Sommertage

In der Post liegt ein Brief mit Trauerrand. Ich erschrecke. Wer kann das sein? Ich gehe im Kopf die Namen durch. Nach dem Öffnen aufatmen, es ist eine Danksagung, die Beerdigung war vor zwei Wochen.

Ich bin noch nicht ganz eingezogen in das Alter, wo das häufig wird, wo Menschen wegsterben, wo das bald die häufigste Nachricht wird, die man noch von ihnen erhält. Ich weiss nicht, ob ich mich in diese Altersphase einpassen möchte. Ich werde wohl nicht gefragt.

Der heisseste Tag
Ich habe die Fenster verdunkelt, heute ist der bisher heissteste Tag des Sommers angesagt. Draussen kein Luftzug, Fensteröffnen nützt nichts. Aber es gibt noch die Dusche. Das erinnert mich an meine Eltern. Nachdem sie ihr Geschäft verkauft hatten, lebten sie in einem Einfamilienhaus am Stadtrand. Da gab es eine zweite Dusche beim Ausgang zum Garten. Mir schien das ein übertriebener Luxus. Aber im Sommer benutzten wir sie gern, wenn wir vom See zurückkamen, wo man wild baden konnte. Das bringt Erinnerungen hoch von Jugend, von früher, von einer Zeit, als die Eltern noch lebten. Die zwei Brüder waren noch dabei, die schon gestorben sind. Der Sommer, die Erinnerungen, bekommen offenbar alle einen Trauerrand.

Die andere Seite des Sommers
Es sind lange Tage im Sommer. Es ist schwierig, auf diese Zeit hinauszuschauen. Der Sommer ist nicht nur süss, da ist immer auch ein dunkler Bodensatz. Bei Wein habe ich die dunkle Note gern, bei der Konfitüre auch. Süss allein ist ungeniessbar. Die Bitterkeit beim Sommer kommt von den Ausblicken auf das Leben. Da ist ein Bodensatz, der aufgeschwemmt werden kann zu Sommer-Traurigkeit. Aber es sind nicht nur Erinnerungen, es gibt Tage, die aus sich heraus schwer werden können von Einsamkeit, von dunklen Bildern über die Zukunft.

In der Jugend war gerade das Schöne schwer. Die Erotik erwacht mit Macht, für einen Pubertierenden ist das ein ganzer Kontinent, ein Gebirge, das sich vor ihm auftut, ein Meer voller Versprechungen und Gefahren. Aber da ist die Schüchternheit aus der Kindheit, da sind Fehlanpassungen an das Leben, Sich-Zurückziehen, da ist die nicht gelernte Fähigkeit, auf andere Menschen zuzugehen, den eigenen Impulsen zu folgen, eine Hand auszustrecken… Kein Wunder gerät man in Zerwürfnis mit anderen Menschen und sich selber, zuallererst mit sich selber. Da wird der Sommer aufgeladen mit Erinnerungen von Einsamkeit, von dunkeln Gängen, durch die man gegangen ist. Man schüttelt sie ab, Gott sei Dank hat das Leben dann andere Wege gefunden!

Ein Ariadnefaden
Jetzt hat man ein halbes Leben hinter sich, von der Zahl der Jahre her könnte es auch ein ganzes Leben sein. Aber das bemisst sich nicht nach der Zahl, sondern ob die Erinnerungen sich zu einem Ganzen runden. Die Jugend liess man hinter sich, es kamen Ausbildung, Beruf, es kamen Karriere und Familie, es kamen Erfolg und Scheitern. Vielleicht kam auch ein Weg, der auf eigene Rechnung beschritten wurde, nachdem man das Gefühl hatte, jetzt genug «Karriere» gemacht zu haben, es den andern «gezeigt» zu haben. «Ja, das kann ich auch. Aber da ist etwas, das mich viel mehr anzieht». Und so hat man die Stelle gekündigt, die Wohnung aufgegeben, ist ins Ausland gefahren…

Ich will das nicht alles aufdröseln. Für mich war es wichtig, mich umzudrehen, dem entgegen zu gehen, vor dem ich bisher davongelaufen war. Es war ein anspruchsvoller Weg, ausgerechnet so Vertrauen lernen zu wollen, indem ich all dem entgegen ging, was mich abschreckte. Aber so hatte ich das Gefühl, an der «Sache» zu sein. So hatte ich einen Ariadnefaden, der mich zuverlässig leitete. So hatte ich die Gewissheit, die ich brauchte, wenn ich ins Dunkle hineinging.

Suchwege
Später begriff ich, dass die Seele ihre eigenen Suchwege hat, und es gibt Wegweiser, Hinweise, Lichter, die auftauchen, wenn es nur erst dunkel ist. Im Dunkeln entfaltet die Seele ihr Wissen und die Wege werden sichtbar, die zu den grossen Fragen führen, die mich beschäftigten. Ich zitiere aus meinem Jona-Büchlein, das ich gestern noch in der Hand gehalten habe:

«Die Schifffahrt als Modell der Seelenfahrt durch ihre Abgründe, als Bild der Odyssee des Menschen durch sein Leben auf der Suche nach seiner Bestimmung… – die Schifffahrt funktioniert so nicht mehr. Die x-tausend-Bruttoregistertonnen-Schiffe fahren ruhig durch die Brecher, wo die kleinen Segelschiffe früher auf Tod und Leben konfrontiert waren. Die Satelliten-Navigation weist dem Autopiloten den Weg, wo früher das Dunkel einer sternenlosen Nacht das Erleben in alle Abenteuer der Psyche stürzte, wo aus dem Dunkel archetypische Bilder auftauchten und die Seefahrt zu einem überzeitlichen Ereignis machten.

Wegmarken im Dunkeln
Im Dunkeln orientiert sich die Psyche wie im Traum. Sie setzt Wegmarken. Sie entfaltet das einmalige, grosse Abenteuer des Menschseins, ja der Menschheit auf ihrem grossen Weg. Sie weiss nicht, woher sie kommt, sie weiss nicht wohin sie geht. Sie hat nichts als Ahnungen. Sie hat nichts als die Furcht, die sich immer wieder in Katastrophen-Ängsten konkretisiert, dass ihr Weg im Dunkeln endet. Sie hat nichts als die Hoffnung, die sie immer wieder in Herkunfts-Erzählungen vergewissert: dass sie aus einem anderen Ursprung entstanden ist, einem Ursprung, der die eigene Kraft übersteigt. Sie hofft in diesen Herkunfts-Erzählungen, dass ihr Weg einem anderen Willen folgt, so dass sie sich dort gehalten weiss – über alle Schwäche menschlicher Kraft hinaus, über all die Böswilligkeit und Unfähigkeit des Menschen hinaus, die immer nur Zerstörung zu bewirken scheinen.»

Glauben
Das zu übersetzen, was man so geahnt und gefunden hat, das ist noch einmal Arbeit, das füllt viele Tage im Alter. Das war aber immer auch wirksam auf dem Weg. Das war das Licht, das man sich aufgesteckt hat. Das war die Richtung, die man im Beruf gegangen ist, vielleicht im zweiten oder dritten Beruf, denn auch das äussere Leben war ein Suchweg. Und diese Zeit, diese Gesellschaft, haben es mir erlaubt, nach meiner Lehre die Matura nachzuholen, zu studieren und einen neuen Beruf zu ergreifen. Selbst ein zweites Studium lag noch drin (ich habe es selber finanziert) und ein dritter Beruf.

So bin ich Pfarrer geworden. Die Kirche als Arbeitsort hat vielleicht nicht alle Träume erfüllt, aber die Kirche als Ort der Gemeinschaft im Glauben, da fühle ich mich heute noch zugehörig. Da bin ich im Gebet verbunden. Den Weg zum Vertrauen habe ich gefunden. Ich bin in die Ängste hineingegangen. Aber immer wieder falle ich davon zurück. Immer wieder stehe ich im Sommer wie als Jüngling, der ein neues Leben vor sich sah. Für ihn ist es ein ganzer Kontinent, ein Gebirge, das sich vor ihm auftut, ein Meer voller Versprechungen und Gefahren. Und da ist auch noch die Schüchternheit aus der Kindheit, da sind Fehlanpassungen an das Leben, Sich-Zurückziehen, da ist die nicht gelernte Fähigkeit, auf andere Menschen zuzugehen …

Das Fest des Lebens
Immer wieder ist es Sommer. Da ist das Fest des Lebens. Da sind die dunklen Untertöne, die sich auch einstellen. Aber es gehört dazu, wie die Bitterkeit zum Gemüse, wie der dunkle Ton zum Wein, wie das Saure im Süssen, was die Empfindung in einer Balance hält. Erst so wird es zum Genuss, wenn die einfachen Empfindungen des Lebens – Süsses, Saures, Salziges, Bitteres – in eine Balance gefunden haben. So ist der Tisch im Sommer gedeckt. So bewahre mich Gott, Amen!

 

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