Notker, der Stammler

Heute noch kann man festliche Pfingstmusik hören, die auf eine Melodie aus dem 9. Jahrhundert zurückgeht. Ein Mönch in St. Gallen hat sie damals gedichtet und vertont. Er konnte leider nicht gut reden, er stotterte beim Reden, und darum gab man ihm den Übernamen Notker, der Stammler.

Ausgerechnet dieser Stotterer und Stammler wurde dann aber zum wichtigsten geistlichen Dichter seiner Zeit. Er sang gern. Und wenn er auf das hörte, was ihn singen machte, dann stotterte er nicht mehr. Wenn er an seine Hoffnung dachte, hörte sein Stammeln auf. Wenn er an seinen Glauben dachte, bekam sein Leben eine neue Melodie.

Erinnerung an die Freude
Und die Menschen um ihn, die ihn wegen seines Stotterns verlachten, wurden berührt von seinen Texten. Sie wurden getroffen von seiner Musik. Sie spürten etwas, das auch sie in ihrem Innersten kannten. Sie erinnerten sich an ihre eigene Freude im Leben, an ihre Hoffnung. Sie konnten über das hinaus sehen, was das Leben mit Ängsten verstellt.

So wurden seine Lieder berühmt. Man sammelte sie in einem Liederbuch und sie wurden im ganzen Reich bekannt. Es war die Zeit von Karl dem Grossen. Sein Nachfolger Karl III. hat den Mönch Notker zu seinem Ratgeber berufen. So hat der Stotterer doch noch Karriere gemacht: Nicht, weil er so gut reden konnte – sein Vertrauen, sein Glaube, seine Hoffnung, das ist hinausgeklungen, das hat Resonanz gefunden, das hat andere angesteckt und etwas zum Schwingen gebracht.

Das Wunder der Gemeinschaft
Darum ist das eine gute Geschichte für Pfingsten. Da feiern wir auch nicht, wie klug wir sind und dass wir die ganze Welt retten werden. Sondern wir feiern unsere Hoffnung auf Gott. Und die Freude, dass er da ist, mit uns, dass er unsern Weg teilt. Dass er uns in die Zukunft begleitet.

Denn der, der alles geschaffen hat, ist auch heute lebendig. Der, der den Anfang gemacht hat, hat auch das Ziel in der Hand. Und jeder Mensch ist von ihm gemeint. Da gibt es nicht Redner und Stotterer, jeder trägt eine Melodie im Herzen. Und wenn wir hinhören auf die Melodie, so verbindet sie uns mit andern. Und das Wunder der Gemeinschaft entsteht von neuem. Auch in unserer Zeit. Auch heute, wo viele Menschen den Verfall beklagen, auch heute setzt Gott immer wieder einen Anfang.

Am Anfang
Darum feiern wir heute die Geburt der Kirche, nicht vor 2000 Jahren. Denn Gott ist nicht ein Gott der Vergangenheit, er ist ein lebendiger Gott. Heute berührt er uns im Innersten, heute will er uns eine neue Melodie ins Herz legen. Und wenn das geschieht, dann hören wir auf zu stottern und zu stammeln.
Dann entsteht ein Miteinander, wo man sich versteht. Wo nicht einer auf den andern herabsieht, sondern wo einer sich im andern erkennt. So entsteht eine neue Form der Gemeinschaft – mitten in der alten. Das ist der Geburtstag der Kirche – heute und wann immer sich das ereignet!

 

Aus Notizen 2008