Leben. Würde.

Leben. Würde. Und wie wir von Gott reden.

„So spricht Gott, der Herr – mit glühender Leidenschaft will ich reden!“ (Ez 36,5) Das kündigt Gott beim Propheten Ezechiel an. Sein Zorn ist erregt, er sieht, wie Unrecht geschieht und will einschreiten. In der Bibel begegnet uns immer wieder ein Gott voller Gefühle und Leidenschaft.

Das ist ungewohnt für uns und wirkt seltsam. Unserer Gottesdienste fliessen in einem ruhigen Gleichmass dahin. Ein Gott, der zornig wird, das erscheint uns urtümlich und primitiv. Gott, wie wir ihn uns vorstellen, hat keine Gefühle. Und wir müssen uns erst sagen lassen, dass das zur alttestamentlichen Vorstellung von einem König gehört:
Ein König muss das Recht wahren in seinem Land. Wenn er Unrecht sieht, wird er zornig. Und das wird von ihm erwartet. Denn dann greift er ein. Das hat den Menschen in der Bibel geholfen. Wenn sie sahen, dass Gott zornig wurde, dann wussten sie, dass einer da ist und sieht. Sie sind nicht allein. Da ist einer, der helfen kann, und er ist der Sache gewachsen.

Die Sprache
Eine kraftvolle Sprache hatten die Menschen früher, um von Gott zu reden. Unsere Sprache heute wirkt seltsam blass dagegen. Farblos und unbeteiligt, wenn wir an all das denken, was in der Welt geschieht. Ist das Gott egal, wenn Menschen ausgenützt werden, wenn sie Haus und Stelle verlieren? Wenn sie fliehen müssen und nichts retten als das nackte Leben? – Ist es ihm egal, wenn Tiere aussterben, Pflanzen ausgerottet werden, die Gestalt der Erde verödet? –

Aber sollen wir so von Gott reden, dass er sich in alles einmischt und politisch Partei ergreift? Im Islam gibt es Prediger, die das Volk aufhetzen. Das ist sicher kein Weg. Aber von Gott zu reden, als ob ihn alles nichts anginge, was auf der Welt geschieht, kann uns auch nicht helfen. Ein gutes Beispiel von Gott zu reden und dabei die Sorgen ernst zu nehmen, das finden wir im ersten Testament bei den Propheten.

Wer die Bibel liest, dem fallen die Propheten zuerst gar nicht auf. Die Bibel beginnt mit langen Erzählungen, und darin eingebettet tauchen einige Propheten auf. Im 19. Jh. hat die Bibel-Forschung entdeckt, dass die Propheten älter sind als die Erzählungen. Sie sind ursprünglicher. Das hat damals eine eigentliche Propheten-Begeisterung ausgelöst.

Wie aus dem Nichts scheinen sie aufzutauchen, diese Propheten. Als das Land leidet unter Ungerechtigkeit, als die Not gross ist in der Bevölkerung, da treten sie auf und sie verkündeten Gottes Wort. Sie scheuen den Konflikt nicht mit Autoritäten. Sie stehen ein für das Recht, unerschrocken und bereit, auch die Ablehnung und Verfolgung zu tragen, die mit dieser Aufgabe verbunden ist.

So etwas, dachte man, müsste man auch heute wiederhaben. Und die Dichter damals, liessen sich anstecken. Sie wollten auch Propheten sein und das Wort verkünden, so dass sich unter ihrem Wort die Welt verändert.

Die Welt verändern durch eine Predigt – das ist viel verlangt. Was wir brauchen, was wir suchen, ist eine kräftige Verkündigung, eine Sprache, die das aufnimmt, was die Menschen heute bewegt. Gesucht ist das Bild eines Gottes, der den Dingen gewachsen ist. Und der nicht abseitssteht.

Abseitsstehen ist nicht gern gesehen in der Bibel. Das ist das, was Gott den Menschen vorwirft im Neuen Testament: dass sie abseitsstehen. „Ihr sagt, ihr seid reich und habt alles. Ihr braucht nichts. Ihr seid weder kalt noch warm. Ach dass ich doch warm wäret. Ihr seid lau, und ich will euch ausspucken aus meinem Mund, spricht Gott!“  So heisst es in der Offenbarung über die Gemeinde von Laodizea. (1,14ff)

Wir sehen: eine leidenschaftliche Sprache ist gewöhnungs-bedürftig! Wenn die Kirche sie nicht mehr sprechen kann, wandert sie aus. Viele wichtige Dinge werden heute ausserhalb der Religion zur Sprache gebracht. Die Menschen sehen keinen Grund mehr, in der Kirche zu bleiben. Denn dort finden sie ihre Anliegen nicht.

In der Kirche hören sie immer von einem Gott, der lieb und zufrieden ist. Im ersten Testament tönt das anders: „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert? (Jeremia 23, 29) Da ist ein leidenschaftlicher Gott, der Anteil nimmt an der Welt!

Die Sache
Eine leidenschaftliche Sprache ist das! Warum haben wir sie verloren?
Es ist nicht nur das Gottes-Bild: dass wir uns einen Gott mit Gefühlen nicht mehr vorstellen mögen. Es ist auch die Sache, um die es da geht.

Im ersten Testament geht es um das Engagement für ein ganzes Volk. Bei uns ist der Glauben privatisiert. Darum wirft das erste Testament den Blick auf das ganze Dasein der Menschen: wie sie leben, wie die Gesellschaft sich verändert, wer abgehängt wird von der Entwicklung. Und diese Menschen werden von der Gemeinschaft nicht aufgegeben, auch wenn sie aus dem System fallen.

Bei uns ist das Glaubensleben verengt auf den einzelnen und seine Psyche. Wenn man das Programm der kirchlichen Bildungshäuser anschaut, dann findet man da Wellness, Psyche, Spiritualität, aber kaum ein soziales Thema. Das ist ausgewandert aus der Kirche (und mit ihnen die Menschen, die sich dafür interessieren).

Das war nicht immer so. In den 30er Jahren erhob sich die Bekennende Kirche gegen Nationalsozialismus. Und in den 80er Jahren protestierte die Weltkirche gegen die Politik der Rassentrennung in Südafrika. Der Reformierte Weltbund erklärte, ein solches Regime sei nicht vereinbar mit dem christlichen Glauben, mit der christlichen Überzeugung von der Würde jedes Menschen. (1982 wurde der „status confessionis“ ausgerufen).

Wie sollen wir das wieder lernen: ein Interesse für Fragen der ganzen Gemeinschaft?
Wir sind nicht mehr ein Volk wie im Alten Testament, das hinter Moses aus der Wüste auswandert und den Weg in ein gelobtes Land sucht. Aber wir sind ein Volk wie im Neuen Testament, das hinter Jesus Christus aus der Wüste auswandert und den Weg ins Reich Gottes sucht. Auch die Kirche versteht sich als Gottesvolk. Und dieses lebt nicht nur im Einzelnen und in seiner Seele. Es lebt real in dieser Welt.

Aber wer ist die „Kirche“? Wer ist das Volk, das uns angeht? –
Das ist dein Nächster, sagt die Bibel: Und Christus erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Wenn einer in Not fällt, musst du nicht überlegen, ob er jetzt zu Dir gehört oder nicht, ob er dein Nächster ist. Christus kehrt die Frage um: hilft ihm, dann bist du für ihn der Nächste! (Lk 10,25ff)

So lebt die Kirche als Volk im realen Volk. Die Kirche hat keine äusseren Grenzen, keine Beschränkung nach Alter, Geschlecht oder Herkommen. Sie ist aber auch kein Phantasiegebilde. Sie lebt ganz real in realen Menschen. Mit ihnen hat sich Christus identifiziert, wenn er sagt: «Was du einem dieser meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan.» (Mt 25)

Wenn wir uns öffnen für konkrete Menschen und ihre konkreten Sorgen, dann kommt auch die Leidenschaft zurück, die wir in der heutigen Kirche vermissen. Dann finden wir auch eine starke Verkündigung. Es wird vielleicht nicht jene Predigt, „unter der sich die Welt verändert“. Aber sie hilft, den Glauben wieder neu verstehen.

Dann finden wir wieder einen Gott, der den Dingen gewachsen ist:

Weil wir unsere konkreten Sorgen zu ihm bringen,
Weil wir ihn für kompetent halten,
Weil wir auf seine Antwort hören, die er uns gibt, auch im sozialen und wirtschaftlichen Zusammenleben,
Weil wir uns anstecken lassen von unserem Glauben und unser Verhalten danach ausrichten.

So sagt Gott im ersten Testament: „Hütet euch, dass ihr den Bund des Herrn, eures Gottes, nicht vergesst. Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer und ein eifernder Gott. Wenn du aber den Herrn, deinen Gott, suchst, so wirst du ihn finden. Denn der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben.“ (Dtn 5,23 ff)

 

Aus einem Gottesdienst 15. Oktober 2012
Foto von Josh Hild von Pexels

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