Die Stellung der Religion in unsrer Zeit

Gestern ist die Religion drei Mal Thema geworden in der Tageszeitung. Wie das geschah, das gibt ein gutes Bild für ihre Stellung in unserer Zeit: Da ging es um Übergriffe und kriminelle Verwicklungen, um den Mythos und um die Angst vor dem Ende der Menschheit und wie man davon reden könne.

Kriminell
„Töten für den Guru“ ist ein Bericht im „Tages-Anzeiger“ überschrieben. „Der fünfzigjährige Ram Rahim ist Chef der indischen Sekte „Dera Sacha Sauda“, was so viel heisst wie „Ort der Wahrheit“. Diese spirituelle Vereinigung behauptet, dass sie 60 Millionen Anhänger weltweit um sich geschart habe.

Vor Gericht musste er erscheinen, weil zwei Frauen ihn der Vergewaltigung anklagten. Das Gericht befand ihn für schuldig. Darauf brach der Tumult aus. „Bilder indischer Fernsehsender zeigten brennende Fahrzeuge und Rauchsäulen, die in den Strassen aufstiegen, leblose Körper lagen auf dem Boden. „Es herrscht totales Chaos. Zwei Bahnhöfe im Bundesstaat Punjab wurden in Brand gesteckt. Auch die Armee war in Alarmbereitschaft, falls die Situation ausser Kontrolle geraten sollte.“ Der Artikel endet mit dem Gerücht, der Guru habe einen Journalisten ermorden lassen, weil dieser Vorwürfen nachging, er habe Anhänger dazu gedrängt, sich kastrieren zu lassen.

 

Alle Ingredienzien, die das Bild der Religion in unserer Zeit ausmachen, sind versammelt: ein korrupter Anführer, der sich bereichert; eine fanatisierte Anhängerschaft; eine gewaltbereite „Religion“, die Aufruhr stiftet, so dass sogar Bahnhöfe angezündet werden und die Armee sich bereithalten muss, weil die Lage ausser Kontrolle zu geraten scheint. Dazu die Sexualfeindlichkeit, die Anhänger dazu zwingt, sich kastrieren zu lassen. Gleichzeitig der Vorwurf von Übergriffen.

 

Mythos
„Dianas Geist geht um“ heisst der Aufmacher in der Wochenend-Beilage. „Vor 20 Jahren starb die Prinzessin der Herzen. Im Gedenkpark ihres Bruders wird deutlich, wie lebendig Diana noch immer ist.“ „Ich werde Dich immer lieben, Diana. Ich vermisse Dich jeden Tag“, hat eine Verehrerin auf eine Gedenkkarte geschrieben, die im Gedächtnistempel abgelegt ist. Das Bild zeigt einen englischen Park. An einem idyllischen Weiher, in Bäume eingebettet, steht ein kleiner Tempel mit griechischen Säulen. Der Bruder der Verstorbenen habe sein Anwesen in eine Kultstätte umgewandelt. Die tote Prinzessin sei „in ein Idol transformiert“ worden.

Ein Idol ist ein Götterbild. Den Verehrern ist das wohl nicht bewusst, aber sie richten Bedürfnisse auf die Verstorbene, die sie als solche nie erfüllen kann. Sie ist nicht der Partner der Liebe. Sie kann keine Beziehung über den Tod hinaus aufrechterhalten. Sucht man ein solches „Du“ und richtet man seine Sehnsucht auf sie, so ist das ein quasi-religiöses Verhältnis.

 

Es zeigt die religions-psychologischen Grundlagen, aus denen religiöse Verehrung entsteht. Diese sind auch heute noch intakt, auch wenn der Gott der alten Religionen zu einem „deus otiosus“ geworden ist, einem Gott, dessen Wirksamkeit sich erschöpft hat, so dass die Bedürfnisse sich neue Adressaten suchen.

Auch Menschen im heutigen säkularisierten Umfeld haben eine Sehnsucht nach Liebe, Verstanden-Werden und Zugehörigkeit. Nicht alle haben zu jeder Zeit einen Partner oder eine Partnerin. Der Wunsch nach Geborgenheit und Begleitung hat etwas Archetypisches und geht über Einzelerfahrungen hinaus. Dass jedes Leben eine Würde hat, dass es unverlierbar gehalten ist und eines Tages an einem Ziel ankommt, trotz aller Brüche in der Biographie – das sind Intuitionen, die lebensnotwendig zum Menschen gehören.

So schafft sich die Phantasie ihre Entsprechungen. Sie schafft Mythen, die nicht aus sich heraus schlecht sind. Es zeigt, wie wenig die etablierten Religionen damit noch umgehen können. Sie nähren das mythische Bedürfnis nicht. Viele Geistliche verbieten sich in „tapferer Askese“ jede Mythologie, obwohl die Bibel voll davon ist. Denn hat der aufgeklärte Zeitgeist diese Jenseits-Welt nicht abgeschafft? Die hungrigen Menschen finden, was sie suchen, inzwischen in Fantasy und Pop-Kultur.

 

Die Angst vor dem Ende
„Es war einmal … die Zukunft“ ist ein Artikel überschrieben in der Wochenend-Beilage. „Ein Historiker mahnt, dass die Gegenwart, wie wir sie gestalten, keine Zukunft hat. Am Ende bleibt laut Philipp Bloms Streitschrift „Was auf dem Spiel steht“ nur noch das Prinzip Hoffnung.“

„Der letzte Satz des Buches resümiert: Was auf dem Spiel steht? Alles.“ Philipp Blom zählt „all das Schreckliche“ auf, vor dem die Menschen heute sich fürchten: „Millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Bomben in Nachclubs, Umweltgifte, ausgebleichte Korallenriffe, massenhaftes Artensterben, versagende Antibiotika, Überbevölkerung, Islamisierung, Bürgerkrieg.“ Und er kommt zum Schluss: „Unser Modell ist ein Modell mit Ablaufdatum, und dieses Datum wurde längst überschritten, ab jetzt wir es toxisch.“

Es stellt sich die Frage, ob wir bereit seien für die grosse Transformation, „für das grosse Umsteuern, um die Zukunft zu meistern“. „Was tun, wenn Politiker das Notwendige nicht vorzuschlagen wagen, weil es radikale Einschnitte bedeutet? Wenn jeder Einzelne, zum egoistischen Konsumenten erzogen, nur sein Schäfchen ins Trockene bringen will? – Es braucht eine gewaltige, gemeinsame Anstrengung.“

„An diesem Punkt seiner Argumentation muss der Historiker zum Visionär werden und das Prinzip Hoffnung die Analyse ablösen. Für den radikalen Bruch, den Blom für nötig hält, braucht es einen ordentlichen Schuss Magie. Das führt zu einem Bruch auch in dem Buch „was auf dem Spiel steht“. „Die gesamte Menschheit“, phantasiert er, „wacht eines Tages auf mit dem Bewusstsein dessen, was zu tun ist, und dem Willen, das auch tatsächlich zu tun.“

„Eine schöne Vision“, schreibt der Rezensent, „nicht unmöglich, aber unrealistisch. Dass Blom einen globalen Traum als Katalysator braucht, zeigt, wie schwierig, ja fast unvorstellbar es ist, das für richtig Erkannte auch politisch-gesellschaftlich umzusetzen.“

 

Der Autor wie der Rezensent wechseln die Sprachebene. Die Analyse wird abgelöst von einer „Vision“, der Realismus von „Magie“, die Beschreibung von einem „Traum“. Alles wird geleitet von „Hoffnung“ und gesteuert von der „Phantasie“. Es ist ein Übergang wie im Fall der Diana-Verehrung, die durch den Tod des Idols abgeblockt und auf eine andere Ebene geleitet wird, die Ebene der Religion. Sie beherbergt die Ganzheitsbegriffe von „Heil“, „Gesundheit“ und „Gerechtigkeit“. Sie hat eine grosse Tradition im Umgang mit Verzweiflung und Hoffnung. Sie kann aus Endzeit-Ängsten herausführen, weil sie Anfangs-Erzählungen kennt.

Und das ist nicht „blosse Phantasie“, auch wenn die Phantasie dafür ihre Mittel leiht. Es ist Anleitung für einen Weg, so dass man der Verantwortung gerade nicht entflieht, sondern ihr entgegen geht, weil das Schlimmst-Mögliche schon aufgehoben ist. Es macht wieder Sinn zu hoffen und sich zu engagieren. Denn die Welt besteht, trotz des Menschen und gegen den Menschen. Der Weg der Menschheit verliert sich nicht im Dunkeln. Und auch für das Leben des einzelnen gibt es ein Ankommen am Ziel. Das ist im Glauben festgehalten, kontrafaktisch. So kann es durch das Tun der Menschen in der faktischen Welt zu wirken beginnen.

 

Die Stellung der Religion in der Kultur
So ist die Religion an diesem Tag drei Mal laut geworden in dieser Zeitung. Es zeigt die Stellung, die sie heute in Kultur und Gesellschaft einnimmt. Noch überwiegt die Annäherung über Skandalisierung. Und da sind ja auch wirklich die Fehlgriffe und Übergriffe, da gibt es wirklich Gewalt und Terror ihm Namen der Religion. Aber schon deutet sich eine Ahnung an, dass Religion als Kultur wesentliche Leistungen erbringen kann, auf die wir vielleicht nicht verzichten können, auch die Gesellschaft nicht.

Es ist nicht nur ihre Fähigkeit der „Kontingenzbewältigung“, wie die funktionalistische Religionsbetrachtung meint. Es beschränkt sich nicht nur auf eine immer kleiner werdende Gruppe von Menschen, „die das noch brauchen, aber wir doch nicht“. Religion hütet in symbolischer Form Ganzheitsbegriffe wie Heil und Gerechtigkeit, die – wenn sie mit politischen Grössen identifiziert werden – zu totalitären Gebilden entarten. In der religiösen Feier aber werden sie produktiv wachgehalten. Sie geben den Menschen Halt und motivieren ihr Verhalten.

 

Aus Notizen 2017
Foto von Min An von Pexel