Ist Utopia eine Insel oder ein Kontinent?

Es ist wieder Ferienzeit. Es wird ruhig für die Daheim-Gebliebenen. Auch die Medien haben ihr „Sommer-Loch“. Manchmal wandelt sich das gesellschaftliche Klima. Und alles, was man macht, erhält ein anderes Gesicht. Neue Themen tauchen auf. Was bisher galt, hat plötzlich den Anstrich von „gestern“. So geschieht es auch in diesen Monaten.

Alles scheint in Verwandlung. Und hinter den vielen kleinen Veränderungen wird eine neue weltweite Mächte-Balance sichtbar, weg von Europa – USA, hin zu China – Ferner Osten. Europa kämpft um seinen Platz in der Welt. Damit wandern auch die Ströme von Geld und Wohlstand.

Was bisher nie in Frage gestellt werden durfte, es wird offen diskutiert: das Wirtschafts-System, das Verhältnis von Arm und Reich, die Grundlagen des Zusammenlebens. Dass die Ökologie einen Umbau in grossem Stil erfordert, wird nicht mehr geleugnet. In diesem Wandel steht auch etwas so Banales wie „Ferien“. Früher war das die „Auszeit“, das erlaubte Ausklinken aus der Welt und ihren Anforderungen. Man verzichtete aufs Zeitungslesen. – Aber ist die Welt, wenn ich zurückkomme, noch so, wie ich sie verlassen habe? Die Politik pausiert, aber die Börse steht nicht still.

Aus Distanz auf den Alltag sehen
Wir machen uns gefasst, dass alles anders wird. Aber noch laufen die Gewohnheiten weiter. Und wer kann, fährt in die Ferien. Gern packt man dazu ein Buch ein, oder zwei: eines für die Entspannung, und eines, das man schon immer lesen wollte. Ferien heisst nicht nur Abschalten. Nach dem Ausschlafen erwacht die Neugier wieder, das Interesse an der Welt und die Chance, jetzt einmal mit mehr Distanz auf das zu schauen, was man die ganze Zeit so treibt. Vielleicht wäre das ja auch ganz anders möglich, wie die Welt so eingerichtet ist? Muss Utopia immer nur eine Insel sein?

Ein solches Buch ist dieses Jahr rechtzeitig vor den Ferien erschienen: David Graeber, „Schulden. Die ersten 5000 Jahre.“ Die Finanzkrise hat neue Begriffe aufgebracht. In der Zeitung kann man darüber wegblättern, aber das Fernsehen berichtet hartnäckig von Schulden und Frankenkurs. Wir gewöhnen uns an neue Zahlen in Billionenhöhe. Und wir lernen neue Begriffe wie Rettungsschirm, Fiskalpakt und Bankenunion.

Keine Zeit mehr für Religion?
Mit den neuen grossen Themen, bei denen es um das Schicksal ganzer Länder geht, scheint die Zeit der Innerlichkeit vorbei. Was die Menschen jahrelang beschäftigte, Selbstentfaltung, die Fragen um Wachsen und Heilen – das klingt wie von gestern. Und das Wort „Wellness“ tönt schon fast unanständig in einer Welt, in der immer mehr Menschen sich um das Nötigste sorgen.

Ist die Zeit für Religion vorbei? Beginnt jetzt eine trockene Zeit der harten Wirklichkeiten? – Nein! Am äussersten Punkt kehrt es sich zum Innersten. Graeber ist von Hause aus Anthropologe. Er beschreibt die Wirtschaft nicht nach mathematischen Modellen. Er beobachtet, wie sich die Menschen tatsächlich verhalten. Und dabei tauchen viele Begriffe auf, die auch die Religion betreffen. Kein Wunder, sagt er, denn in der „Achsenzeit“ sei beides zusammen entstanden: die moderne Geldwirtschaft und die grossen Religionen.

Achsenzeit
Der Begriff „Achsenzeit“ stammt von dem Philosophen Karl Jaspers und meint die Zeit zwischen etwa 800 und 200 v. Chr., als in Griechenland, Indien und China die grossen philosophischen Systeme entstanden. Jaspers wundert sich, dass das in drei Kulturkreisen gleichzeitig auftauchte, als ob die Weltgeschichte sich damals um eine Achse gedreht hätte. Auf die Achsenzeit folgte das „geistige Zeitalter“, in dem Gestalten wie Jesus und Mohammed im Mittelpunkt stehen.

Graebner fasst diese Epochen zusammen und beschreibt, wie sich damals die Wirtschaft weltweit entwickelte. So wären die Geldwirtschaft und ihre kulturelle Einbettung das verbindende Glied dieser Entwicklung. All diese Strömungen und Weltreligionen, schreibt Graeber, „sind inmitten heftiger Auseinandersetzungen über die Rolle des Geldes und des Marktes im Leben der Menschen entstanden. Die Kontroversen traten in einem Umfeld von Revolten, Appellen und Reform-Bewegungen zutage. Manche Bewegungen fanden Verbündete in den Tempeln und Palästen, andere wurden brutal unterdrückt.“

Erlösung
Er untersucht auch, wie dieser Zusammenhang sich in der Bibel abzeichnet. Er führt sogar den Begriff „Erlösung“ auf einen wirtschaftlichen und sozialen Ausgangspunkt zurück. „Schuld“ als moralische Verpflichtung und „Schulden“ im wirtschaftlichen Sinn waren oft verbunden. In der „Erlösung“ wurde beides annulliert. „Gängige Praxis bei der Schuldenannullierung war das zeremonielle Zerbrechen der Tafeln mit den Aufzeichnungen der Schulden. Dieser Akt wiederholte sich bei nahezu jedem grösseren Bauernaufstand der Geschichte.“

Graeber erinnert an die wirtschaftliche und soziale Basis vieler religiöser Begriffe. Damit reduziert er Religion aber nicht auf Wirtschaft, sondern er erkennt in ihr umgekehrt eine elementare Kraft im Gefüge des menschlichen Zusammenlebens.

Es ist ein spannendes Buch, eine Ferienlektüre, wenn mit der Erholung auch die Neugier zurückkommt. In der Distanz zum Alltag begreifen wir erst, was wir da jeden Tag machen. Und es taucht die Frage auf, ob nicht alles auch ganz anders sein könnte…

 

Aus Notizen 2012
Foto von Kelli Golis von Pexels