Körper-Spiritualität

Wir sitzen in einem Kreis. Es ist ein Treff für Menschen, die etwas Schweres erlebt haben. Eine Frau erzählt, wie sie jemanden verloren hat. Und es kommen ihr Tränen. Eine andere Frau nimmt ihre Hand. Sie zeigt, sie ist da. Die Frau ist nicht allein. Da sind Menschen, die sie verstehen und Anteil nehmen. – Worte wären in diesem Moment fehl am Platz gewesen. Die Geste war richtig, der körperliche Kontakt.

Körper-Sprache
Auch der Körper hat seine Sprache. Und von Körper zu Körper gib es manchmal eine Verständigung ohne Worte, die viel tiefer geht. Im Körper-Kontakt können wir eine tiefe Solidarität spüren. Es ist eine Verbundenheit im Elementarsten, die tiefe Gräben überwinden kann.

Auch der Kontakt zu Tieren kann das vermitteln. Da wird gar nichts geredet, aber wenn ein Mensch, der allein lebt und seinen Kummer mit sich allein ausmachen muss, nach Hause kommt und sein Haus-Tier kommt ihm entgegen, so kann ihn das tief berühren, ja erschüttern. Er wird hereingeholt in den Kreis des Lebendigen, fällt nicht mehr heraus aus der Welt. Und ein Mensch, der eben noch verzweifelt war, kann wieder Trost und Mut fassen.

Wir Menschen brauchen Körper-Kontakt. Von Kindheit an stehen wir in solchem Kontakt. Die tiefsten Gefühle haben wir so gelernt: Von Mutter und Vater, dass wir gehalten sind, dass da eine Hand ist, die uns führt und begleitet. Gehalten sein, geführt werden – das sind körperliche Ausdrücke, aber sie meinen etwas ganz Tiefes. Und wenn ein Kind einen Kummer hat, so springt es zur Mutter zurück und verbirgt sich in ihrem Schoss. Hier erlebt es eine Geborgenheit trotz allem, was es gab. Und wenn es einen Fehler machte, hier erlebt es, dass es angenommen ist über alles hinaus, was Menschen trennen kann.

Glaubens-Sprache
Diese Erfahrungen sind eingewandert in den Sprachschatz des Glaubens. So drücken wir unser Vertrauen aus, dass wir „gehalten“ sind, auch wenn wir nicht mehr über unser Leben verfügen. Das hilft uns im Gebet, dass wir alles Gott in die Hand legen können, dass wir auf seine „Führung“ vertrauen dürfen.

Im Hebräischen heisst Mutterschoss „rächäm“. Und „rachamim“, die Mehrzahl davon, ist das Wort für Erbarmen. So schildert die Bibel uns Gott, mit diesen Bildern. Er ist barmherzig wie eine Mutter, die ihr Kind in ihrem Schoss auffängt, wenn es zu ihr zurückkehrt. Und dort erfährt es, dass es mit seinem ganzen Da-Sein und So-Sein geliebt und angenommen ist. In einer solchen Atmosphäre kann Leid heilen. Und das geknickte Leben richtet sich wieder auf.

So wundert es nicht, dass diese heilsame Sprache auch dort aufgenommen wird, wo die Not des Menschen vielleicht am tiefsten ausgedrückt wird: in der Passion. Christus selber betet am Kreuz den Psalm 22: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (…) „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in den Staub des Todes.“ (Ps 22, 15f)

Der Schmerz kleidet sich in körperliche Erfahrungen, auch wenn es seelische Leiden sind. Aber auch die Rettung, der Trost, die Hilfe, um die er bittet – es gibt keinen tieferen Ausdruck dafür, als die Erinnerung an jene körperliche Geborgenheit bei der Mutter. So betet er zu Gott: „Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du liessest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter. Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott seit meiner Mutter Schoss. Sei nicht ferne von mir.“ (Ps 22, 10f)

Wir Menschen werden im Körper geboren. – Die Familie, die Beziehungen, die wir haben, sind in gewissem Sinn nichts anderes als eine Verlängerung dieses Körpers. Im Kontakt mit dem Körper lernen wir alles, was wir brauchen, und wir werden zu Menschen, die lieben können, Beziehungen gestalten, uns mit der Welt und andern Menschen auseinandersetzen. Jedenfalls wenn es gut verlaufen ist.

Das Evangelium muss durch den Körper gehen
Aber es gibt auch andere Erfahrungen: Manchmal liegt schon am Morgen eine lähmende Stimmung auf uns. Und es ist nicht leicht, sich davon zu befreien. Es ist das Grundgefühl, das wir dem Leben gegenüber empfinden. Es ist geprägt von unseren früheren Erfahrungen. Und es kann sich lähmend über uns legen.

Manchmal haben wir das Gefühl, dass wir nicht weiter kommen mit unserem Leben. Immer wieder landen wir in derselben Falle. Wir möchten schon lange daraus ausbrechen, aber es ist wie verhext. Es ist, als ob wir das anziehen würden: Immer wieder ist es dieselbe Situation, in der wir stecken. Wir spielen das immer selbe Stück. Oder es gibt Phasen im Leben, in denen wir in Ängsten gefangen sind oder uns ohnmächtig fühlen. Eine tiefe Traurigkeit umhüllt uns und verdüstert den Blick in die Zukunft. Da suchen wir die Hilfe des Glaubens. Und mit dem Kopf geht es, aber die Gefühle lassen sich nicht einfach befehlen.

Wir hören, wie Christus spricht: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken“ und wir fühlen uns eigeladen. Wir fühlen uns auch angesprochen, wenn die Jünger des Johannes zu ihm kommen, und ihn fragen:
„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“ Und wir nehmen keinen Anstoss, wenn er antwortet: „Geht hin und sagt dem Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt, und Armen wird die frohe Botschaft gebracht; selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt.“ (Mt 11, 1f).
Wir nehmen keinen Anstoss, denn das ist uns aus dem Herzen gesprochen! Wir lernen neue Hoffnung. Unser Leben hat wieder einen Sinn. Wir werfen die Verzweiflung über Bord. Wir vertrauen uns Christus an.

Aber unser Glaube und die Hoffnung, das lebt erst im Kopf. Am Morgen, wenn wir aufstehen, ist wieder das lähmende Gefühl da. Es steigt aus dem Körper auf. Dieser bewahrt seine alten Erfahrungen. Darauf hat er sich eingerichtet. Und so geht er auch jetzt seinen Weg. Und wir denken:
Mit dem Kopf sind wir schon Christen. Aber mit dem Körper sind wir noch Heiden. Vor 1500 Jahren ist dieses Land missioniert worden, aber das Evangelium müsste auch durch den Körper gehen. Hier sind noch ganze Provinzen, die Gott nicht kennen, die keine Hoffnung haben. Sie leben, als ob es Gott nicht gäbe. Und da ist Heulen und Zähneklappern.

Neuer Glaube und alter „Atheismus“
Da ist der Körper ein Gegenspieler des Glaubens: Er will nicht, wie wir wollen.
Und doch ist er auch hier ein Helfer. Denn vieles von dem, was heute stört und Leiden verursacht, hat uns früher im Leben geholfen. Es war ein Mittel, um Schmerz zu vermeiden. Wir haben uns an das Leben angepasst. Gewisse Situationen haben wir nur ertragen, indem wir uns innerlich versteiften.
Es gibt Situationen, die so traumatisch sind, dass wir sie nie mehr erleben wollen. Wir halten dann den Atem an, um den Schmerz zu vermindern. Wir stellen uns tot, um die Angreifer abzulenken. Wir machen uns klein, damit man uns nicht mehr sieht, damit wir nicht länger ein Ziel abgeben. Der Körper erinnert sich an solche Situationen. Und immer, wenn ein Erlebnis uns daran erinnert, antwortet er mit dieser Reaktion, die uns damals geholfen hat.

So hat der Körper sein eigenes Gedächtnis, und es ist uns in die Muskeln eingeschrieben, in die Art wie wir atmen. Es ist uns in die Glieder gefahren, es bestimmt die Haltung, wie wir stehen und gehen. Es ist wie eine zweite Natur geworden, ein Charakter, der die Erfahrungen der Vergangenheit bewahrt.

Und manchmal sieht es so aus, als ob die Zukunft gegen die Vergangenheit gar keine Chance hätte. Wir spulen unsere Reaktion ab, und wissen schon längst, dass das nicht mehr die richtige Antwort ist. Denn das Leben hat sich verändert. Wir sind nicht mehr die kleinen Kinder, die sich nicht wehren können.

Aber so handeln, wie wir möchten – das haben wir noch nicht gelernt. Das alte Leben steckt noch in allen Knochen, das neue erst im Kopf. Das alte bestimmt die Haltung, die wir einnehmen. Und damit die Gefühle, die Atmosphäre, die wir ausstrahlen. Und bevor wir den Mund auftun, hat das Gegenüber schon gespürt, was unser Körper sagt. Und die Situation ist wieder so geprägt wie damals.

Der geheime Gewinn
Es ist wie ein Mensch, der sich am Fuss verletzt hat und hinkt. So kann er den Fuss entlasten. Der Schmerz wird kleiner. Und nach einiger Zeit, ist die Verletzung geheilt, der Bruch ist wieder zusammengewachsen. Aber der Mensch hat sich ans Hinken gewöhnt. Er traut sich gar nicht mehr, den Fuss richtig aufzustellen, aus Angst, dass ihn dann wieder dieser Schmerz durchbohrt. Soll er jetzt ewig weiterhinken – oder vertrauen lernen, sich aussetzen? Soll er das Risiko auf sich nehmen, dass er wieder verletzt wird? –

Man kann sich auch einrichten mit seinem Handicap. Wer hinkt, der ist nicht ganz gesund. Es werden nicht dieselben Erwartungen an ihn gestellt. Plötzlich tut sich eine Hintertür auf, um der Verantwortung für das Leben aus dem Weg zu gehen! Das ist bequem. So hat das Leiden auch einen geheimen Gewinn bei sich. Und das zeigt sich dann als Widerstand, wenn aussen an sich alles schon lange bereit wäre und der Mensch gesunden könnte.

Aber dann müsste man auch den Profit aufgeben, den man vom Leiden hat. Man müsste den Reichtum aufgeben, arm werden und Christus nachfolgen, mit nichts als dem blossen Leben? – Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr.

Vom Fluss und seinen Dämmen
Das Leben ist wie ein Fluss. Wenn es immer in dieselbe Richtung fliesst, gräbt es sich ein Bett. Und handkehrum bestimmt nicht mehr der Fluss, wohin er fliesst, es ist das Bett, das ihm die Richtung vorgibt.

Der Fluss möchte manchmal ausbrechen, aber das ist schwierig. Es braucht einen grossen Stau, eine grosse Energie – dann gibt es eine Überschwemmung und das Wasser reisst die Dämme ein. Das heisst dann Katastrophe. Das Wasser fliesst hierhin und dorthin, es ist nicht mehr geleitet. Es richtet Verwüstungen an – und doch ist damit auch etwas Urtümliches durchgebrochen, was einen eigenen Sinn hat.

Es ist nicht nur schlecht, aber es wäre besser, wenn es ohne Katastrophe auskäme. Dafür müsste man ihm sein Recht geben. Dafür müsste man das Flussbett umprägen, dass es den neuen Strom anleitet, statt den alten zu konservieren. Das ist möglich. Der Körper, der das alte Leben in sich bewahrt, kann auch das neue in sich aufnehmen. Der Schreck, der in die Glieder gefahren ist, kann sich beruhigen. Die Angst, die im Nacken sitzt, kann sich in Vertrauen wandeln. Der Atem, der stockt, kann wieder fliessen. Kurz: es gibt Heilung. Es gibt Wachstum im Leben, wo Körper und Seele wieder zueinander finden.

Übungen
Ein bewusstes Glaubensleben sucht sich Übungen. So kann man schon am Morgen der Tag vorbereiten. Es hilft, eine gute Haltung aufzubauen. So kann man der Gewohnheit und ihrem Gefälle entgegen wirken. So gibt es einen Weg zu Heilung und innerem Wachstum. So können wir die Spontaneität zurückgewinnen: dass wir unserer Intuition wieder vertrauen dürfen, und sie führt uns einen guten Weg. So kommt die Lebensfreude zurück. Man spürt sich wieder, die Begegnung mit andern Menschen wird tiefer.

Das tut nicht nur uns Menschen gut. Das ist auch das, was unsere Welt braucht: Menschen, die in ihr zuhause sind, die wach sind und wahrnehmen was geschieht. Die sich für sie einsetzen. Das ist die Zusage der Bibel:
„Wenn der Herr wendet unser Geschick, dann sind wir wie Träumende. Dann ist unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Jubels. Dann wird man sagen unter den Völkern: Der Herr hat Grosses an ihnen getan! Ja, der Herr hat Grosses an uns getan; darum sind wir fröhlich.“ (Ps 126)