet.

Von Gott erzählen…
Ziel ist nicht eine religiöse Sprache im psychischen „Normal-Zustand“ oder was sich dafür hält. Die gibt es schon in vielfacher Ausprägung. Die Bilder aus jener „Höllen-Region“ helfen, die religiöse Zusage auch dort auszurichten, wo rationale Ansprachen nie hingelangen, bei Menschen, die verletzt und isoliert sind, die sich nicht mehr zuverlässig integrieren können, weder in ihrer Psyche noch in der Gesellschaft, und die somit aus beidem herauszufallen drohen. Ihnen gilt der Zuspruch des Evangeliums zuerst.

Die Menschen mit gelungener Integration haben ihre rationalen Sprachen und Kalküle. Jene Menschen aber brauchen Christus, der in ihre „Hölle“ hinabsteigt und sie dort herausführt, der ihre „Füsse auf ein weites Land stellt“ (Ps 31), der ihnen Hoffnung und Motivation zurückgibt.

 

… in einer Zeit der Krisen
Das betrifft unter „normalen“ Umständen wenige, unter Krisenbedingungen, wie sie das neue Millennium vermehrt verursacht, betrifft das eine grössere Zahl von Menschen, die ohne eine solche Hilfe am Rand bleiben oder darüber hinausfallen. Die Wiedergewinnung einer mythologischen Sprache, die erfahrungsgesättigt von solchen Erfahrungen sprechen kann, ist somit eine seelsorgerliche Hilfe. Sie ist aber auch ein Gewinn an sich, weil die Sterilität einer entmythologisierten Kirchensprache durchbrochen wird und Menschen sich in den Schilderungen wiedererkennen.

„Mythos“ / „mythologisch“ – diese Begriffe wirken im Zusammenhang mit dem Christentum vielleicht provokativ und unverständlich. Im Prinzip geht es mir um nichts anderes als um die biblische Sprache. Es ist ein Versuch, die mythische Bild-Sprache der Christus-Erzählung und anderer biblischer Texte wieder nachsprechbar zu machen, so, dass es Menschen heute erreicht.

 

Aus «Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt. Für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in der reformierten Kirche. Notizen 2003, Nachwort.

 

 

 Stirbt Gott in den Unglücken dieser Welt?

«Stirbt Gott in den Unglücken dieser Welt? Das KKW-Unglück von Fukushima hatte etwas Demonstratives: «Der praktische Atheismus wird noch eine Schraube weitergedreht: Wir machen die Welt kaputt und wir können es. Es gibt keinen Gott.»

10.April 2011

Die grossen Fragen
Zwei grosse Fragen beschäftigen heute die Menschen: Klimawandel und Artensterben. Sie bedrohen das Weiterleben der menschlichen Zivilisation in ihrer heutigen Gestalt. Auf anderer Ebene liegt der Abbruch der christlichen Tradition, aber auch das ist ein Ereignis von säkularer Tragweite. 2000 Jahre lang wurde der Stab im Staffetenlauf der Generationen weitergegeben, erstmals soll das jetzt abbrechen und das Christentum zum Spott und zum Schimpfnamen werden.

Als Vater möchte man die Kinder behüten. Aber man ist selber Teil dieser Welt. Man reproduziert, was sie ausmacht, und gibt weiter, was sie zerstört und uns kaputt macht.

Ist Gott in all dem nur Objekt? Ist er tot, wenn wir nicht mehr von ihm erzählen? Stirbt er mit der Tradition? Haben also all die Kritiker recht, die Religion als Kulturphänomen betrachten, als Projektion, als eine Vorstellung des Menschen, die mit ihm ausstirbt, so wie wir bei Baugruben vor den Artefakten der Pfahlbauer stehen und aus den Grabbeigaben erschliessen, dass sie so etwas wie eine Religion gehabt haben, ein fremdes Gebilde, zu dem wir keinen Zugang mehr haben?

Versagt unser Erzählen von Gott?
Die Menschen der Bibel haben dort nicht nur ihre Erfahrungen festgehalten, auch ihr Nachdenken findet sich dort, über eine lange Zeit. Der Prophet Jeremia lebte zur Zeit der grössten Herausforderung, als nach dem Nordreich auch das Südreich überfallen und ins Exil verschleppt wurde.

Da blieb kein Stein übrig von der alten Herrlichkeit und kein Buchstabe schien noch zu gelten von den alten Verheissungen: auf Eigenstaatlichkeit unter einer Königsynastie, auf Frieden und Wohlstand. Wenn er die Ereignisse darstellen wollte als von Gott gefügt, dann musste er immer Strafe ansagen. Kaum je gab es eine Verschnaufpause in der Kadenz der Unglücksfälle. Vielleicht hat er sein Leiden an einer solchen Aufgabe selber überliefert, vielleicht sind es die Nachkommen, die seine Aufgabe reflektierten und die ihn bei all dem begleiteten mit Berichten und Klagepsalmen, in denen er seinem Leiden Luft macht.

So klagt er vor Gott, dass er immer nur Unglück ansagen muss. Er wird in die Isolation getrieben. Niemand hört auf ihn, er wird verspottet und verfolgt. Schliesslich verflucht er den Tag seiner Geburt – ein Kontrast zu seiner Berufung, wo Gott sagt, dass er ihn schon von Geburt an ausgesondert habe zu seinem Werk.

Versagt etwa Gott in der Katastrophe der Welt?
Die Menschen, die die Bibel überliefern, begleiten Jeremia auf seinem Weg. Und aus der Frage nach dem Schicksal des Propheten wird eine Frage an Gott selbst: Kann er sich denn nicht durchsetzen auf der Welt? Ist sein Wort kraftlos? Lässt er die im Stich, die sein Wort ausrichten? Und wenn er Untergang und Zerstörung bringt – ist es das, was ihn ausmacht? Weiss er darüber hinaus nichts zu sagen? Ist er ein «zorniger Gott» und nichts darüber hinaus? Ist seine Gnade, sein Erbarmen, von dem die Tradition erzählt, ohnmächtig gegenüber seinem Zorn?

Das Neue Testament schliesst daran an. Gott schickt seine Propheten, heisst es im «Gleichnis von den bösen Weingärtnern», sie töten sie. Da schickt er seinen Sohn, sie bringen ihn um, damit sie den Weinberg allein besitzen. Darauf macht er alle nieder. – Ist das die Souveränität Gottes, zeigt sich so der starke Gott, der den Dingen gewachsen ist?

Ein Nachdenken, an dem das Leben hängt
Das Nachdenken in der Bibel bleibt dabei nicht stehen. Und es ist kein Nachdenken vom Schreibtisch aus, es ist ein Nachdenken, an dem das Leben hängt. Die Frage nach dem Weg, den die Botschaft nimmt, das ist die Frage nach dem Weg Gottes selber. Welchen Weg nimmt er in der Welt? Kann er sie erlösen oder ist er ohnmächtig? Will er sie erlösen oder ist er gar kein Gott, sondern ein Dämon, der sein Spiel mit den Menschen treibt?

Oder thront er über all diesen Unterscheidungen, die menschliches Gutbefinden hervorbringt, ist er erhaben über Güte, Erbarmen und Vergebung und muss sich der Glaube, wenn er nicht ganz verloren gehen will, einrichten in einer erbarmungslosen Wirklichkeit, die – gemessen an den alten vertrauten Landschaften einer religiösen Geborgenheit – einer gottlosen Welt gleicht, in der Prinzipien herrschen, die vom Menschen mit seinem psychischen Apparat nicht verstanden werden können, allenfalls von einer kalten Vernunft, die nach der Katastrophe den Satz spricht: «Es musste so sein! Es konnte gar nicht anders kommen! Haben sie sich nicht selber ihr Grab gegraben?»

Diesen Weg von Vertrauen und Zweifel bin auch ich im Jahr 2011 gegangen. Ich bin kein Prophet, aber als Pfarrer musste ich jeden Tag vor Menschen hintreten und Antwort geben. Mein Tun ist nicht der Rede wert, aber das Evangelium war mir doch aufgetragen. Was ich denke, interessiert niemanden, aber es war doch die Grundlage, auf der ich die Botschaft ausrichtete, wie ich versuchte, am Glauben an Güte und Barmherzigkeit festzuhalten, aber auch an der Pflicht zu Recht und Gerechtigkeit. Und wie Jeremia wurde es mir bald zu viel, auch wenn ich mich in keiner Weise mit Jeremia vergleichen kann. Der gerechte Gott ist ein starker Gott, aber seine Gerichte sind furchtbar.

Rollenprosa und Propheten
Hilfreich wurde mir auch eine Textsammlung, die ich im Jahr 2011 anlegte: «Rollenprosa und Propheten». Erst trösteten mich die Ereignisse im Leben der Propheten, wo sie auf Widerstand stiessen, kein Gehör fanden. Dann sah ich, dass die Bibel selber darüber ins Nachdenken geriet: warum Gott kein Gehör findet, warum seine Propheten verfolgt werden. Das geht weiter bis ins Neue Testament, wo selbst Gottes Sohn abgelehnt wird. «Er kam in das Seine und sie nahmen ihn nicht auf», so fasst der Johannes-Prolog es zusammen.

Muss die Rede von Gott scheitern?
Es ist hilfreich und spannend, der Bibel zuzusehen, wie sie diese Erfahrungen verarbeitet und nach Antwort sucht. Die Erfahrungen mit der Botschaft, werden in diese selber eingetragen.

Schon bei der Berufung der Propheten klingt es an, dass sie auf Widerstand stossen werden. Die Klagepsalmen Jeremias begleiten ihn auf seinem Weg. Und wenn er bei der Berufung noch «ja» sagen konnte oder «nein» («ach, Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung»), hier zeigt die Erfahrung einen ganzen Stationen-Weg, den sein „Amt“ mit sich bringt. Das hilft und bringt Trost. Und es zeigt, wie Gott seine Sache doch ans Ziel bringen wird.

Die Aussendungsrede im Neuen Testament, die die Berufung der Propheten im Alten Testament aufnimmt, kann den Boten schon einen ganzen Stationen-Weg vor Augen stellen. Sie wird somit wie ein Inbegriff all dieser Szenen und Erfahrungen: Auftrag, Widerstand, Leiden, Zusage des göttlichen Beistandes. Dazu gehört auch die Erfahrung des Versagens der Menschen in diesem Amt. Trotzdem und durch alles Versagen hindurch geht das Wort seinen Weg zu den Menschen und über die Welt.

Das verdeutlicht einen Aspekt aus dem Alten Testament: Die prophetische Rede, die Rede von Gott wird scheitern, das Gericht kommt und Gott hat darin trotzdem nicht versagt! Das war für die frühe Kirche und die Anhänger Jesu von kritischer Bedeutung: Wie den Skandal der Kreuzigung verstehen? Sollte Gott, wenn er in die Welt kommt, diese nicht retten können? Die Soldaten spotten: Wenn du der Erlöser bist, rette dich und uns! Es liegt nicht an den Menschen, die von Gott reden wollen und nur stammeln können, die nicht sagen können, was nötig wäre, die es nicht so sagen können, dass es gehört würde an den Orten und zu den Zeiten, wo es drauf an käme.

Es geschieht notwendig so, Gott selber, als er kommt, wird nicht erkannt, man verspottet ihn wie früher die Propheten, man übergeht ihn, wie früher die Weisen, man schlägt ihn, wie früher die Mahner, man bringt ihn um, wie früher die Unbequemen, die keine Ruhe gaben. Was sollten Menschen da ausrichten? Und trotzdem ist ihre Arbeit gefordert bis zum letzten Atemzug! Trotzdem ist ihre Mühe nicht umsonst, trotzdem braucht es ihre Liebe, und wäre es nur, damit sie über ihrer Berufung nicht verbittern und ihr Amt und ihr Leben nicht verfluchen, wie weiland Jeremia.

Die Zusammenstellung der Texte zu «Rollenprosa und Propheten» endet mit diesen Worten:

Gott versagt und er siegt, er wird getötet und bringt das Leben zurück. Er stirbt am Kreuz und aufersteht aus der Grabhöhle. Und er stellt sich an den Anfang des Zuges. Und Millionen ordnen sich hinter ihm ein. Und die Trompeten und Fanfaren, die erschallen, das sind die Seligpreisungen: «Selig die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden! Selig die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!»

 

Aus «Der starke Gott, Notizen 2011», Nachwort.

Foto von Matheus Bertelli, Pexels