Die Bibel im Krieg

Der Krieg um Israel hat die Welt aufgeschreckt. Und wer bisher unbefangen in der Bibel las, fragt sich, ob das noch erlaubt sei. Wird sie nicht missbraucht, um Ansprüche abzuleiten, um eine Politik zu legitimieren? Man fühlt sich wieder als der «hässliche Fromme», der die Augen vor der Welt verschliesst.

Auf der anderen Seite hat die Welt nicht auf einen weiteren Kommentar gewartet. Auch wenn anfangs ein ungeheurer Druck zu spüren war, sich auf der «richtigen Seite» einzureihen. Der Meinungskrieg erfasste alle, jeder musste ein Lippenbekenntnis ablegen.

Ich will für mich selber Klarheit finden. Die Bibel hat mein Leben begleitet, mal enger, mal weiter. Ich fühle mich verunsichert. Das Alte Testament scheint in Frage zu stehen, weil «Fromme» es im Krieg verwenden. Das erste Testament ist mir aber besonders ans Herz gewachsen, auch wenn ich heute verunsichert bin, ob ich es als Christ überhaupt lesen darf. Ist es nicht eine «kulturelle Aneignung», wie sie heute überall entdeckt und verworfen wird?

So möchte ich mir erinnern, was ich in der Lektüre des ersten Testamentes gefunden habe. Ich möchte sortieren, was überhaupt da ist und was es mir bedeutet. Dann wird auch klar, was bleiben kann und was ich revidieren muss.

 

Ein pdf zum Herunterladen findet sich unter: Bibel lesen in Kriegszeiten

Inhalt

Die Bibel im Krieg. 1

Inhalt 1

Vorwort 2

Die Makkabäer 3

«Gewalt in der Bibel». 3

Die Rolle der Religion. 4

Notwehr-Exzess. 4

«Allen, die mich jetzt hören…». 5

Der Innere Altar 8

Wertschätzung. 8

„Der Gräuel“ 9

Ein Altar für die tägliche Verehrung. 9

Traum-Geschichten. 10

Die Mitte taucht auf 11

Der Moloch. 11

Mein Teil 11

Los und Schicksal 12

Mein Teil 17

Vom Auftauchen goldener Gefässe. 18

Rückkehr 20

Den sichtbaren Tempel bauen. 20

Esra und Nehemia. 22

Mein Leseinteresse. 23

Mythopoesie. 23

Der innere Altar 23

Mit dem Knie glauben. 24

Segen und Fluch. 25

Wiedereinsetzung ins Leben. 25

Der Fluch Mose. 26

Sie ändert die Vergangenheit 28

Ich baue dir ein Haus. 29

Fragen. 29

Die grossen Fragen. 29

Geschichtsprägende Traumatisierungen. 34

Arbeit am Innersten. 37

Im Dunkeln der Nacht 41

Nachwort 42

Die Bibel im Krieg. 42

Fromme Lektüre und Rekapitulation. 46

Zusammenfassung. 47

Makkabäer 48

Israel und Palästina. 50

Was für mich bleibt 51

Vorwort

Krieg in Israel! – Krieg im «Land der Bibel». Ein halbes Leben lang habe ich in der Bibel gelesen, vieles hat sich mit meinen Lebensfragen verbunden, ich könnte es kaum auseinandernehmen. Hat das noch Bestand? Und wenn nicht, wie könnte ich mich davon trennen?

Ich blättere in meiner Bibel. An manchen Stellen ist sie abgegriffen, von Anmerkungen übersät. Wie eine Kuh das Gras habe ich den Text wiedergekäut. Dort wurde ich selbst getroffen. – Ist jetzt eine neue Zeit, wo die alten Erfahrungen nichts mehr gelten?

Ich will einige Texte durchsehen, die von meinem Weg berichten. Am Schluss möchte ich die Erfahrungen zusammenfassen. Ich nehme den Blog zu Hilfe, um diese Reise durch die Bibel anzutreten und mir dabei selber über die Schulter zu schauen. Ich beginne mit den «Makkabäern».

Die Makkabäer

Meine Rückschau beginnt mit den Makkabäern. Die Bücher unter diesem Namen stehen am Rand der Bibel und spielen für einen christlichen Pfarrer kaum eine Rolle, anders als für die jüdische Gemeinde, wo das Fest von Chanukka an sie erinnert. Für mich waren sie wichtig.

Dass man sich wehren soll und darf, das habe ich auch in der Lektüre dieser Bücher gelernt. Dass es eine Würde gibt der menschlichen Person, für die man einstehen soll, das lehren die Makkabäer. Dass man das Heilige schützen und wertschätzen soll, das habe ich dort besser begriffen. Denn dorthin zielt die Aggression, die ins Innerste trifft und die den Gegner klein und verächtlich macht.

 

Tagebuch 31.5.2015

Ich bin pensioniert, ich freue mich, dass ich die Bibel wieder neu lesen kann, unbelastet von pfarramtlichen Verwendungs-Zusammenhängen, einfach aus Freude am Entdecken, aus Freude am sich verlieren und wiederfinden.

Ich schlage die Bibel bei den Makkabäer-Büchern auf. Aus früherer Lektüre sind mir die Makkabäer als etwas „blutrünstig“ in Erinnerung geblieben. An die Zwangs-Beschneidung erinnere ich mich, als ein Beispiel von Zwangs-Mission ausserhalb des Christentums.

Wenn ich jetzt hinhöre, kommt das Echo mehr aus dem Raum der heutigen politischen Ereignisse. Die Resonanzen, die es weckt, kommen nicht nur von der Bibel-Lektüre, sondern von politischen Erfahrungen unserer Zeit, die ich zwar auch nur von der (Zeitungs-) Lektüre kenne, die dem hier Geschilderten aber näher sind. Es ist eine Art von Erschrecken und von Neugier. Hier ist etwas zu lernen.

«Gewalt in der Bibel»

Da ist kein Raum mehr für ein betuliches Sich-Distanzieren von „Gewalt in der Bibel“. (So hiess eine Lektüre-Gruppe, die ich plante.) Nicht die Religion führt hier zu Gewalt. Die Gewalt ist gegeben, ein politisches Geschehen von traumatischer Gewalt. Und die Frage ist, wie das Vertrauen überleben kann, die Hoffnung, die Würde, der Sinn für Gerechtigkeit und die Unversehrtheit der menschlichen Person, die die Voraussetzung sind für alles Tun und Handeln und Fühlen und Leben.

Hier sind die Erfahrungen von Generationen festgehalten. Und diese sind durch den Filter der Erfahrungen von vielen andern Generationen hindurch gegangen. Seit «1989» ist die Geschichte auch bei uns wieder in Bewegung geraten. Es hat wieder Krieg gegeben in Europa. Der Nahe und Mittlere Osten sind in Bewegung. Russland will seine alten Pufferzonen zurück und reibt sich mit der EU. Zwischen China und seinen Nachbarn spitzen sich Konflikte zu…

 

Integration im Kleinen und Grossen

Fromme Lektüre will das Gelesene immer auch persönlich auf das eigene Leben beziehen. So werden die Mittel des kollektiven Kampfes, die Wege, sich zu behaupten, zu Bildern für den persönlichen Weg, die aber im individuellen Überlebenskampf durchaus reale Entsprechungen haben: etwa im Sich-Verbergen, im Umschlag von Trauer und Beschämung in Zorn…

 

So habe ich auch die altchinesische Erzählung „Die Räuber vom Liang Shan Po“ immer gern gelesen – es sind Erzählungen vom Rand (wie es auch die biblische Aufstiegsgeschichte von David ist): Im Zentrum des Reichs ist etwas nicht in Ordnung, Menschen werden hinausgedrängt. Sie suchen Schutz am Rand, in der Wüste, in den unzugänglichen Gegenden eines Moors oder eines Gebirges. Es ist ein Kommentar zum Zustand in der Mitte, zum Königreich. Die (Re-) Integration dieser Menschen gelingt erst, wenn das Reich sich wieder integriert, wenn es wieder zum Recht findet. Dann können auch die Menschen als Individuen sich wieder integrieren: Sie können die soziale Isolation überwinden, den Status als „Outcast“, aber auch die Zerspaltenheit in sich selbst.

Die Rolle der Religion

Interessant ist die Rolle der Religion in einem Kampf um Einfluss und Macht, wo es scheinbar nur um «Politik» geht. Die Schändung des Tempels und des Allerheiligsten eines Volkes (eines Menschen) ist ein Kampfmittel, um ihn im Innersten zu treffen, zu demütigen, zu schwächen und zu unterwerfen.

 

«In seiner Vermessenheit betrat er sogar das Heiligtum; er raubte den goldenen Rauchopferaltar, den Leuchter samt allem seinem Zubehör (…)

Er richtete ein Blutbad an und führte ganz vermessene Reden.

Da kam grosse Trauer über das ganze Land Israel. Die Vornehmen und Alten stöhnten; die Mädchen und jungen Männer verloren ihre Kraft und die Schönheit der Frauen verfiel.» So heisst es im 1. Makkabäerbuch.

(1. Makk. 1,21ff)

 

Es ist ein Schlag in die „Mitte“ eines Volkes, eines Menschen. Das ist wohl wichtiger als die rationalisierende Erklärung für die Tempelschändung, dass hier die Ohnmacht dieses Gottes gezeigt werde, wichtiger auch als das Motiv, mit dem Gold der Tempelschätze den eigenen Reichtum zu mehren und damit Truppen aufzustellen.

 

Notwehr-Exzess

Die Erzählung in 1. Makk zeigt, wo Demütigung in Hass umschlägt und Verteidigung in Gewalt. In der Erzählung lassen sich verschiedene Momente unterscheiden:

 

Anpassung und Widerstand

Viele unterziehen sich den neuen Gegebenheiten und gehorchen den neuen Machthabern. Einer entscheidet sich gegen Anpassung – Mattatias lässt sich hinreissen, leistet gewaltsamen Widerstand. Es bleibt ihm nur noch der Weg nach vorne. Andere schliessen sich ihm an. Er wird zum Anführer. Andere ziehen sich zurück in die Wüste, wollen dem Konflikt ausweichen.

Verteidigung der Mitte

Sie aber wollen lieber sterben, als vom Heiligsten abzufallen. Sie werden am Sabbat abgeschlachtet, wo sie wehrlos sind, wenn sie ihrem Glauben folgen.

Es ist der grösste Hohn auf ihren Glauben, der Sabbat erinnert an die Vollendung der Welt, wenn Gott alles ans Ziel führt und die Menschen unter Gott in Gerechtigkeit und Frieden zusammenwohnen.

 

Kampf und Erfolg

Mattatias will kämpfen. «Sie sagten zueinander: Wenn wir alle so handeln (…) und nicht gegen die fremden Völker für unser Leben und unsere Gesetze kämpfen, dann vertilgen sie uns bald von der Erde.» (2,40)

Jetzt verteidigen sie sich, sie kämpfen und vertrauen nicht nur auf Gott. Sie kämpfen auch am Sabbat (und später am Jom Kippur, im Warschauer Ghetto.)

Jetzt ist ein Kern für die Bildung eines Widerstandes da, andere schliessen sich an, Gruppen und einzelne. Sie stellen eine Streitmacht auf und haben Erfolge.

«Sie entrissen das Gesetz der Gewalt fremder Völker und der Hand der Könige. Dem Sünder liessen sie keine Macht.» (1,48)

 

Über das Recht hinaus

Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung, sie überschreiten die Grenze von Recht und Gesetz: Alle unbeschnittenen Kinder, die sie in dem Gebiet Israels fanden, beschnitten sie gewaltsam.

Jonathan zündet einen Tempel an und verbrennt ihn, mit allen, die dort Zuflucht suchen. («Aber Jonatan plünderte die Stadt Aschdod und die Orte ringsum und zündete sie an. Er brannte auch den Götzentempel nieder mit allen, die hineingeflohen waren.» – 1.Makk 10,84)

Der gesuchte Weg setzt auf Recht und Gottvertrauen. So wird im Vermächtnis des Mattatias festgehalten: «Überdenkt unsere ganze Vergangenheit: Keiner, der ihm vertraut, kommt zu Fall. Habt keine Angst. Meine Söhne, seid stark und mutig im Kampf für das Gesetz; denn durch das Gesetz werdet ihr euch Ruhm erwerben.» (2,61ff)

 

«Allen, die mich jetzt hören…»

Die Makkabäerbücher schildern nicht nur, sie wenden sich direkt an die Leser. Sie durchbrechen die Erzählebene, als Elend und Trauer zu gross werden. Viele Jahrhunderte später, in der Verfolgung des 20 Jahrhunderts, hat ein Film das aufgenommen. Nur erzählen genügt hier nicht.

 

Krisenzeiten erfinden ihre eigenen Formen des Redens. Besonders eindrücklich, wenn eine Rede stockt, wenn ein Erzähler sich umwendet und die Hörerenden direkt anspricht. Das Publikum verwandelt sich zu Beteiligten. Sie müssen die Distanz aufgeben und Stellung nehmen. Berühmt ist die Friedensrede Chaplins am Ende seines Films «The Great Dictator». Auch die Bibel kennt Beispiele.

 

Sich vom Erzählten nicht erschrecken lassen

Vor einiger Zeit habe ich wieder mal die Bibel aufgeschlagen und traf auf diese Stelle: «Ich möchte aber hier diejenigen, die dieses Buch in die Hände bekommen, ermahnen, sich durch diesen Jammer nicht entmutigen zu lassen.» So heisst es in einem kurzen Kapitel, das die Erzählung unterbricht. Hintergrund sind die Leiden des Volkes unter der Fremdherrschaft. Gott habe seine Barmherzigkeit nicht vergessen, auch wenn die Erfahrung eine dunkle Welt zeige. «Er lässt sein Volk nie im Stich. Dies habe ich als Ermahnung hier sagen wollen. Nun aber wollen wir rasch wieder auf die Geschichte kommen.» (2. Makk 6, 12)

 

Die Makkabäer-Bücher, die nicht in allen Bibelausgaben enthalten sind, handeln von der griechischen Fremdherrschaft, nachdem Alexander der Grosse viele Gebiete bis nach Indien erobert hatte, sein Reich aber unter den Nachfolgern in Teilreiche zerfiel. Das Volk Israel wehrte sich gegen die Hellenisierung. Es kam zu einem Aufstand, Israel fand für etwa hundert Jahre zu neuer Eigenstaatlichkeit (167 bis 63 v. Chr.).

 

Eindrücklich ist die Schilderung, wie der Tempel geschändet wurde. Es sollte das Volk ins Mark treffen.

 

«Da kam grosse Trauer über das ganze Land Israel. Die Vornehmen und Alten stöhnten; die Mädchen und jungen Männer verloren ihre Kraft und die Schönheit der Frauen verfiel. Jeder Bräutigam stimmte die Totenklage an, die Braut sass trauernd in ihrem Gemach. Das Land zitterte um seine Bewohner. Das ganze Haus Jakob war mit Schande bedeckt.» (1. Makk. 1, 25ff)

 

Der Sinn des erzählten Leidens

Es war eine Krise, die Schändung des Tempels sollte das Volk im Innersten treffen. (Erniedrigung und Beschämung werden auch heute als Waffe eingesetzt.) Der Autor konnte kaum an sich halten, so scheint es dem heutigen Leser. Er konnte nicht weiterfahren im Berichts-Ton, musste deutlich machen, was ihn quälte und den Lesern weitergeben, was er gefunden hatte:

 

«Ich möchte aber hier diejenigen, die dieses Buch in die Hände bekommen, ermahnen, sich durch diesen Jammer nicht entmutigen zu lassen, sondern zu bedenken, dass unserm Volk Strafen nicht zum Verderben, sondern zur Erziehung widerfahren. (…) Und wenn er uns durch ein Unglück erzieht, lässt er doch sein Volk nie im Stich. Dies habe ich als Ermahnung hier sagen wollen.»

 

Eine Rede fürs Publikum

1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, als noch nicht absehbar war, dass NS-Deutschland besiegt werden würde, veröffentlichte Charlie Chaplin den Film «Der grosse Diktator». Er parodierte den Führer durch einen jüdischen Friseur, der ihm ähnlich sah und durch eine Verwechslung an seine Stelle kam. Jetzt, in der Position eines Machthabers, nutzte er die Möglichkeit. Chaplin durchbricht die Filmhandlung und lässt den Diktator alias Friseur eine Friedensrede halten, die nicht nur zur Filmhandlung gehört, sondern die auf die reale Welt ausgreifen sollte. Es ist eine Rede auch für heute:

„Es tut mir leid aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht. Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann. Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weissen.

Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt. Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher. Auf dieser Welt ist Patz genug für jeden, und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen. Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein. Wir müssen es nur wieder zu leben lernen.

Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten und sie denken auch für uns.

Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen, und unser Wissen kalt und hart. Wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig. Aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann erst die Maschinen. Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte. Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert.

Aeroplane und Radio haben uns einander näher gebracht. Diese Erfindungen haben eine Brücke geschlagen, von Mensch zu Mensch. Die erfordern eine allumfassende Brüderlichkeit, damit wir alle Eins werden. Millionen Menschen auf der Welt können im Augenblick meine Stimme hören. Millionen verzweifelter Menschen, Opfer eines Systems, das es sich zur Aufgabe gemacht hat Unschuldige zu quälen, und in Ketten zu legen.

Allen denen, die mich jetzt hören, rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen! Auch das bittere Leid das über uns gekommen ist, ist vergänglich. Die Männer, die heute die Menschlichkeit mit Füssen treten, werden nicht immer da sein. Ihre Grausamkeit stirbt mit ihnen, und auch ihr Hass. Die Freiheit, die sie den Menschen genommen haben, wird ihnen dann zurückgegeben werden. Auch wenn es Blut und Tränen kostet, für die Freiheit ist kein Opfer zu gross.“

 

Aus dem off gesprochen

Bei Chaplin und in den Makkabäer-Büchern findet sich dasselbe Motiv: die Sprecher wechseln in den Off-Ton, weil das Leid nicht mehr zu ertragen ist, es braucht eine Zusage: «Allen denen die mich jetzt hören rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen!», sagt Chaplin. Und der biblische Autor sagt:

 

«Ich möchte aber hier diejenigen, die dieses Buch in die Hände bekommen, ermahnen, sich durch diesen Jammer nicht entmutigen zu lassen. (…) Dies habe ich als Ermahnung hier sagen wollen. Nun aber wollen wir rasch wieder auf die Geschichte kommen.»

 

Die Chaplin-Rede wird zitiert nach: https://www.rollingstone.de/grosse-dikator-charlie-chaplin-rede-video-2045255/von Rolling Stone 30.12.2021

Aus einem Blog-Beitrag

 

Der Innere Altar

Der «Innere Altar», von dem hier die Rede ist, erinnert an den Altar, der in der Makkabäer-Zeit geschändet wurde. Im Innern wird er aufgerichtet als Hort des Heiligen, als Mitte, als Zuflucht und Ort der Wertschätzung.

Es ist eine persönliche Aneignung der Makkabäerbücher, eine «fromme Lektüre», wo der Einzelne sich ins Allgemeine fügt, wo die grosse Geschichte Bilder gibt, in denen sich auch der Einzelne verstehen kann. So sind mir die Makkabäerbücher wertvoll geworden, sie gehören auch zu «meiner» Geschichte.

Was es mit diesem «Altar» auf sich hat, davon handelt ein Beitrag für meinen Blog «Von Gott erzählen»:

Wertschätzung

Warum können manche Menschen an ihrem Ziel festhalten und unbeirrt an einer Aufgabe arbeiten und andere verlieren sich immer wieder und resignieren an ihrem Leben? – Viele Menschen haben schon früh gelernt: „Was du machst, ist nichts wert.“ Und sie stimmen in dieses Urteil ein. Sie können im Lauf des Lebens lernen, sich ernst zu nehmen und dem treu zu bleiben, was sie für sich als richtig erkannt haben.

 

Das ist nicht einfach, da es dem Gefälle des Charakters entgegenläuft. Sie haben das Urteil der andern übernommen. Sie neigen sich vor etwas, was grösser scheint, als ihre Einsicht. Es ist, als ob da ein Götze auf ihrem Altar thronte, dem sie dienten, auch wenn sie grosse Opfer dafür geben müssen. Sie opfern ihre bessere Einsicht und ihre Sehnsucht nach einem richtigen und ganzen Leben – dass das auch für sie eines Tages noch wahr werden könnte.

 

Innere Widmung

Wenn das gelingen soll, müssen sie andere Grössen auf den Altar setzen und ihren Götzendienst beenden. Das meint die Rede vom „inneren Altar“: dass sie das wertschätzen, was ihnen wirklich etwas bedeutet, statt es kleinzumachen und in den Chor der Spötter einzustimmen.

 

Sie müssen aufhören, mit dem zu kollaborieren, was sie kaputt macht, nur weil sie Anerkennung suchen, nur weil sie sich das Recht zum Dasein verdienen wollen. Dieses Recht verdient man nicht, man erhält es von Gott geschenkt. Er gehört darum auf den Altar. Ihm muss man danken lernen. Dann wird man vom Dienst an falschen Herren frei.

 

Psychologisch ausgedrückt geht es um die innere Widmung ihrer Arbeit: Was ist die innerste Ausrichtung ihres Tuns? – Was ist das Ziel, das alles andere relativiert? -Wofür lassen sie alles stehen und liegen, wenn sie nur das eine bekommen? –

 

 

„Der Gräuel“

Die Rede vom „inneren Altar“ ist ein religiöses Bild. Die Makkabäer-Bücher in der Bibel schildern, wie Israel und der Vordere Orient von den antiken Griechen erobert und von den Diadochen-Staaten nach dem Tod Alexanders verwaltet wurden. Um ihre Herrschaft zu festigen, verfolgten sie eine bewusste Religionspolitik. Sie setzten einen „Gräuel“ auf den Altar, wie es in den Makkabäer-Büchern heisst.

 

Der Widerstand soll schon im Ansatz gebrochen werden, indem auch die Seelen in Verwaltung genommen werden. Mit dem Tempel, wo das Volk sein Heiligstes verehrt, soll auch das Innerste neu besetzt werden. Die Unterworfenen sollen sich vor den Werten der Besatzer verneigen. (So haben Herrscher in unterworfenen Gebieten immer ihre Repräsentanten zur Verehrung ausgestellt, von den Römern und ihrem Kaiserkult bis zu dem sagenhaften Hut auf der Stange in Schillers „Tell“.)

 

Innerer Altar“ als abgekürzte Redewendung heisst: Das wertschätzen, was man als richtig erkannt hat; sich nicht vor falschen Götzen verbeugen; schon am Morgen nach dem Aufstehen die richtige Haltung einnehmen, damit das Verhalten während des ganzen Tags in die richtige Richtung geht. Denn das Bein, mit dem man aufsteht, macht den ersten Schritt. Die Haltung, mit der man aufwacht, bestimmt die Wahrnehmung, die Gefühle und das Verhalten.

 

Es ist eine komplexe Wechselwirkung von Innerem und Äusserem, was die soziale Realität bestimmt. Da sind Werte, Gefühle, Einsichten, Institutionen und Charakterprägungen, die das Verhalten bestimmen. Vieles scheint seit der Geburt geprägt und kaum veränderbar.

 

Es ist jedoch die Erfahrung eines spirituellen Lebens, die viele Menschen machen: Es kann verändert werden. Selbst die Verhärtungen des Charakters werden beweglich. Selbst die objektive Gestalt, die Inneres in äusseren Institutionen gefunden hat, kann verändert werden. So baut sich ein Leben ein neues Haus. So wächst es von innen, vom Altar und seinen Werten, nach aussen, in die sichtbare Wirklichkeit hinein.

Was wir wertschätzen spielt eine wichtige und oft unterschätzte Rolle dabei.

(Aus Notizen 24.3.19)

 

Ein Altar für die tägliche Verehrung

„Egal, ob andere sich für dasselbe interessieren. Wenn ich es tue, will ich nicht davon abweichen, nur weil es ausserhalb scheinbar nichts gilt. Ich will mich nicht davon abbringen lassen, ob es sie interessiert oder nicht.

Ich will in mir selbst einen Altar errichten, ein Licht anzünden, den Tisch decken, die Hände waschen, ein schönes Kleid anziehen und feiern!“

(Aus Notizen 15.2.04)

 

Traum-Geschichten

„Ich habe das Gefühl, ich sei durch einen langen Tunnel hindurch gegangen. Und noch ist er nicht fertig. Eine Verletzung weckt alte Verletzungen und Reaktionsweisen. Sie wirft einen zurück. Entweder man wiederholt die alten Geschichten oder es wird eine Chance zu Versöhnung und Wachstum.

 

Was mir im Lauf meiner Notizen klar geworden ist: Mein ganzer Heilungsweg ging aus von einem „Trauma“. Das Wort erinnert an Traum und dieser an jene Art, die Realität wahrzunehmen, die auch zu diesen Verletzungsgeschichten gehört, wo man durch eine Landschaft geht wie durch einen Traum. Und wo, wenn es intensiver ist, alles in ein helles Licht getaucht ist. Alle Angst, die vorher noch so bedrängend war, ist weg. Man ist reine Gegenwart, „actus purus“, wie in jenem Moment vor der Geschichte, als alles entstanden ist und alle Wirklichkeit geprägt wurde.

 

Man ist in Blaubarts Zimmer, wo er sein Geheimnis verwahrt hat. Und jetzt ist alles klar. Das ist der Ort, wo Verhalten geprägt, verletzt und geheilt wird. – Wenn man denn den Mut hat, da hinein zu gehen, nicht vor der Angst davon zu laufen, sondern ihr entgegen und mitten hinein.

 

Es ist mein Stück

Das Trauma prägt jene Geschichten, die man immer wiederholt. Und man fragt sich: Warum muss mir das immer geschehen? Warum müssen die Menschen mir immer wieder auf diese Weise mitspielen? Man fühlt sich als Opfer, bis man begreift: Ich bin der Regisseur und die andern sind nur Marionetten in meinem Spiel. Und der Finger, der in ihrem Kopf steckt, das ist meiner. Ich führe das Stück auf. Es ist immer wieder dasselbe, aber ich nehme wechselnde Personen dafür, je nachdem, wie das Leben sie mir an die Hand gibt. Mal sind sie aus der Schule, dann aus dem Beruf, oder aus der Familie, wo immer.

 

Ich führe das Stück auf, und sie wären wohl froh, wenn ich sie frei liesse und wenn sie mir begegnen könnten, wie es ihnen entspricht und der Situation. Aber sie müssen immer ein Kleid anziehen, das ich ausgesucht habe, in die Maske gehen und einen Text aufsagen, der ihnen übergestülpt wird wie eine fremde Rolle.

 

Es ist die Rolle in meinem Stück, wo ich immer wieder verletzt, gedemütigt, vernichtet werde. Ich werde nicht müde, das Stück zu wiederholen, so schrecklich es auch ist. – So haben sich die Altvorderen die Hölle vorgestellt, in ewig gleichen Ablauf-Schlaufen, darum in Kreisen aufgebaut, in den neun Kreisen der Hölle.

 

Die Betrachtung der Passion ist heilsam. Die Geschichten, die in einer Religion erzählt werden, bilden so etwas wie ein gemeinsames Trauma. Viele Generationen von Menschen haben sich darin wiedererkannt und sie haben ihre Erfahrungen darin eingetragen. Und das sind nicht nur die verletzenden, sondern auch die heilsamen.

 

Die Mitte taucht auf

„Er wird die Schuld der Väter heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied.“ – Das Trauma vererbt sich, es legt sich wie ein dunkler Fluch auf kommende Geschlechter, aber es mildert sich auch. Und nach drei, vier Generationen ist es verheilt.

 

Das Leben ist kreativ, Kinder sind kreativ. Und auch ein Mensch allein arbeitet schon an seinem Leben. Und dort, wo das „Loch“ war, die Finsternis, wo alles Leben hineinzustürzen drohte, dort wird die „Mitte“ sichtbar. Es ist ein Ort, wo man nicht mehr verschlungen wird, sondern wo man gerne hingeht, wo man sich gehalten und geborgen fühlt, wo man gegenwärtig werden kann, das Ganze des Lebens ergreifen.

 

Und dieser geplagte Mensch – im Gebet kann er sich einem „Du“ gegenüberstellen, alles fasst er in diesem Du zusammen. Er kann alles übergeben und erhält alles zurück. Er sieht sein Leben jetzt mit anderen Augen. Mit den Augen Gottes: Das sind Augen der Liebe, nicht der Verfolgung, der Annahme, nicht der Verwerfung, der Würdigung, nicht der Verachtung.

 

Die Intuitionen haben ihm dabei geholfen. Jene Ahnungen, die nicht aus der Erfahrung abgezogen werden, sondern vor aller Erfahrung das Leben und Erfahren prägen: dass es so etwas wie Gehalten-Werden gibt, Erbarmen, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt und die Würde der Person, dass Leben gelingen soll, nicht verstümmelt werden, dass ein Weg ankommen soll, nicht in der Wüste verlaufen…

 

Der Moloch

So füllt sich das Loch, die Farbe ändert sich. Und wo die Makkabäer, die Freiheitskämpfer des antiken Israel, von jenem Ungeheuer sprechen, dem „Gräuel der Verwüstung“, das auf dem Altar sitzt (die Eroberer und Unterdrücker des Volkes haben es als Götzen dorthin gesetzt, damit die Unterworfenen es anbeten sollen und ihre Herrschaft anerkennen), dort ist wieder Gott anzutreffen. Der Altar wird gereinigt, die Verletzung geheilt. Und wer dorthin flieht, findet Hilfe und Heilung.

 

Aber diese Schande hatte die Lebenskraft des ganzen Volkes geraubt:

„In seiner Vermessenheit betrat der König sogar das Heiligtum; er raubte den goldenen Rauchopferaltar. (…) Da kam grosse Trauer über das ganze Land Israel. Die Vornehmen und Alten stöhnten; die Mädchen und jungen Männer verloren ihre Kraft und die Schönheit der Frauen verfiel. Jeder Bräutigam stimmte die Totenklage an, die Braut sass trauernd in ihrem Gemach. Das Land zitterte um seine Bewohner. Das ganze Haus Jakob war mit Schande bedeckt.“ (1, 21ff)

 

Mein Teil

Als das biblische Volk Land und König, Tempel und Besitz verlor, wurden viele dieser alten Grössen spiritualisiert. Sie lebten in der Frömmigkeit weiter, man konnte sich immer noch auf Jerusalem beziehen, auf den Tempel, der im Glauben weiterbestand.

Das macht das erste Testament anschlussfähig für eine fromme Lektüre auch von Christen. Auch sie haben sich nach dem Tod Jesu als Glied seiner Gemeinde verstanden, die er im Geist berufen hat. Auch Christus gab in der Taufe Anteil am Amt von König, Priestern und Propheten.

Für mich waren die Makkabäer wichtig geworden, ihre Selbstbehauptung, die Aufrichtung eines inneren Altars. Zu einer anderen Zeit entdeckte ich das Motiv des Anteil-Habens, wo ich mich einbeziehen konnte. Das zeigt der folgende Text, den ich für einen Gottesdienst verfasste:

 

Los und Schicksal

Das „Los“ ist heute etwas, das man am Kiosk kaufen kann. Am Fernsehen verfolgen wir dann die Ziehung der Lotto-Zahlen. Und dann stellt sich heraus, ob wir „das grosse Los gezogen haben.“ Das Los bedeutet darum auch das Schicksal, das jemand hat. Wir sagen darum auch, jemand habe „ein beneidenswertes Los“ gehabt. Oder „es war ihm ein schweres Los beschieden“. Wir beklagen „das Los der Flüchtlinge“. Oder wir sagen, dass wir „mit unserem Los zufrieden“ sind. Zuerst meint das Los etwas Materielles, den Lotto-Gewinn. Dann steht das Wort für etwas Nicht-Materielles: das Leben, das einer hat, das Schicksal.

 

Manchmal vergleicht man sich mit anderen Menschen und findet, ein anderer habe ein besseres Schicksal. Oder jemand hätte „ein besseres Schicksal verdient“, als er es tatsächlich erleben durfte. – Die Weisen sagen, man solle sich nicht vergleichen. Aber manchmal tut man es doch. Und dann wird man vielleicht unzufrieden. Es scheint ungerecht, wie es zugeht auf der Welt. Glück und Verdienst gehen oft nicht miteinander.

 

Diese Fragen begegnen uns auch in der Bibel. Die ersten Hinweise finden wir in der Zeit, als das alte Volk Israel ins Land Palästina eingewandert ist. Durch das Los erhielt jede Familie ein Stück Land. Am Anfang hat jeder ein gleiches Los, einen gleich grossen Anteil am Land. Nur die Priester nicht und die Leviten. Das sind die Diener am Tempel. Sie bekamen kein Land zum Bebauen. Sie bekamen Anteil an den Opfergaben.

 

Das ist die Ausgangslage, als das alte Volk Israel in das Land eingewandert ist. Und es ist spannend zu sehen, was im Lauf der Geschichte daraus geworden ist. …

Vielleicht hilft es uns heute, wenn wir nach „unserem Los“ fragen. Vielleicht finden wir eine Antwort auf unsere Frage, wie wir mit dem Schicksal umgehen können.

 

In Psalm 16 heisst es: Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden.

 

Anteil am Land

Anteil haben: Als das alte Israel in Palästina einwandert, beginnt das ganz real. Das Land wird verteilt, alle Familien erhalten einen Anteil. Dort können sie leben. Dort können sie sich niederlassen. Dort wird geheiratet, Kinder werden geboren. Sie können alt werden. Alle haben Anteil am Land und seinen Gaben.

 

Nur die Bediensteten am Tempel werden davon ausgenommen: die Priester und die Leviten, das sind Angehörigen des Stammes Levi, die am Tempel tätig sind. Sie erhalten keinen Anteil am Land, sie sollen nicht Landwirtschaft betreiben, sondern am Tempel tätig sein. Dafür erhalten sie Abgaben an den Tempel. Das ist der Ursprung des Zehnten.

 

So lesen wir im 4. Mose:

Und der Herr sprach zu Aaron (von ihm stammen die Priester ab): Du sollst in ihrem Lande kein Erbgut besitzen, auch keinen Anteil unter ihnen haben; denn ich bin dein Anteil und dein Erbgut inmitten der Israeliten. Den Söhnen Levi aber habe ich alle Zehnten gegeben in Israel zum Erbgut für ihr Amt…

Und sie sollen unter den Israeliten kein Erbgut besitzen.“ (Nu 18,20f)

So richtet sich das Volk ein in dem Land. Jeder bekommt einen Anteil. Aber da geschieht es, das Volk Israel wird überfallen und nach Babylon ins Exil geführt. Sie verlieren das Land, ihre Häuser, Dörfer, Städte.

 

Anteil im Exil

Der Prophet Jeremias schreibt die Klagelieder. Er klagt über den Verlust. Aber er schreibt:

„Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht ganz verloren sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist gross. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.“ (Kl 3,22f)

 

Jeremia spricht hier wieder vom Anteil, aber etwas hat sich verändert. Früher war es nur das Tempelpersonal, das kein Land hatte, dafür hatten sie Anteil an Tempel, sie waren nahe bei Gott. Jetzt geht es allen Familien so: Sie haben das Land verloren. Sie sind geworden wie Priester und Leviten. Sie müssen ihren Anteil finden bei Gott. Darum sagt Jeremia:

„Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“

 

Anteil im Sinnbild

Israel hat das Land verloren. Wenn man jetzt in der Bibel vom Land spricht und vom Anteil, dann ist das sinnbildlich gemeint. Gott selber ist das Land geworden, das gelobte Land. Zu ihm kann die Seele hingehen und Ruhe finden. Seine Führung, sein Beistand ist der Anteil, den er uns gibt. Die Freude an seinem Weg ist der Anteil, den wir haben. So heisst es im Psalm 16:

Der Herr ist mein Gut und mein Teil; du erhältst mir mein Erbteil. Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden. Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts.

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen; steht er mir zur Rechten, so werde ich sicher schreiten. Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher liegen. Denn du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ (Psalm 16,5ff)

 

Gott selber ist zum Teil geworden, zum Anteil, den wir haben am Glück.

 

Aus dem Los wird das Schicksal

Das alte Israel lebt jetzt in der Fremde, das Land haben sie verloren.

Vieles wird jetzt vergeistigt, was früher eine ganz reale Bedeutung hatte. So geht es auch mit dem Begriff „Los“. Bei der Einwanderung wurde das Land ausgelost, so erhielt jede Familie einen Anteil. Jetzt bedeutet das Los etwas anderes: Es ist das Los geworden, das Schicksal, das wir tragen. Aber der Glaube sagt: Gott hat uns ein gutes Los gegeben. Wir haben Anteil an seinem Land.

 

Wir sind Bürger geworden in einem geistigen „Land“. Das spüren wir an seiner Gegenwart, das erfahren wir, wenn wir uns führen lassen von ihm. Das zeigt sich in unserem Leben, wir werden es erfahren.

 

Darum heisst es weiter in Ps 16:

„Der Herr ist mein Gut und mein Teil… Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher liegen. Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ (Psalm 16,5ff)

So finden die Gläubigen Trost, auch wenn sie vieles verloren haben, was ihnen früher wichtig war. –

 

Das zweite Exil

Aber Glaube kann immer angefochten werden. Auch das geistige Land kann man verlieren. Auch aus der Glaubens-Freude kann man vertrieben werden in ein Exil, das noch viel bitterer ist, weil man dann nicht mehr weiss, wohin sich wenden. Davon erzählt der Psalm 73. Er steht für eine grosse Krise im ersten Testament:

 

„Lauter Güte ist Gott für Israel, für alle Menschen mit reinem Herzen.

2 Ich aber – fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wäre ich gefallen. 3 Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging. 4 Sie leiden ja keine Qualen, ihr Leib ist gesund und wohlgenährt. 5 Sie kennen nicht die Mühsal der Sterblichen, sind nicht geplagt wie andere Menschen. 6 Darum ist Hochmut ihr Halsschmuck, wie ein Gewand umhüllt sie Gewalttat. (…)

12 Wahrhaftig, so sind die Frevler: Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum. 13 Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld. (…) 21 Mein Herz war verbittert, mir bohrte der Schmerz in den Nieren.“

Da lebt jemand als Glaubender. Er versucht, nach bestem Willen dem nachzuleben, was er als richtig erkannt hat im Leben. Er macht es sich nicht leicht. Er sucht nicht seinen Vorteil, wenn es auf Kosten von andern geht. Er hilft wo er kann. Und nun sieht er, wie es andern viel besser geht: Menschen, die nicht nach Gott fragen, die nur ihrem eigenen Vorteil nachleben. Und sein ganzes Lebensprojekt wird in eine Krise gestürzt. Ich habe auf Gott gesetzt – was hat es mir gebracht?

 

Die Krise des Glaubens

Das ist eine Krise des Glaubens, die im ersten Testament ein grosses Echo findet. Auch im Buch Hiob kommt das immer wieder zur Sprache: das Glück der Gottlosen. Und die auf Gott vertrauen, werden ausgelacht und manchmal noch verfolgt.

 

„12 Wahrhaftig, so sind die Frevler: Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum. 13 Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld. 21 Mein Herz war verbittert, mir bohrte der Schmerz in den Nieren.“

 

Zweite Landnahme

Der Betende in Ps 73 schwankt, er ist unsicher, ob er nicht sein ganzes Leben falsch gelebt hat. Dann aber findet er auf seinen Weg zurück. Es ist letztlich eine innere Gewissheit, dass das der rechte Weg ist, für ihn aber auch für die Gemeinschaft. Letztlich muss es so etwas geben wie Gerechtigkeit. Und eine Gesellschaft, wo jeder nur nach seinem Vorteil fragt, kann auf die Länge nicht bestehen.

So findet der Beter den Mut, gegen alles an-zu-glauben, was er sieht. Und darauf zu vertrauen, dass Gott sich letztlich durchsetzt.

Und so endet der Psalm 73 mit diesen Worten:

„23 Dennoch bleibe ich stets bei dir, du hältst mich bei meiner Rechten. 24 Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit.

25 Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. 26 Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, mein Trost und mein Anteil auf ewig.

27 Ja, wer dir fern ist, geht verloren. 28 Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf Gott, den Herrn, und dass ich verkündige all dein Tun.“

Der Beter findet zu Gott zurück. Er überwindet seine Krise.

 

Die Vorstellung vom richtigen Leben

Eine Krise kann man nicht verstehen, wenn man nicht etwas Ähnliches auch durchgemacht hat. Aber einfühlen können wir uns wohl alle ein Stück. Schauen wir nur unser eigenes Leben an: wie es uns geht mit Glück und Unglück, mit Gewinnen und Verlieren.

 

Als Kind will man alles immer sofort. Man hat keine Geduld. Man sieht etwas und streckt die Hand aus danach. Nicht immer kriegt man es. Als Jugendliche machen wir Lebenspläne. Wir schliessen die Schule ab, gehen ins Leben hinaus. Vieles ist da, was wir uns erhoffen und was wir erreichen wollen. Mit etwa 30 sollte man das erreicht haben: Arzt, Rennfahrer, Schauspielerin, was immer die Berufspläne waren. Haben wir es erreicht? Oft ändern wir die Pläne, wir streben etwas an, was besser zu uns passt. Und Liebe, Partnerschaft, Familie werden jetzt wichtig für uns.

 

Wenn wir älter sind, tauchen all diese Bilder wieder auf – haben wir es erreicht? Wie war unser Leben? Wenn wir etwas nicht erreicht haben, werfen wir das Ziel deswegen nicht immer weg. Oft bleiben wir dabei:

Es muss einfach so etwas geben wie Gerechtigkeit!

Es muss einfach so etwas geben wie Liebe und Barmherzigkeit!

Es gibt Dinge, Hoffnungen, auf die wir nicht einfach verzichten können. Es gibt Haltungen, die wir nicht einfach ablegen können. Sie gehörten zu unserem Leben. Sie gehören zu unserer Vorstellung von einem „richtigen“ Leben und von einer „richtigen Gemeinschaft“.

Die Bibel spricht in gewissen Schriften von einem „Jüngsten Gericht“. Dort wird dann Gerechtigkeit hergestellt. Dort werden die „Lose“ ausgeglichen, jeder erhält einen „gerechten Anteil“.

Viele Menschen denken gar nicht so weit, sie machen sich keine Bilder, wie das sein wird am „Ende der Zeit“. Sie wissen und spüren einfach, was für sie „richtig“ ist. Und daran halten sie fest, auch wenn sie es vielleicht nicht selber erleben.

Auch wenn der Anteil, den sie daran haben, nur geistig ist: in der Hoffnung, nicht im Erleben; im Mitfreuen, nicht im Haben; im dem inneren Frieden, den sie finden, wenn sie auf Gott vertrauen und auf seine Gerechtigkeit.

So verstehen wir den Beter in Ps 37:

„Du, Gott, bist mein Trost. Und das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf Gott und dass ich verkündige all dein Tun. Du bist mein Anteil auf ewig.“

 

Der Anteil wird verinnerlicht …

Das Land, an dem wir Anteil haben, lebt zuerst in unserem Herzen. Es lebt in dem, was für uns richtig ist. Das bestimmt unser Verhalten. Und so wird es immer auch wieder ein Stück Realität. Es wird Wirklichkeit an dem Ort, wo wir leben: in der Familie, in unseren Beziehungen, am Arbeitsplatz. Wenn wir darauf vertrauen und so leben, wird es immer wieder erlebbar.

 

… und wirkt so wieder nach aussen

So ist es auch im zweiten Testament. Die Hoffnung auf das „Land“ kehrt im Neuen Testament wieder als Hoffnung auf das Reich Gottes. Der Evangelist Markus schreibt am Anfang seines Berichtes:

„Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Ändert euern Sinn und glaubt die gute Botschaft!“ (Mk 1,15)

Die Erfüllung von all dem, was wir erhoffen, kommt nicht nur von uns. Es braucht uns Menschen. Es braucht unsere ganze Kraft. Aber es braucht noch mehr dazu. Denn wir Menschen sind endlich. Wir sind ein Teil dieser Welt, wir haben sie nicht geschaffen. Die Erfüllung kommt von dem, der am Anfang stand. Diese Kraft, die uns und alles geschaffen hat, lässt uns nicht allein, sie ist mit uns auf dem Weg in Jesus Christus.

Und diese Kraft inspiriert uns, dieses Vertrauen lässt uns immer wieder neu anfangen. Dort finden wir immer neu Halt, auch wenn wir manchmal zweifeln an unserem Los. Ich denke, wir können den Text jetzt nachsprechen von Psalm 16:

 

5 Der Herr ist mein Gut und mein Teil; du erhältst mir mein Erbteil. 6 Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden. 7 Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts. 8 Ich habe den Herrn allezeit vor Augen; steht er mir zur Rechten, so werde ich fest bleiben. 9 Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher liegen. 11 Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“

  1. Juli 2012

Mein Teil

In jener Zeit sammele ich biblische Texte zum Motiv «mein Teil», das half mir in meine eigenen Leben. Einleitend zur Textsammlung schrieb ich:

 

Wer mehr und mehr auf Gott setzt und das andere mehr und mehr loslässt, begibt sich auf einen Weg, den Weg Gottes. (Das ist seine Innensicht.) Er begibt sich aber auch auf eine Bahn. (Das ist die Aussensicht auf ihn). Er wird zum Fremdkörper im gesellschaftlichen Leben. Er „positioniert“ sich nicht, macht kaum mehr mit im Wettrennen um Güter und Geltung, er scheint all das zu verachten, womit andere renommieren. Er stösst an. Er wird seltsam in den Augen der andern.

 

Manchmal übernimmt er ihre Sicht, sie wird ihm auch in der eigenen Familie vorgehalten, die halbwüchsigen Kinder wollen einen Papa, auf den sie stolz sein können. Sie genieren sich noch mehr, als es in der Pubertät sonst üblich ist. Mit solch einem Vater kann man nicht aufkreuzen.

 

Dann fühlt er sich wirklich nichts wert. Dann hilft es ihm, das Bild vom Teil, das die Leviten im AT entwickelt haben: bei der Landverteilung sind sie leer ausgegangen, sie haben kein Erbe, keinen Erbsitz, keine Stimme unter den Vermögenden. Ihr Anteil ist der Dienst am Tempel. Das gibt ihnen ein Auskommen. Ihr Anteil sind die Güter, die sie im Glaubensleben erfahren. Ihr Teil, das ist, seine Sorgen auf Gott zu werfen. Ihre Freude ist, seinen Weg zu gehen.

 

Es sind wenige Texte in der Bibel, sie zeigen wie das Thema entfaltet wird. Erst ist es eine Ordnung für Priester und Leviten, später werden diese Güter spiritualisiert: Gott gibt nicht nur das Einkommen aus dem Tempeldienst (dass der Ochse vom Stroh fressen darf, das er drischt, wie Paulus sagt). Er gibt denen, die ihm dienen, was sie brauchen, in einem umfassenden Sinn. Zwar sind sie ausgesondert aus dem Volk, haben dadurch nicht weniger, aber anders. Alles soll dem Volke dienen, für das Wohl des Ganzen. Es ist keine Aufrechnung verschiedener Schicksale, keine Neid-Ordnung, keine Kompensation durch spirituelle Güter und geistlichen Hochmut. Es geht ums Reich Gottes, um Recht, Würde, Zuwendung – Güter, die denk- und lebensnotwendig sind.

 

Dennoch ist es ein besonderes Schicksal, auf Gott zu hoffen und andere Mittel weg zu lassen. Der Weg führt durch das Dunkel (wie jeder Weg), aber er führt ans Ziel. Darum wird das Thema auch in der eschatologischen Heilsprophetie wieder aufgenommen: Das Minus an Schande und Blossstellung, das sie ertragen haben, wird ausgeglichen, wenn sie sich des Evangeliums nicht schämten und abfielen. Es gibt ein Plus in einem doppelten Anteil am Ende, wie bei Hiob. Daran interessiert nicht die Buchhaltung des Anteilhabens, nur das Wahrnehmen: da ist einer blossgestellt worden, auch das wird geheilt. Darum ist jetzt schon Trost und Freude in Gott. Das hilft zur Hingabe, wie es im Endbild aufgenommen wird von der heiligen Hochzeit, dem endgültigen Liebesbund in Gott.

 

Aus Ps 16: Das schöne Erbteil

„Ich habe den Herrn beständig vor Augen.

Er steht mir zur Rechten, ich wanke nicht.

Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Seele;

Auch mein Leib wird wohnen in Sicherheit.

Du zeigst mir den Pfad zum Leben.

Vor deinem Angesicht herrscht Freude in Fülle,

zu deiner Rechten Wonne für alle Zeit.“

 

3.11.2007

 

Vom Auftauchen goldener Gefässe

Was innen ist, wirkt nach aussen. Wertschätzung ist eine Kraft, die alles durchdringt, wo sie festgehalten wird, wo die Flinte nicht ins Korn geworfen wird. Wertschätzung reinigt gewissermassen den Altar, von dem die Makkabäer berichten. Wo die Besatzer ihren „Gräuel“ aufgestellt haben, findet das Heilige wieder seinen Platz. So stellen sich für die Empfindung „goldene Gefässe“ ein, die das Wertgeschätzte aufnehmen. So kann es nicht nur im Innern leuchten, sondern auch zum andern weitergehen. Damals hatte ich zwei Träume, die mir Bilder gaben

 

„Ich drehe eine Runde um das Haus. Es ist schön, in der Sonne zu gehen. Das Licht fällt golden auf die Wege. Ich wechsle die Seite, will im Licht gehen. Wie Rauch steigen kleine Nebelschwaden aus dem Bach auf und leuchten in der Sonne. Der Winter hatte schon erste Vorboten geschickt, es schneite bis zu uns hinunter. Jetzt ist noch einmal die Herbststimmung zurückgekehrt. Es sind letzte Tage. Man muss jeden Blick geniessen. Die Büsche stehen fast ohne Blätter, die Herbststürme haben sie leergefegt. Die letzten Blätter sind aufgehängt wie Lampions und strahlen in der Sonne. Alles ist freundlich in diesem Licht. Niemand kann traurig sein. Alles wird gut. Als ob das Licht eine Botschaft hätte, vom Leben.

 

Ich will es auch in mir aufleuchten lassen. Gestern im Gottesdienst in der Aussengemeinde ist es gelungen. Ich konnte den Kreis um die Gemeinde ziehen, uns „in die Mitte stellen“, in das Licht, das von dort ausgeht. In unserer Gemeinde ging es nicht. Die Leute sassen weit weg, ich konnte nicht auf sie zugehen, ich sah sie nicht. Alle paar Minuten knallte eine der vier Türen, weil der Sturm um das Haus zog (bis ich mitten in der Predigt hinunterging und die Tür abschloss – wo war der Sigrist?). Ich konnte die Brücke zu den Menschen nicht überschreiten, ich hatte das Gefühl, ich stünde in einem Durchgangsbahnhof und der Wind pfiffe mir um die Ohren.

 

Eine Methode, um sich auf etwas vorzubereiten, um das Innere nach aussen ausstrahlen zu lassen, um das wirksam werden zu lassen, das schon da ist, ist visualisieren. Sich auf das richtige Ziel besinnen: es vorstellen, innerlich hindurchgehen, wieder und wieder.

 

Die Quelle, zu der wir gehen.

Vieles ist bei mir innerlich schon da. Vieles möchte jetzt aussen leben, aber es stösst noch auf alte Hindernisse. Die Zeit von Advent und Weihnachten ist streng. Aber ich mache es gern, mit innerer Zustimmung. Oft, wenn ich freihabe, sitze ich hin. Es ist mir ein Bedürfnis, die Bibel hervor zu nehmen. Es ist wie wenn ein goldenes Licht von ihr ausgeht. Ich werde ruhig. Ich finde mich ein. Eine Empfindung von Frieden, Kostbarkeit und Schönheit. Selbst die Propheten, ihre Gerichtsansagen, strahlen jetzt in diesem Licht. Ich habe es früher nicht ertragen.

Auch die Arbeit mache ich gern, und ich mache es mir nicht bequem. Ich gehe, bis ich auf Grund stosse. Oft stehe ich vor dem Morgen auf oder sitze nachts noch ein paar Stunden hin.

 

Traum vor dem Aufstehen: Ein junges Mädchen tanzt, ein junger Mann sitzt unter den Zuschauern. Sie tanzt einen Tanz aus der Heimat, wo er herkommt. Da ist jeder Schritt gebunden, jede Bewegung der Hand vertraut aus der Welt der Kindheit.

So „trifft“ sie ihn ganz. Er ist gebannt in Schönheit. Er wird ruhig, bleibt stehen. Das Suchen hört auf. Seine Bewegungen werden still.

 

Er lebt nicht mehr im Land seiner Kindheit, die Szene spielt im Ausland und er ist erwachsen. Da ist viel Hektik, eine unruhige Betriebsamkeit. Aber dieser Anblick trifft ihn im Innersten. Die Bewegung einer Hand hat gereicht – er schaut auf. Und er erkennt es wieder!

 

Ich erinnere mich noch, dass mir beim Aufwachen durch den Kopf ging: es ist wie Schlüssel und Schloss! Was ist es, was so aufgeschlossen wird? Eine Botschaft geht hinüber. Der Angesprochene wird in der Mitte getroffen. Weil beide in die Mitte gehen. Nicht in das, was als Interesse beim andern vermutet wird, sondern das, was wir in uns selber schon wissen: die Mitte, zu der wir selber einen Zugang haben. (Die Kirchgemeinde will sich derweil mehr auf die „Nachfrage“ fokussieren.)

 

Zweiter Traum

Ich will Früchte aufeinanderlegen. Einige sind schon da. Andere kommen dazu. Aber sie rutschen herunter. (Es sind zu viele, sie haben keinen Platz.) Ich nehme die goldene Schale, die plötzlich da ist. Ich tue sie hinein. So geht es.

 

Vor dem Einschlafen dachte ich an die Gottesdienste. Ich will auch den Raum vorbereiten, die Stimmung, das Licht, die Wärme. Der Traum sagt, es ist noch mehr und anders: Ich darf wertschätzen, was da ist. Auch wenn andere vielleicht denken: was der macht, für das lohnt es sich nicht. Ich weiss, wie teuer es ist. Ich weiss es schon lange. Aber ich habe mich damit abgefunden, dass andere es nicht sehen, wie im Märchen, wo einer aus seiner Lebensreise Gold nach Hause bringt. Und die andern sehen nur Dreck und Lehm.

 

Ich darf es angehen wie ein katholischer Priester, in goldenen Gefässen bewahrt er es auf. In goldenen Gefässen trägt er es auf den Tisch. In goldenen Gefässen steht es der Gemeinde vor Augen. In goldenen Gefässen hat er es vorher schon in sich getragen. Goldene Gefässe stehen bei den Menschen bereit, um es aufzunehmen. Wenn sie die Frucht nur sehen, so taucht auch das Gefäss dazu auf – plötzlich, ohne dass man davon wusste, wie in meinem Traum.

 

Ich darf es wertschätzen, auch wenn es erst bei mir ist. Ich darf es wertschätzen – so sehr, dass ich ihm auch einen Platz gebe. Dass ich glaube und vertraue, dass die Menschen das Gefäss in sich tragen, oder doch, dass es sich einstellt, wenn ich die Frucht zeige. Die Gottesdienste und alles was ich mache: so gestalten, als ob da goldene Messbecher wären und silberne Schalen.

 

12.11.2007

 

Rückkehr

 

Sie kehren an den Ort der Niederlage zurück und bauen den Tempel wieder auf.

Eine historiographische „Geschichte“ im Stil des 19. Jh. wird sich aus diesen Büchern vielleicht nicht rekonstruieren lassen. Es ist zu viel Gestaltungswille, Komposition und Mythopoesie darin. Aber genau das interessiert mich. Nicht das distanzierte „es gibt/es hat“ einer Betrachtung vom Schreibtisch aus, sondern die Frage eines Menschen, der übriggeblieben ist, der zurückkehren will, der die alten Heiligtümer nicht mehr findet – es ist alles Asche und Ruinen – und der sie wieder aufbauen will.

 

Es ist eine innere Stadt, aber wenn sie dort Gestalt annimmt, kann sie auch im Äusseren Wirklichkeit werden. Das eben erzählen die Bücher Esra und Nehemia. Es sind Zeugnisse einer Kultur, die Leid in grossem Ausmass erfahren hat, die aber auch an ihrer Hoffnung festhält und an den Zusagen ihres Glaubens.

 

Die Spiritualisierung hilft über eine schwere Zeit hinweg, verlangt aber eine neue Verkörperung. Im frommen Nacherleben der Bibel gibt es darum nicht nur ein Exil, sondern auch eine «zweite Landnahme», damit es sinnlich fühlbar werde. Die goldenen Gefässe der Wertschätzung helfen auf diesem Weg. Er führt zu neuer Integration ins soziale Leben. So lässt sich der Bericht von Esra und Nehemia, wie die Exilanten ins Land zurückkamen, mit persönlicher Anteilnahme lesen. Im geloben Land soll es verkörpert werden, was der Glaube sucht.

 

Verkörperung hat mit Körper zu tun. «Im Exil sein» hat oft die Bedeutung angenommen, «nicht im Körper» zu sein. Es ist eine frühkindlich gelernte Reaktion auf Verletzungen. Landnahme beginnt darum nicht in der Geographie, sondern im eigenen Körper. Das Vertrauen, von dem der Glaube spricht, muss erst wieder gelernt werden gegen die Erfahrungen, die in Körper-Erinnerungen abgespeichert sind.

 

 

Den sichtbaren Tempel bauen

Am Morgen, vor Tag, hörte ich einen Text aus der Bibel. Das Buch Nehemia steht etwas am Rand der Bibel. Aber es hat mich immer wieder angesprochen. Es ist eine existentielle Situation: das Volk kommt aus der Verbannung in die Heimat zurück. Es wird angefeindet, sucht sich eine neue Existenz, baut Tempel und Stadt wieder auf.

 

Ich habe es immer gelesen vor dem Hintergrund der Frage, wer die Ruinen des Christentums wieder aufbaut, diesen Tempel des Glaubens, diese Stadt Jerusalem, die in die Kultur hinauswirkt.

 

Heute Morgen gab es einen dieser vielen Geschlechter-Kataloge, die sich im Ersten Testament oft finden, gerade in später Zeit. Eine lange Liste von Namen, die aus Babylon nach Juda zurückgekehrt sind. Eine lange Liste von Personen, die beim Wiederaufbau der Stadtmauern geholfen haben. Darin, ganz vereinzelt, ein Satz, darum ist er besonders herausgestochen: „Die Vornehmen beugten ihren Nacken nicht um Gott zu dienen.“

 

Grössenwahn
Kann ein Gläubiger heute so ehrgeizig sein, von Gott erzählen zu wollen? Kann einer dem Trend zur Vergleichgültigung widerstehen, sich selbst stilisieren, als ob er da eine Rolle spielen könnte? Wenn ich so ehrgeizig sein dürfte, würde ich sagen, dass es mich freut, wenn etwas in Gang kommt, wenn Menschen sich finden, die von Gott erzählen wollen. So, dass es gehört werden kann, so, dass andere Menschen neugierig werden. So, dass sie sich in den Schilderungen wiedererkennen. So dass auch sie diesen Weg gehen wollen.

 

Da passt diese Anekdote hinein:

Als das alte Volk Israel nach Babylon verschleppt war, als Stadt und Tempel dem Erdboden gleichgemacht waren, da lebte unter den Verschleppten am Hof in Persien auch ein Mundschenk, Nehemia.

 

Der Mundschenk
Dem liess es keine Ruhe, dass seine Heimat am Boden zerstört sein sollte, dass das Allerheiligste, an das er glaubte, der Verachtung preisgegeben sein sollte, dass alle Vorbeigehenden darauf spuckten und die dort Zurückgebliebenen verhöhnten. Als der König ihn fragte, warum er so bedrückt sei, erzählte er davon und erbat sich die Erlaubnis, nach Juda zurückkehren und die Stadt wieder aufbauen zu dürfen.

 

Uns ist er bekannt als Statthalter, als Fürst, als Person der Geschichte. Damals war er einfach Mundschenk. Das erinnert an den Mundschenken und den Bäcker im Verlies in Ägypten, an Joseph, der als Sklave dorthin verkauft worden war und der doch zum Wesir aufgestiegen ist. Wieso soll ein Mundschenk oder Bäcker nicht auch so denken können? Haben sie nicht auch ihr Allerheiligstes? Schmerzt es sie etwa nicht, wenn darauf gespuckt wird?

 

Rückkehr an den Ort der Niederlage
So kehrt er nach Juda zurück und lässt sich vom König noch ein Schreiben mitgeben für den Förster, dass der ihm das nötige Holz für die Tore und für sein eigenes Haus geben wird. So geht er mit der Unterstützung des Königs, weil Gott ihm gnädig war, wie das Buch Nehemia diese beiden Hilfen unterscheidet: Gott und König. Und dieser Segen hat all die Personen zusammengeführt. Es war ein grosses gemeinsames Werk, aber Nehemia hat daran geglaubt und einen Anstoss gegeben, nachdem der Wiederaufbau nach Esra eingeschlafen war.

 

Das ist die Geschichte von Nehemia, einem Mundschenken in Persien, der sich Sorgen macht, weil Jerusalem in Schutt und Asche liegt. Und er geht hin. Er findet die Hilfe der Zurückgebliebenen, auch wenn die Anrainer das mit Misstrauen verfolgen. Sie wollen nicht, dass in ihrer Mitte einer gross wird. Sie wollen nicht, dass das alte Jerusalem aufersteht. Sie wollen ihre Position behaupten und keinen andern neben sich aufkommen lassen.

 

Helfer stellen sich ein
Aber Nehemia findet die Hilfe der Zurückgebliebenen. Alle helfen. Und mitten in der langen Litanei von Namen, die man beim Lesen oft überspringt, die man beim Hören aber über sich ergehen lassen muss (und es hat etwas Feierliches und Rituelles, wie die langen Register verlesen werden, als ob ihre Namen auf eine Säule gemeisselt würden, zum Dank für ihre Hilfe). Und mitten drin taucht der Satz auf: „Die Vornehmen beugten ihren Nacken nicht um Gott zu dienen.“

 

Ja, jeder kann sich verhalten wie er will. Da sind viele, die helfen wollen. Die nicht helfen, die stossen die Gelegenheit von sich, für Gott etwas zu tun. Nein: für ihren Glauben etwas zu tun. Für das, was ihnen wert und heilig ist, etwas zu tun. Für sich selbst und das, was ihre Identität im Innersten ausmacht, etwas zu tun.

 

Ankunft
Einige Tage später träumte ich: Christus kommt zurück. Die einen zweifeln. Kann man das denn erkennen? (Die erste Ankunft geschah im Verborgenen und in Armut.) Die andern freuen sich und bereiten sich vor. Sie stellen die Häuser instand und ziehen schöne Kleider an.

 

Aus Notizen 2016

 

 

Esra und Nehemia

Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, höre ich You Tube, in dieser Zeit meist aus der Bibel. Jetzt wieder aus den Psalmen oder Nehemia. Das passt zu meiner Situation des Neuanfangs: wie die Übriggebliebenen in das Land zurückkehren. Jerusalem liegt in Trümmern und Asche, sie bauen es wieder auf.

 

Wenn ich Esra und Nehemia hintereinander höre, fallen die Widersprüche auf. Zuerst scheint mir Nehemia der zuverlässigere zu sein, schon wegen seines sachlichen, erzählenden Tones, Esra ist „eben ein Prophet“. Auf der anderen Seite gleicht das Buch Nehemia manchmal eher einer Novelle, die in Anlehnung an Daniel komponiert wurde: da ist die Stellung am Königshof, eine ähnliche Sprache etc.

 

Die Autoritätspersonen, die nach Juda zurückkehren und den Wiederaufbau voranbringen, heissen bei Esra anders. Man wartet immer, dass er was von Nehemia erzählen würde. Er kennt ihn offenbar nicht. Auf der andern Seite kennt Nehemia Esra. Bei diesem Prophetenbuch gibt es offenbar alte Teile, die zuerst waren…

 

Ellenlange Listen von Rückkehrern haben beide. Ich habe sie nicht verglichen, beim Hören im Tagesabstand scheinen sie verschieden zu sein. Aber wenn ich es höre, geht es mir nicht um historische Genauigkeit. Das war wohl in keinem der beiden Bücher bezweckt. Es freut mich einfach, dass „alle“ dabei sind. Da ist einfach die Freude über die Menschen, die mitkommen, die mithelfen, die am Anfang der neuen Stadt sind!

 

Mein Leseinteresse

Die Kommentare zu den Esra- und Nehemia-Büchern zeigen die komplizierte Textgeschichte und versuchen, sie in eine Ordnung zu bringen. Es sind Hypothesen. In ein paar Jahren gibt es neue. Eine historiographische „Geschichte“ im Stil des 19. Jh. wird sich daraus vielleicht nicht rekonstruieren lassen. Es ist zu viel Gestaltungswille, Komposition und Mythopoesie darin. (Dazu gehören schon die Namen der Helden: «Die Geschichtsdarstellung wird demnach auf die zwei Personen Esra (aram: „Hilfe“) und Nehemia (hb. „JHWH hat getröstet“) konzentriert», heisst es in einem Kommentar.)

 

Mythopoesie

Aber genau das interessiert mich. Nicht das distanzierte „es gibt/es hat“ einer Betrachtung vom Schreibtisch aus, sondern die Frage eines Menschen, der übriggeblieben ist, der zurückkehren will, der die alten Heiligtümer nicht mehr findet – es ist alles Asche und Ruinen – und der sie wieder aufbauen will.

Da sind immer wieder Rückfälle in alte Verhaltensweisen, sprich Überfälle der alten Feinde, die nicht Ruhe geben. Man muss sich vorsehen, tags und nachts und Kelle und Spiess nebeneinander bei sich haben. „Mit der einen Hand heilten wir die Waffe, mit der andern bauten wir an der Mauer.“…

 

Es ist eine teilnehmende Betrachtung, wie Leser der Bibel es schon immer gehalten haben. Sie unterstellen, dass der Text auch ihnen etwas zu sagen hat, dass er Gültigkeit hat auch für sie in ihrer Situation. Und dass es dabei um Glauben geht, um das Vertrauen, mit dem sie andern Menschen begegnen. Es geht darum, ob sie trotz ihrer Verletzungen und trotz all der Anfälle von Resignation oder gar Verbitterung ihre Hoffnung noch einmal „aufmachen“ können, vorwärts gehen, in Richtung Integration: in sich, vor Gott, vor den Menschen. Es geht um Heil im individuellen und kollektiven Massstab, um Gesundheit und Frieden.

 

Diese Lektüre kümmert sich wenig um das, was vor 2000-3000 Jahren geschehen ist, aber viel um die Frage, wie der Tempel heute gebaut werden kann. Wie „Jerusalem“, die Braut, die Gott vor sich hinstellt und wo er mit den Menschen wohnen will, wie diese Stadt als Erfüllungs-Gestalt aller menschlichen Hoffnungen heute Wirklichkeit werden kann.

 

Es ist eine innere Stadt, aber wenn sie dort Gestalt annimmt, kann sie auch im Äusseren Wirklichkeit werden. Das eben erzählen die Bücher Esra und Nehemia. Es sind Zeugnisse einer Kultur, die Leid in grossem Ausmass erfahren hat, die aber auch an ihrer Hoffnung festhält und an den Zusagen ihres Glaubens.

 

Der innere Altar

Es ist die Frage, wie anstelle des „Gräuels“, der auf unserem Altar sitzt, wieder das Heilige in der Mitte wohnen kann; wie man anstelle des „Loches“, das man in den Flashbacks von traumatischen Erfahrungen vor sich sieht, das Heilige wieder findet. Wie man dem Moloch (mäläk, König), dem man unbewusst in seinem Leben dient, wieder einen König wählt, der nicht klein macht, der seine Anbeter nicht in Scham und Schande stürzt, weil sie in seinem Dienst ihr Leben verfehlen. – Sie ahnen es und können es nicht ändern, denn es ist stärker als sie.

 

Diese Herrschaftswechsel geschehen nicht mit Gewalt, nicht mit Kraft, nicht durch Kämpfen. Sie geschehen in der Stille, indem man allmählich lernt, die „innerpsychische Widmung“ des eigenen Tuns zu ändern. Indem man würdigt, was man eingesehen hat und ihm dient. Indem man dem folgt, was man selbst als richtig begriffen hat und nicht mehr davon abgeht, wenn ein anderer pfeift. Indem man heilig hält, was heilig ist und nicht zu den Spöttern überläuft, die am Rande sitzen und Hohn und Spott auf alles giessen, was sie nicht verstehen. Es ist der Weg, dem ich den Titel „der innere Altar“ gegeben habe.

 

  1. Januar 2019

 

 

Mit dem Knie glauben

Kann man mit dem Knie glauben? – Die Frage scheint absurd. Umgekehrt ist es aber so, dass der Unglaube durchaus im Körper sitzt. Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren sagt man, oder die Angst sitzt mir im Nacken. Das Herz setzt aus, die Glieder sind wie gelähmt.

 

Nicht glauben können, die Unfähigkeit zum Vertrauen, die Verzweiflung – das sitzt auch im Körper, in den Muskeln, die verspannt sind, im Atem, der stockt, das sitzt in den Knochen. Und von dort her prägt es immer wieder unsere Gefühle und unser Verhalten. So stellt sich wirklich die Frage: Kann ich mit dem Knie glauben lernen? Kann ich dem Nacken das Evangelium verkünden, dass die Angst dort loslässt?

 

Der Körper speichert Erfahrungen aus der Lebensgeschichte. Und er speichert auch die Reaktionen, die wir in bestimmten Momenten gefunden haben. So muss nur eine bestimmte Frage an uns herantreten, eine bestimmte Situation, und schon spulen diese Reaktionsmechanismen ab. Und wir selber kommen zu spät, wenn wir bewusst darauf reagieren wollen.

 

Das beginnt schon am morgen früh, wenn wir aufwachen. Im Kopf haben wir vielleicht schon lange zum Glauben gefunden, aber der Körper speichert noch die alten Erfahrungen. Und bevor wir bewusst den Tag anfangen, mit Bibellektüre, oder was zu unserem persönlichen spirituellen Leben gehört, steigen die alten Gefühle schon aus dem Körper auf und bestimmen die Haltung, wie wir in den Tag gehen.

Diese Gefühle sind von Mensch zu Mensch verschieden. Ein glücklicher Mensch wird mit Gefühlen der Bejahung aufwachen. Es gibt andere, die so etwas wie ein „Nein“ in sich tragen. Sie fühlen sich schon abgelehnt, bevor sie den Tag beginnen und dem ersten Menschen begegnen.

 

Darum ist das auch ein sehr persönliches Thema: „Körper und Spiritualität“. Denn konkret wird es erst, wenn man sich der Realität seines Lebens stellt. Der Körper trägt in sich eine Erinnerung an die ganze Lebensgeschichte. Er erinnert uns mit seinen Empfindungen daran. Er mahnt uns damit auf eine unaufdringliche aber doch hartnäckige Art, unser Leben durchzuarbeiten. Denn wenn wir es nicht tun, stolpern wir immer wieder über die gleichen Erfahrungen. Es ist wie im Dunkeln durch einen Keller gehen: wenn man den Keller nicht aufgeräumt hat, stösst man sich bei jedem Schritt.

 

Den Keller aufräumen, das Leben durcharbeiten – man könnte auch sagen: missionieren. Zwar ist unsre Landesgegend in der späten Antike durch das Christentum missioniert worden, aber manchmal denke ich, das Christentum ist noch nicht ganz bis zu mir gekommen. Mit dem Kopf habe ich es schon aufgenommen. Aber mit dem Körper noch nicht. Und es entsteht das Bild einer Mission, die auch durch den Körper geht. Damit ich später auch mit dem Knie glauben kann; und der Nacken mir nicht immer wieder Streiche spielt. Dass der Körper mit seinen Erfahrungen mich unterstützt im Glauben, statt mich immer wieder auf andere Bahnen zu bringen.

 

„Christus kam nur bis Eboli“, so heisst ein Buch, das beschreibt, wie das Evangelium nach Italien kam, aber es hat noch nicht alle Provinzen erlöst, so dass die Menschen dort immer noch in Dunkelheit und Verzweiflung leben. Auch bei mir gibt es noch heidnische Gebiete. Mit dem Kopf habe ich schon vom Evangelium gehört. Aber mit dem Knie bin ich noch ein Heide.

 

Aus Notizen 2008

 

 

Segen und Fluch

 

Leute, die die Bibel lesen, schlagen in dieser Krisenzeit die Prophetenbücher auf. Hier finden sie Bilder, die zur Intensität ihrer Gefühle passen. Sie wollen sich nicht mehr belügen. Vieles ist ausser Kontrolle geraten. Dort ist der Mut, den Katastrophen ins Gesicht zu sehen, die man kommen fühlt.

 

Er liest den Text, fasziniert und erschreckt in einem. Er geht auf diesen Text zu, als ob darin das Urteil über die Welt zu finden wäre, über ihn, seine Hoffnungen und Befürchtungen im Leben. Und über das, was er für Kinder erwarten darf.

 

Eine solche Vergebung kann Feindschaft beenden und Frieden schaffen. Sie hat Macht über die Vergangenheit. Sie ändert sie, indem sie die Fehler nicht mehr aufrechnet. Sie hat Macht über die Zukunft. Wo alles durch Schuld und Schuldgefühl verstellt schien, öffnet sie neue Wege.

 

Ich will Gott einen Tempel bauen, denkt David. Ich baue dir ein Haus, sagt Gott.

 

 

Wiedereinsetzung ins Leben

Tagebuch, 8. Februar 2006

Am Morgen vor dem Aufstehen habe ich auf einen Notizzettel notiert: „zwei Dinge“. Ob ich das jetzt am Abend noch zusammenbringe, was ich damit meinte? Das erste war das Gebet. Ich habe all das, was mich plagt, Gott übergeben. Das zweite war etwas Neues, es ging nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit:

 

Durch Schmutz und Bloss-Stellung

An den Rand des Notizzettels schrieb ich: „Berufung“. Es war ein Weg durch Schmutz und Bloss-Stellung, ohne die Weihe des Berufenen, sondern mit dem Bewusstsein der Verworfenheit. Und erst das hinterher gesprochene Wort gibt ihm Wert. Jetzt, nachträglich, anerkennt Gott diesen Weg, und er segnet ihn. Ich habe dich geführt, sagt er, es war nicht Abfall und Schande. Ich habe dich bereitet, es ist nicht Unwert und Unmensch.

 

Er setzt mich wieder ein in mein Menschenleben, damit ich handeln kann wie ein Mensch und reden wie ein Mensch. Damit ich wieder meinem Denken trauen kann und meinem Fühlen. Dass ich meine Impulse nicht verwerfen muss und allem, was ich richtig finde, nicht misstrauen.

 

Hätte es einen anderen Weg gegeben?

War denn das Frühere umsonst? Hätte ich das nicht auch als jener Mensch tun können, der ich schon war? Musste ich so geknickt werden? Das weiss nur Gott.

Er jedenfalls sagt: Ich habe dich geführt. Ich habe dich bereitet.

 

„Ich segne deine Vergangenheit,

dass du, als der Mensch, der du bist,

den ich hierher geführt habe,

mit all deinem Denken und Fühlen,

jetzt gehen kannst

und auf deine Spontaneität vertrauen,

auf deine Intuition und deine Impulse –

ohne Scham.

Denn Ich habe dich bereitet und geführt!“

 

 

Der Fluch Mose

Leute, die die Bibel lesen, schlagen die Prophetenbücher auf. Hier finden sie Bilder, die zur Intensität ihrer Gefühle passen. Sie wollen sich nicht mehr belügen. Vieles ist ausser Kontrolle. Es schlägt auf uns zurück. Dort ist der Mut, den Katastrophen ins Gesicht zu sehen, die man kommen fühlt.

 

Die Prophetie ist ins Feuilleton abgewandert, nachdem man die Kirche diszipliniert hat, dass sie nur noch Rollenprosa von sich absondert. Bücher und Leitartikel malen die Katastrophe an die Wand, übernehmen die Rolle von Mahnern.

 

Tagebuch, 29. Juni 2011

Ich möchte die Unruhe der Zeit in einer Kolumne zur Sprache bringen. Halb ist man alarmiert, halb misstraut man sich selber und dem Alarmgefühl. Ich möchte das «unsichere Weltgefühl» aufgreifen, das ich bei den Menschen, in den Medien, beobachte. Da ist eine Angst vor der Krise – und gleichzeitig ein Verdrängen und Wegwischen: Ist ja nicht so schlimm. – Da ist der Wille zum Hinschauen, um die Angst zu bannen. Und dann doch ein Wegschauen: Ach was, das ist ja verquer. Der hat persönliche Probleme.

 

Der Staat, die Versicherungs-Branche und die Wissenschaft bereiten sich vor. Aber man richtet sich ein in der Rolle eines Bürgers und Konsumenten: Mich geht das gar nichts an. Die sollen es richten. Man will das gewohnte Lebensgefühl nicht fahren lassen: Jetzt kommt die schönste Jahreszeit, der Sommer, die Ferien. Da will man alles vergessen und geniessen. Für die Ferienzeit bin ich nicht da, ich lese keine Zeitung.

 

Die Kirche hat sich vorbereitet wie Staat und Zivilschutz, sie hat eine Notfall-Seelsorge aufgebaut. Ausserdem erscheinen vermehrt Bücher zu Themen wie «zorniger Gott», «dunkler Gott». Man möchte in seinem Glauben vorbereitet sein, um auch dunkle Erfahrung verarbeiten zu können.

 

Leute, die die Bibel lesen, schlagen die Prophetenbücher auf. Hier finden sie Bilder, die zur Intensität ihrer Gefühle passen. Sie wollen sich nicht mehr belügen, es läuft doch schief. Vieles ist ausser Kontrolle. Es schlägt auf uns zurück. Dort ist der Mut, den Katastrophen ins Gesicht zu sehen, die man kommen fühlt.

 

Das ist unerträglich, dieses dauernde Warten auf die Katastrophe und nichts tun zu können. Es schlägt immer bei den andern zu:

 

Die Geschichte vom Fluch

Idee zu einer Geschichte nach der chassidischen Erzählung von jenem Mann, der im Gottesdienst den Fluch aus der Thora vorlesen soll. Ein Schauspieler spricht die ganze Bibel auf Tonträger auf. Nach der Vorbesprechung mit Redaktion und Technik ist er allein mit einem Tontechniker in Studio. Es sind viele Sitzungen. Er ist allein mit dem Mikrophon, mit sich und mit dem Text. Er ist einsam vor diesem Text.

 

Er hat Angst vor dem Fluch Mose (Dtn 28,15ff). Je näher er der Stelle kommt, desto schlimmer. Er sieht vieles von seiner Zeit in diesem Text. Er will nichts davon wissen, ist aber dann doch wieder seltsam angezogen:

 

Hier fühlt er sich nicht belogen, er kann endlich mal der Angst ins Auge sehen, statt immer zu beschwichtigen. Er kann schauen, was wird, wenn es kommt.

 

Er liest den Text Tag für Tag, fasziniert und erschreckt in einem. Er geht auf diesen Text zu, also ob darin das Urteil über die Welt zu finden wäre, über ihn, seine Hoffnungen und Befürchtungen im Leben. Und über das, was er für Kinder erwarten darf.

 

Endlich ist der Tag da. Er liest, er meint erst, der Schlag müsse ihn treffen. Aber es geht. Die Stelle kommt, auch jene, die das Unaussprechliche androht. Aber er kann es lesen. Und indem er es ausspricht fällt eine ungeheure Not von ihm ab. Er hat der Angst ins Gesicht geschaut. –

 

Andere haben das schon erlebt. Es gibt einen Weg hindurch, es ist nicht einfach das Undenkbare, vor dem alles verschwindet und ein grosses schwarzes Loch ihn verschlingt. …

 

UNAUSSPRECHLICH!

«Je näher er dieser Stelle kommt, desto nervöser wird er. Er findet vieles aus seiner Zeit in diesem Text, darum fühlte er sich erst so angezogen. Und er hat eingewilligt, ihn zu lesen. Da ist das Gefühl, in eine falsche Richtung zu gehen. Da ist das Hin und Her: Soll man sich ängstigen, soll man es beschwichtigen? Da sind die Meldungen von fernen Katastrophen. Aber hat das Folgen bis zu uns? Die einen warnen und machen grossen Wirbel. Aber der Sommer steht an und die Ferien. Es wird wohl nicht so schlimm kommen, wie die Miesmacher sagen. Seit mehreren Wochen liest er jetzt diesen Text. Es wird eine Hörbibel. Alle Texte werden auf Tonträger gesprochen. Anfangs ging es ganz flott.

 

Aber seit einiger Zeit spürt er eine Unruhe. Es geht nicht mehr lange, da kommt jene Stelle, die er sich bei der ersten Lektüre angestrichen hat. Der Fluch des Moses. „Du wirst tappen am Mittag, wie ein Blinder im Dunkeln tappt.“ „Der Himmel, der über deinem Haupt ist, wird ehern werden und die Erde unter dir eisern.“ Über viele Verse geht es. Was die Angst sich nur ausmalen kann. Was ein Volk in seinen schlimmsten Zeiten erlebt hat. Diese Stelle macht ihm Angst, dann aber zieht sie ihn auch wieder an. Hier wird nichts beschwichtigt, hier kann er endlich dem ins Auge sehen, was ihn beunruhigt.

 

So liest er Tag um Tag, fasziniert und erschreckt in einem. Er geht auf diesen Text zu, als ob darin das Urteil zu finden wäre über die Welt, über ihn und seine Hoffnungen. Und über das, was er für seine Kinder erwarten darf. Er liest, und endlich ist der Tag da. Er meint erst, der Schlag müsse ihn treffen. Aber es geht. Die Stelle kommt, auch jene, die das Unaussprechliche androht. Aber er kann es lesen.

 

Und indem er es ausspricht fällt eine ungeheure Not von ihm ab. Er hat der Angst ins Gesicht gesehen. Andere haben das schon erlebt. Es gibt einen Weg hindurch, es ist nicht einfach das Undenkbare, vor dem alles verschwindet, als ob ein grosses schwarzes Loch ihn und alles verschlänge. Er begreift: Ich war falsch ausgerichtet, ob mit oder ohne Schuld. So ging es in die falsche Richtung. Die Korrektur musste kommen. Es tut gut, diesen Text zu lesen. Er stellt Bilder zur Verfügung. Es ist nicht mehr das Undenkbare, bei der die Seele und die Welt aus den Fugen geraten.

 

In der letzten Zeit war eine Angst in ihm gewachsen: vor einem dunklen Gott. Das war nicht mehr der Gott, den die Seele kennt. Wo er vertrauensvoll Zwiesprache halten kann, sich getragen weiss. Sondern ein Gott, der Unbekanntes plant, Unaussprechliches, das in seiner Phantasie aufstieg wie ein dunkles Gewitter.

 

Jetzt hat er es ausgesprochen. Der alte Text hat ihm Worte gegeben. Und eine tiefe Ruhe ergreift ihn. Es gibt Worte dafür. Es fällt nicht mehr aus der Wirklichkeit heraus. Es gehört dazu. Gott hat es in der Hand.

 

Der dunkle Gott ist auch der helle Gott. Er tötet und macht lebendig. So schafft er das Leben. „Gesegnet wirst du sein bei deinem Eingang und gesegnet bei deinem Ausgang“, sagt Moses.»

  1. Juni 2011

 

 

Sie ändert die Vergangenheit

Tagebuch, 22. August 2006

Unscheinbar ist sie, grosse Kraft hat sie: Vergebung. Sie hilft, Verletzungen zu heilen, Störungen im Leben aufzuheben. Wenn Menschen etwas falsch gemacht haben, können sie es nicht ungeschehen machen. Aber sie können ihre Fehler eingestehen, sehen, dass Recht geschieht und Vergebung finden. Wenn Menschen Unrecht erlebt haben, fällt es ihnen nicht leicht, zu vergeben. Vergebung ist ein langer Weg. Aber wo er gelingt, hat er grosse Kraft.

 

Eine solche Vergebung kann Feindschaft beenden und Frieden schaffen. Sie hat Macht über die Vergangenheit. Sie ändert sie, indem sie die Fehler nicht mehr aufrechnet.

Sie hat Macht über die Zukunft. Wo alles durch Schuld und Schuldgefühl verstellt schien, öffnet sie neue Wege. Sie kann sogar Kranke gesund machen. Sie versöhnt Konflikte, macht Energie frei, die gebunden war. Sie gibt Erlaubnis zum Leben.

 

 

Ich baue dir ein Haus

 

Tagebuch 14. September 2006

Das Alte Testament erzählt von König David. Klein hat er angefangen und ist gross und mächtig geworden. Mit einer Stein-Schleuder hat er den Riesen Goliath besiegt. Jetzt ist er König. Alle Feinde hat er besiegt. Er wohnte in einem Palast und denkt:

Ist das richtig, dass ich in einem Palast wohne und Gott in einem Zelt? Ich will Gott ein Haus bauen.

 

Aber nachts spricht Gott zu ihm im Traum: Du willst mir ein Haus bauen? Habe ich denn in einem Haus gewohnt, als ich Deine Vorfahren aus Ägypten befreite? Habe ich in einem Haus gewohnt, als ich sie durch Meer und Wüste führte? Und Du – hast du nicht Schafe gehütet, als ich dich zum König machte? Jetzt willst du mir ein Haus bauen? – Nein, ich baue dir ein Haus! Dir und deinem Volk, dass es in Frieden wohnen kann.

 

 

 

Fragen

 

Zwei der grössten historischen Traumata, die die Weltgeschichte beeinflusst haben, werden in der Bibel erinnert, mit all den Versuchen, damit umzugehen und den heilenden Kern darin freizulegen.

 

Jerusalem fällt, der Tempel wird zerstört, auch das Südreich Juda geht unter – im Gegensatz zu allen Verheissungen. Es geht ein Riss durch die Wirklichkeit, wie der Beter sie erfährt. Die geschichtliche Erfahrung und das Vertrauen auf Gott, fallen auseinander. Trotzdem lobt der Betende Gott. Er muss die Erfahrung festhalten. Und er will die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt.

 

Frieden ist nicht eine Aufgabe, der wir uns unterziehen müssten, aus Pflichtbewusstsein und mit saurem Schweiss, weil wir gute Christen sein wollen. Frieden ist das allererste Lebensbedürfnis, das wir haben. Und es ist eine Zusage an uns alle. Es ist möglich, den Bann der Vergangenheit zu brechen. Es ist möglich, frei zu werden. Es ist möglich, zum Frieden zu kommen mit sich und andern Menschen.

 

 

Die grossen Fragen

 

Rückblick auf das Jahr 2011

2011 – damals zeichnete sich die grossen Fragen ab, die heute die Menschen beschäftigen: Klimawandel und Artensterben. Als ebenso grosses Problem empfand ich den Abbruch der religiösen Tradition. 2000 Jahre lang wurde der Stab im Staffetenlauf der Generationen weitergegeben, erstmals sollte das jetzt abbrechen und das Christentum zum Spott und zum Schimpfnamen werden. Auch die ökologischen Fragen lassen sich als Traditionsabbrüche verstehen: Erstmals kann eine Generation ihre Umwelt nicht an die Kinder weiterreichen – auf eine Weise, die Leben erlaubt.

 

Als Vater möchte man die Kinder behüten. Aber man ist selber Teil dieser Welt. Man reproduziert, was sie ausmacht, und gibt weiter, was sie zerstört und uns kaputt macht.

 

Ist Gott in all dem nur Objekt? Ist er tot, wenn wir nicht mehr von ihm erzählen? Stirbt er mit der Tradition? Haben also all die Kritiker recht, die Religion als Kulturphänomen betrachten, als Projektion, als eine Vorstellung des Menschen, die mit ihm ausstirbt, so wie wir bei Baugruben vor den Artefakten der Pfahlbauer stehen und aus den Grabbeigaben erschliessen, dass sie so etwas wie eine Religion gehabt haben, ein fremdes Gebilde, zu dem wir keinen Zugang mehr haben?

 

Versagt unser Erzählen von Gott?

Die Menschen der Bibel haben dort nicht nur ihre Erfahrungen festgehalten, auch ihr Nachdenken findet sich dort, über eine lange Zeit. Der Prophet Jeremia lebte zur Zeit der grössten Herausforderung, als nach dem Nordreich auch das Südreich überfallen und ins Exil verschleppt wurde. Da blieb kein Stein übrig von der alten Herrlichkeit und kein Buchstabe schien noch zu gelten von den alten Verheissungen: auf eine Königsynastie, auf Leben in einem Land, auf Frieden und Wohlstand. Wenn er die Ereignisse darstellen wollte als von Gott gefügt, dann musste er immer Strafe ansagen. Kaum je gab es eine Verschnaufpause in der Kadenz der Unglücksfälle.

 

Vielleicht hat er sein Leiden an einer solchen Aufgabe selber überliefert, vielleicht sind es die Nachkommen, die seine Aufgabe reflektierten und die ihn bei all dem begleiteten mit Berichten und Klagepsalmen, in denen er seinem Leiden Luft macht.

So klagt er vor Gott, dass er immer nur Unglück ansagen muss. Er wird in die Isolation getrieben. Niemand hört auf ihn, er wird verspottet und verfolgt. Schliesslich verflucht er den Tag seiner Geburt – ein Kontrast zu seiner Berufung, wo Gott sagt, dass er ihn schon von Geburt an ausgesondert habe zu seinem Werk.

 

Und der starke Gott, nach dem ich mich sehne im Jahr 2011, weil ich nach einer Instanz suche, die den Problemen gewachsen ist, denn die Politik ist es offensichtlich nicht, der wird Jeremia bald all zu stark. «Herr, du bist mir zu stark geworden!» (Jer 20, 7f) Darin kann ich einstimmen, denn das kann auch 2011 nicht ein Machterweis sein, den ich mir ersehnen oder der irgendjemanden überzeugen könnte: dass er eine Flut schickt, ein Erdbeben, den GAU in Fukushima, dass die Welt ertrinkt in selbstgemachten Problemen. Nicht Tod und Zerstörung zeigen die Stärke Gottes, das können die Menschen schon allein.

 

Versagt etwa Gott in der Katastrophe der Welt?

Die Menschen, die die Bibel überliefern, begleiten Jeremia auf seinem Weg. Und aus der Frage nach dem Schicksal des Propheten wird eine Frage an Gott selbst: Kann er sich denn nicht durchsetzen auf der Welt? Ist sein Wort kraftlos? Lässt er die im Stich, die sein Wort ausrichten? Und wenn er Untergang und Zerstörung bringt – ist es das, was ihn ausmacht? Weiss er darüber hinaus nichts zu sagen? Ist er ein «zorniger Gott» und nichts darüber hinaus? Ist seine Gnade, sein Erbarmen, von dem die Tradition erzählt, ohnmächtig gegenüber seinem Zorn?

 

Das Neue Testament schliesst daran an. Gott schickt seine Propheten, heisst es im «Gleichnis von den bösen Weingärtnern», sie töten sie. Da schickt er seinen Sohn, sie bringen ihn um, damit sie den Weinberg allein besitzen. Darauf macht er alle nieder. – Ist das die Souveränität Gottes, zeigt sich so der starke Gott, der den Dingen gewachsen ist?

 

Ein Nachdenken, an dem das Leben hängt

Das Nachdenken in der Bibel bleibt dabei nicht stehen. Und es ist kein Nachdenken vom Schreibtisch aus, es ist ein Nachdenken, an dem das Leben hängt.

 

Die Frage nach dem Weg, den die Botschaft nimmt, das ist die Frage nach dem Weg Gottes selber. Welchen Weg nimmt er in der Welt? Kann er sie erlösen oder ist er ohnmächtig? Will er sie erlösen oder ist er gar kein Gott, sondern ein Dämon, der sein Spiel mit den Menschen treibt?

 

Oder thront er über all diesen Unterscheidungen, die menschliches Gutbefinden hervorbringt, ist er erhaben über Güte, Erbarmen und Vergebung und muss sich der Glaube, wenn er nicht ganz verloren gehen will, einrichten in einer erbarmungslosen Wirklichkeit, die – gemessen an den alten vertrauten Landschaften einer religiösen Geborgenheit – einer gottlosen Welt gleicht, in der Prinzipien herrschen, die vom Menschen mit seinem psychischen Apparat nicht verstanden werden können, allenfalls von einer kalten Vernunft, die nach der Katastrophe den Satz spricht: «Es musste so sein! Es konnte gar nicht anders kommen! Haben sie sich nicht selber ihr Grab gegraben?»

 

Diesen Weg von Vertrauen und Zweifel bin auch ich im Jahr 2011 gegangen. Ich bin kein Prophet, aber als Pfarrer musste ich jeden Tag vor Menschen hintreten und Antwort geben. Mein Tun ist nicht der Rede wert, aber das Evangelium war mir doch aufgetragen. Was ich denke, interessiert niemanden, aber es war doch die Grundlage, auf der ich die Botschaft ausrichtete, wie ich versuchte, am Glauben an Güte und Barmherzigkeit festzuhalten, aber auch an der Pflicht zu Recht und Gerechtigkeit. Und wie Jeremia wurde es mir bald zu viel, auch wenn ich mich in keiner Weise mit Jeremia vergleichen kann. Der gerechte Gott ist ein starker Gott, aber seine Gerichte sind furchtbar.

 

Der Fluch des Moses

Ein denkwürdiger Höhepunkt und Wendepunkt im Jahr 2011 ist der Text vom Fluch des Moses. Die Bibel schildert Mose wie einen Propheten, und die Erfahrung von Exil, Belagerung und Zerstörung wird ihm nachträglich als Mahnung in den Mund gelegt: Wenn ihr, die ihr jetzt im Begriff seid, in dieses Land einzuwandern, euch nach diesem Recht verhaltet, dann ruht Segen auf eurem Land, wenn ihr aber dagegen verstosst, dann wird euch dieser Fluch einholen.

 

Dieser Text hat wohl viel dazu beigetragen, den Ruf der Bibel, der biblischen Religion und des Alten Testamentes zu zerstören, weil hier ein finsterer, drohender Gott gezeigt wird. Aber die Geschichte lief umgekehrt. Er hat es nicht angedroht. Das ist das, was das Volk erlebte, und es wird dem Volk vorgetragen, als ob es eine Wahl hätte, sich so oder anders zu verhalten, das Schicksal so oder anders zu beeinflussen. Der Text gehört zu dem grossen, langen und schwierigen Prozess der Schuldübernahme, als das Volk sein Leiden annahm und Gott freisprach. Es hat erlitten, was es angerichtet hat. Es übernimmt die Verantwortung für seine Geschichte. Ich kann mich als Nachgeborener nur verneigen vor so viel Grösse.

 

Der Fluch und das Trauma

Im Jahr 2011 übte der Fluch des Moses eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus, als ob es der Pol wäre in der Nacht, der Fluchtpunkt, zu dem alles hinzustreben schien, das Schlimmst-Mögliche, das geschehen konnte. Hier konvergiert das Unglück des Volkes mit meinem privaten Trauma, hier wird die Lektüre aufgeladen mit den finstersten Erinnerungen meines eigenen Lebens. Und das weckt die Abwehrreflexe. Hier hört die Vernunft auf, die Geduld ist am Ende, hier setzen Verhaltensweisen ein, die in frühster Kindheit erworben wurden, die das Kind vor Gefahr schützen sollten: Verdrängen, Träumen, aus dem Körper fliehen, in Kontemplation und «Schönheit» ausweichen etc.

 

Politik in extremis

So geht es aber allen, die betroffen sind, jeder wird mit seiner Geschichte konfrontiert. Bei jedem wecken die Schrecknisse der Zeit andere Verhaltensweisen, denen er ohnmächtig gegenübersteht, denn sie sind noch kaum kultiviert, sie sind atavistisch, brechen aus einer Zeit hervor, als das «Ich» noch kaum gebildet war. Sie überfluten das Erleben der Menschen mit irrationalen Verhaltensweisen, die so auch Eingang ins soziale Verhalten finden und in die Politik. So kann man, wenn die Dichte der Probleme zunimmt, keine Steigerung der Vernunft erwarten.

 

Die Politik steigert ihre Mittel nicht, damit sie mit den Problemen auf einer Höhe bleibt. Sie verrennt sich, sie fällt herab, sie wird irrational. Sie folgt den Wegen, die dem Verhalten urtümlich eingeprägt und traumatisch eingeschärft wurden. Beim einen sind das Fliehen oder Totstellen, beim andern Kampf und Aggression. Man sammelt sich in Horden, grenzt sich ab in Hass und Projektion… (Diese Geschichte können uns Psychologen besser erzählen.)

 

Aussprechen des Namenlosen

Der Fluch des Moses verkörpert das Trauma dieser Volksgemeinschaft. Im Jahr 2011 folgte eine Katastrophe auf die andere. Ich fühle mich erinnert an die Kadenz der Prophetensprüche, wo der Verfluchte einer Falle entrinnt, nur, um bald darauf in die nächste zu fallen. Das sah ich auch in der Folge der Ereignisse, wenn ein Erdbeben einen Tsunami auslöst und dieser einen Super-Gau, worauf das Land und das Wasser auf Generationen radioaktiv verseucht sind. Alles schien in immer schnellerer Kadenz dem dunklen Höhepunkt zuzusteuern.

 

Ich schrieb eine Kolumne dazu, ich wollte es mit andern teilen. Ich nahm eine Geschichte als Vorbild, wo ein Jude in der Synagoge den Fluch des Moses lesen soll. Und je näher der Tag rückt, desto mehr versinkt er in Angst. Bis der Tag kommt. Und es wirkt befreiend. Das Aussprechen hat ihn von der Angst befreit, die Lähmung fällt von ihm ab. Es öffnet sich ein Freiheitsbereich für das Verhalten.

So ist der Fluch des Moses ein Wendepunkt im Jahr 2011. Der Blick geht nicht mehr nur ins Dunkle. Der starke Gott hat noch andere Wege, sich mitzuteilen.

 

Rollenprosa und Propheten

Hilfreich wurde mir auch eine Textsammlung, die ich im Jahr 2011 anlegte: «Rollenprosa und Propheten». Erst trösteten mich die Ereignisse im Leben der Propheten, wo sie auf Widerstand stiessen, kein Gehör fanden. Dann sah ich, dass die Bibel selber darüber ins Nachdenken geriet: warum Gott kein Gehör findet, warum seine Propheten verfolgt werden. Das geht weiter bis ins Neue Testament, wo selbst Gottes Sohn abgelehnt wird. «Er kam in das Seine und sie nahmen ihn nicht auf», so fasst der Johannes-Prolog es zusammen.

 

Muss die Rede von Gott scheitern?

Es ist hilfreich und spannend, der Bibel zuzusehen, wie sie diese Erfahrungen verarbeitet und nach Antwort sucht. Die Erfahrungen mit der Botschaft, werden in diese selber eingetragen. Schon bei der Berufung der Propheten klingt es an, dass sie auf Widerstand stossen werden. Die Klagepsalmen Jeremias begleiten ihn auf seinem Weg. Und wenn er bei der Berufung noch «ja» sagen konnte oder «nein» («ach, Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung»), hier zeigt die Erfahrung einen ganzen Stationen-Weg, den sein „Amt“ mit sich bringt. Das hilft und bringt Trost. Und es zeigt, wie Gott seine Sache doch ans Ziel bringen wird.

 

Die Aussendungsrede im Neuen Testament, die die Berufung der Propheten im Alten Testament aufnimmt, kann den Boten schon einen ganzen Stationen-Weg vor Augen stellen. Sie wird somit wie ein Inbegriff all dieser Szenen und Erfahrungen: Auftrag, Widerstand, Leiden, Zusage des göttlichen Beistandes. Dazu gehört auch die Erfahrung des Versagens der Menschen in diesem Amt. Trotzdem und durch alles Versagen hindurch geht das Wort seinen Weg zu den Menschen und über die Welt.

 

Das verdeutlicht einen Aspekt aus dem Alten Testament: Die prophetische Rede, die Rede von Gott wird scheitern, das Gericht kommt und Gott hat darin trotzdem nicht versagt! Das war für die frühe Kirche und die Anhänger Jesu von kritischer Bedeutung: Wie den Skandal der Kreuzigung verstehen? Sollte Gott, wenn er in die Welt kommt, diese nicht retten können? Die Soldaten spotten: Wenn du der Erlöser bist, rette dich und uns!

 

Es liegt nicht an den Menschen, die von Gott reden wollen und nur stammeln können, die nicht sagen können, was nötig wäre, die es nicht so sagen können, dass es gehört würde an den Orten und zu den Zeiten, wo es drauf ankäme. – Es geschieht notwendig so, Gott selber, als er kommt, wird nicht erkannt, man verspottet ihn wie früher die Propheten, man übergeht ihn, wie früher die Weisen, man schlägt ihn, wie früher die Mahner, man bringt ihn um, wie früher die Unbequemen, die keine Ruhe gaben.

 

Was sollten Menschen da ausrichten? Und trotzdem ist ihre Arbeit gefordert bis zum letzten Atemzug! Trotzdem ist ihre Mühe nicht umsonst, trotzdem braucht es ihre Liebe, und wäre es nur, damit sie über ihrer Berufung nicht verbittern und ihr Amt und ihr Leben nicht verfluchen, wie weiland Jeremia.

 

Die Zusammenstellung der Texte zu Rollenprosa und Propheten endet mit diesen Worten:

 

Gott versagt und er siegt, er wird getötet und bringt das Leben zurück. Er stirbt am Kreuz und aufersteht aus der Grabhöhle. Und er stellt sich an den Anfang des Zuges. Und Millionen ordnen sich hinter ihm ein. Und die Trompeten und Fanfaren, die erschallen, das sind die Seligpreisungen: «Selig die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden! Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!»

 

Die Seligpreisungen sind formuliert nach dem Modell des Segens, den Moses ausgesprochen hat über die, die ins gelobe Land einziehen. Da hat er nicht nur einen Fluch formuliert, den Fluch des Moses, sondern auch einen Segen. Das Neue Testament nimmt das auf. Es ist das Vermächtnis der Bibel für die Zukunft.

 

 

 

Geschichtsprägende Traumatisierungen

 

Dass Krieg und Gewalt zu traumatisierenden Verletzungen führen, ja dass ganze Generationen dadurch geprägt werden, tritt heute wieder vermehrt ins Bewusstsein. Das Gedenken an Auschwitz zeigt, dass der Umgang mit historischen Traumata ein Erbe und eine Aufgabe für Generationen darstellt. Manche Verletzungen wurden geschichtsprägend. Sie beeinflussten die Geschichte einer Nation oder wurden sogar als Kern der Staatswerdung erinnert. Zwei der grössten historischen Traumata, die die Weltgeschichte beeinflusst haben, werden in der Bibel erinnert, mit all den Versuchen, damit umzugehen und den heilenden Kern darin freizulegen. Sie stehen im Zentrum des ersten und zweiten Testamentes.

 

Die Katastrophe des Exils

Am frühen Morgen höre ich einen Psalm aus der Bibel.  Heute ist es Psalm 89.

«Ich will singen von der Gnade des Herrn ewiglich und seine Treue verkünden mit meinem Munde…»

Das klingt nach einem ruhigen Psalm, der Gott lobt. Aber die Erfahrung lässt aufhorchen. Hier wird das Thema angegeben: Gnade, und das heisst wohl auch, sie wird problematisiert.

»Ich habe einen Bund geschlossen mit meinem Auserwählten, ich habe David, meinem Knechte, geschworen: Ich will deinem Geschlecht festen Grund geben auf ewig…»

 

Die Verheissung

Das ist die Davidsverheissung, eine der vielen Zusagen, die das Volk in seiner Geschichte erhalten hat und auf die es sich im Gebet beruft: Volksverheissung, Landverheissung, Davids-Verheissung, Bundes-Schluss…

«Wenn aber seine Söhne mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, wenn sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden und meine Treue nicht brechen.»

 

Die Könige auf dem Davids-Thron werden erwähnt, die vom Bund abgewichen sind und bestraft wurden, die Königsbücher berichten davon. So ist das Nordreich untergegangen. Aber die Herrschaft in der Davids-Stadt besteht weiter.

«Ich will meinen Bund nicht entheiligen und nicht ändern, was aus meinem Munde gegangen ist. Eines habe ich geschworen bei meiner Heiligkeit und will David nicht belügen: »Sein Geschlecht soll ewig bestehen und sein Thron vor mir wie die Sonne…»

 

Über viele Zeilen geht es weiter, das Gotteslob. Am frühen Morgen bin ich darüber eingeschlafen. Aber plötzlich war ich hellwach:

«Aber nun hast du verstossen und verworfen und zürnst mit deinem Gesalbten!»

 

Also doch! Die Gnade, die auf ewig geschworen wurde, scheint vorbei. Der Bund, der nie brechen sollte, scheint aufgehoben.

 

«Du hast zerbrochen den Bund mit deinem Knecht und seine Krone entweiht in den Staub.»

 

Nach der Katastrophe

Der Psalm ist ein grosses Nachdenken nach der Katastrophe des Südreichs, als auch Juda zerstört wurde und seine Bewohner ins Exil geführt.

«Du hast eingerissen alle seine Mauern und hast zerstört seine Festungen. (…) Du hast seinem Glanz ein Ende gemacht und seinen Thron zu Boden geworfen. Du hast die Tage seiner Jugend verkürzt und ihn bedeckt mit Schande. Wie lange, Herr, willst du dich verbergen und deinen Grimm wie Feuer brennen lassen? (…) Herr, wo ist deine Gnade von einst, die du David geschworen hast in deiner Treue?»

 

Da ist sie jetzt, die Gnade, die der erste Vers anstimmt und die der Betende besingen will. Aber alles, was er erlebt, was dem Volk widerfährt, läuft auf das Gegenteil hinaus. Jerusalem fällt, der Tempel wird zerstört, auch das Südreich Juda geht unter. Eine Wirklichkeit im Gegensatz zu allen Verheissungen! Die Geschichte scheint kein Ort mehr, die die Verheissung fassen kann, diese Wirklichkeit kein Ort, wo es eingelöst werden kann.

 

«Wo sind, o Herr, deine früheren Gnadenerweise, die du dem David in deiner Treue zugeschworen hast? Gedenke, o Herr, an die Schmach, die deinen Knechten angetan wird, die ich in meinem Gewand trage von all den vielen Völkern, mit der deine Feinde dich, Herr, schmähen, mit der sie schmähen die Fussstapfen deines Gesalbten! Gepriesen sei der Herr ewiglich! Amen, ja, Amen!»

Der Riss in der Wirklichkeit …

Es geht ein Riss durch die Wirklichkeit, wie der Beter sie erfährt. Die geschichtliche Erfahrung und das Vertrauen auf Gott, fallen auseinander. Und sie lassen sich nicht mehr wie in den Königsbüchern vermitteln durch das Konzept: Abfallen von Gott und Strafe. Die tiefsten Verheissungen, die tiefsten Erfahrungen von Geborgenheit in der Welt sind erschüttert.

 

Gott scheint seine Treue aufgehoben zu haben, seine Schwüre vergessen. Das schien so fest wie die Berge, so zuverlässig, wie die Sonne aufgeht. «Ich will ihm seinen Thron erhalten, solange der Himmel währt.» Die Davids-Verheissung scheint gebrochen. Trotzdem lobt der Betende Gott. Er muss die Erfahrung festhalten. Und er will die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt.

 

Die Wirklichkeit, wie er sie erfährt, kann er nicht belügen. Und dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, ein Lebensrecht für alle Menschen, das ist eine Intuition, ohne die er auch nicht leben kann. So endet der ganze lange Psalm, die bittere Erforschung der Geschichte, der heiligen Überlieferungen, der Hoffnungen, die von einer Generation auf die andere übertagen wurden, nicht in Anklage, nicht in Selbstverfluchung, sie endet in einem Lob Gottes. «Gepriesen sei der Herr ewiglich! So sei es, ja so sei es!»

 

… und seine Vermittlung

Er muss die Erfahrung festhalten. Und er muss die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt. Beides braucht es zum Leben. Die Lösung ist ein kontrafaktisches Festhalten an den Verheissungen – noch ist das Ende der Geschichte nicht da, dass sie sich nicht doch als wahr erweisen könnten! Es ist – gegen alle schreckliche Erfahrung – ein Vertrauen in einen Daseinsgrund, der sich jetzt zwar schrecklich zeigt, weil alles, worauf man hoffte, wovon man lebte, verloren ist. Aber Gott ist da, auch wenn er nicht zu sehen ist, er ist gegenwärtig, auch wenn man nichts von ihm fühlt, er trägt alles und er wird auch unser Leben wieder tragen, wenn wir nur das Vertrauen nicht fahren lassen. – Und ich brauche ihn jetzt!

 

Die Katastrophe der Kreuzigung

Es ist ein Vertrauen, das kontrafaktisch gefunden wird, ohne Anhalt an der sinnlichen Erfahrung. Es ist ein Glaube, wie er am Karfreitag unter dem Kreuz gefunden wird. Da ist alles, was Menschen vermögen, am Ende. Aber unter dem Kreuz, wenn Gewalt und Unrecht sich ausgetobt haben, in der Stille, wenn das Tun des Menschen verhallt, ist das andere spürbar: das, was allem Leben vorausgeht, was es trägt, was es möglich macht, früher und auch in Zukunft. Und es ist auch jetzt da, man muss nur hindurchsehen durch den Schleier der schlechten Erfahrung, man muss nur auf Gott sehen, der alles trägt und dem wir unser Leben anvertrauen, was immer auch wird, denn bei ihm sind wir aufgehoben über alles hinaus, was die Welt geben oder absprechen kann.

 

Traumatisierung und Vermittlung

Der Versuch, ein eigenständiges und eigenstaatliches Leben zu führen, wird wieder und wieder enttäuscht. Jetzt scheint er den letzten Schlag erhalten zu haben. Das Freiheitsstreben wird traumatisiert. Was es sich ersehnt, was es an Hindernissen erfährt, das wird vermittelt im Glauben an Gott. Das geschieht kontrafaktisch, gegen alle Erfahrung. Führer ist die Intuition, dass es letztlich zusammenstimmt: das Sehnen und Erreichen, das Aufstehen und Ankommen, das Wollen und Vollbringen, die Werte und die Welt, wie sie sich darstellt.

 

Letztlich wird die Welt sein, wie sie von Gott gedacht ist. Sein und Sollen sind versöhnt, was die Bibel mythologisch ausdrückt in den zwei Bäumen von Erkenntnis und ewigem Leben. Seit Adam hat der Mensch nur von einem Baum gegessen, er weiss, was er soll. Aber dank der Erlösung in Jesus Christus, nach christlichem Glauben, hat er Zugang zum andern Baum. Der steht in dem andern Garten am Ende der Geschichte, da sind Früchte des ewigen Lebens. Und wenn der Mensch davon isst, kann er was er soll.

 

Was ihn hinderte, das ist im ersten Testament beschrieben worden als «Hartnäckigkeit» in einer Erfahrungsgeschichte, die zunehmend skeptisch beurteilte, dass der Mensch erfüllen kann, was er soll. Paulus sprach vom Widerspruch von Geist und Fleisch. In der Taufe haben wir schon Anteil an der neuen Welt. Doch leben wir noch in der sinnlichen Welt, wo das Fleisch dem Geist widerstrebt. So hindern wir uns selbst. Und wir können uns selber zuschauen, wie wir tun, was wir nicht wollen; und was wir sollen, lassen wir.

 

Ursünde und Endversöhnung

Augustinus hat das im Konzept der «Erbsünde» formuliert. So ist es vielleicht verständlich, hinter dem Konzept der Erbsünde diese Erfahrungsgeschichte zu sehen: wie Menschen wollen und nicht können; wie ganze Völker aufbrechen, und Gott scheint mit ihnen, aber sie kommen nicht ans Ziel; wie Menschen beten und auf Gott vertrauen, aber sie verstossen selber gegen das, was sie erbeten.

 

Die «Erbsünde» sagt nicht einfach die Unmöglichkeit aus. Das ist nur eine Erfahrung, die sie aufnimmt. Sie hält aber auch an der Intuition fest, dass es gelingen soll, dass Welt und Werte nicht immer unversöhnlich auseinanderfallen. Um es mit biblischen Bildern zu sagen: Am Ende wird Gott alle Tränen abwischen. Er tröstet die Traurigen, ermutigt die Verzweifelten, richtet die Gedemütigten auf. Er macht das Krumme gerade und bringt alle Verlorenen zurück.

 

  1. Februar 2024

 

Arbeit am Innersten

 

Ein Trauma ist wie ein Gravitationszentrum, das alles in eine Kreisbahn zwingt. Er erkennt: Er trägt seinen bittersten Feind in sich selbst. Dort ist der Kampf noch nicht zu Ende. Dort entsteht er immer wieder neu, der Krieg, der Hass, die Ablehnung, die Scham. Und er begreift: Er muss die Friedensarbeit bei sich selbst anfangen. Er muss hinabsteigen in sein tiefstes Inneres, wo er jene peinvollen Erinnerungen versteckt hält. Er muss seinen tiefsten Verletzungen wieder begegnen, denn dort entsteht das immer wieder neu.

 

Das Trauma überwinden

„Wie soll es Wirklichkeit werden: dieses Land des Friedens und der Gerechtigkeit? Christus verkündigt es in seinen Seligpreisungen, als ob es jetzt gleich hereinbrechen würde. Dann wieder sagt er: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

 

Hat der Frieden ein Geheimnis, dass er so selten ist? Ist Gerechtigkeit verborgen wie ein Diamant im Boden, dass sie so selten gefunden wird? Oder ist es wie mit der Schönheit – diese ist immer da, aber wir achten nicht darauf. Sie leuchtet mit der Sonne vom Himmel und blüht an jedem Wegrand, aber wir gehen daran vorbei.

 

Hat Gott Gerechtigkeit geschaffen wie Schönheit, aber wir sehen es nicht?

Gibt es einen Zugang zum Frieden – aber wir haben ihn vergessen?

Gibt es eine Tür zum Reich Gottes, die für uns Menschen offensteht – für jede Generation wieder neu, für jeden Mensch, der eintreten will – aber wir haben ihn vergessen? Wissen wir nicht mehr, wie man durch diese Türe geht?

 

Wie finden wir diese Türe wieder? Wie schliessen wir den Zugang auf?

Ich möchte erzählen aus dem Leben eines Menschen, der viel erlebt hat von Unrecht und Gewalt und viel nachgedacht über den Frieden. Er hat dafür den Nobelpreis erhalten. Es ist Elie Wiesel, der in vielen Büchern von seinen Erlebnissen berichtet hat.

 

Er war zwölf Jahre alt, als seine Familie zum ersten Mal deportiert wurde. Sie lebten damals in einem kleinen Dorf in Rumänien. Hitler-Deutschland hatte den 2. Weltkrieg entfesselt und begann, systematisch die Juden auszurotten. Mit 14 wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz getrieben.

Nie werde ich jene Nacht vergessen“, so erzählt er, „die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.

Nie werde ich diesen Rauch vergessen. (…)

Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.

Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich für alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat.

Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten. (…)

Nie werde ich vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.“

(Zitate aus Elie Wiesel, „Die Nacht zu begraben, Elischa“, München 1961, S. 56)

 

Diese Erlebnisse haben ihn im Innersten verstört. Wie soll man das auch verarbeiten, was er und seine Familie erlebt haben? –

 

Gewalt und Verfolgung – weniger schlimm als damals, aber schlimm genug – gibt es an vielen Orten dieser Welt, auch heute noch. Wie sollen Menschen damit fertig werden? Da hört das Nachdenken oft auf. Wir hören in den Nachrichten davon, wir fühlen uns hilflos, schweigen still und gehen weiter, wir haben keine Antwort.

 

Elie Wiesel geht den Weg weiter. Er wird zum Zeugen für uns, kann erzählen, wie es ist an diesen Orten der Gewalt, wo der Hass entsteht und der Wunsch nach Vergeltung. Das Ende des 2. Weltkrieges befreit ihn aus dem Konzentrationslager. Aber die Gewalt lässt ihn nicht los. Er ist jung, etwa 17 Jahre alt, und wird für die zionistische Bewegung rekrutiert. Diese kämpft für einen unabhängigen Staat Israel. Dabei setzt sie auch Gewalt und Terror ein. Wieder sieht sich Elie Wiesel mit Gewalt konfrontiert, aber jetzt steht er auf der anderen Seite!

 

„Ich hatte schon einmal getötet. (…) Seit meiner Ankunft in Palästina, vor einigen Monaten hatte ich teilgenommen an zahlreichen Scharmützeln gegen die Polizei, an Dutzenden von Sabotageakten, an Überfallen auf Truppentransporte, die die grünen Pfade Galiläas oder die weissen Strassen der Wüste durchzogen. Häufig hatte es auf beiden Seiten Tote gegeben. Indessen war das Verhältnis immer zu unseren Gunsten ausgefallen, denn die Nacht war unsere Verbündete. Unsichtbar und unangreifbar konnten wir an den überraschendsten Stellen, in den unerwartetsten Augenblicken zuschlagen, ein Truppenlager vernichten, ein Dutzend Soldaten niedermachen und spurlos verschwinden. Zweck und Ziel der Bewegung war: die grösstmögliche Zahl Soldaten zu töten. So einfach war die Sache.“ (S. 180)

 

„So einfach war die Sache“ – Ist sie so einfach? Ist es so einfach, aus einem Opfer zu einem Täter zu werden? Ist es so einfach, zu vergessen, was man erlebt hat? Wie man sich fühlt, wenn man verfolgt wird? Ist es so einfach, jetzt selber zu töten und zu morden? Die jungen Menschen in der Bewegung zögern, aber sie werden für den Kampf geschult.

 

Ein Ausbildner meint: „Ich weiss, es ist ungerecht, es ist unmenschlich, es ist grausam. Aber wir haben keine andere Wahl. Generationen hindurch haben wir besser, reiner sein wollen als unsere Verfolger. Ihr kennt das Ergebnis: Hitler und die Vernichtungslager. (…) Wir können mit niemandem rechnen, nur mit uns selbst. Wenn es Not tut, ungerecht und unmenschlich zu sein, um diejenigen zu verjagen, die ungerecht und unmenschlich gegen uns gewesen sind, werden wir es auch werden…“ (182)

 

Plötzlich sieht sich Elie Wiesel auf die andere Seite gestellt, aus einem Opfer ist er zum Täter geworden.

Er schreibt (S. 183): „Das erste Mal, dass ich an einer Aktion teilnahm, hatte ich mich unmenschlich anstrengen müssen, um meinen Widerwillen zu unterdrücken. Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in dunkelgrauer Uniform, in SS-Uniform.“ (183)

 

Elie Wiesel erschrickt. Aus Opfern sind Täter geworden und aus Unschuldigen neue Opfer. Haben sie nichts aus der Geschichte gelernt? Und was ist mit ihm selbst, hat er sich nicht selber verloren auf diesem Weg? Hat er sich nicht denen angeglichen, die er am meisten hasste? „Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in SS-Uniform.“

 

Wozu war all das Leiden gut, wenn es jetzt einfach so weiter ging?

Sollte es nicht aufrütteln und mithelfen, diesen Irrsinn zu stoppen? Verändert einen das Leiden nicht, sodass man sich verweigert und der Gewalt abschwört?

 

„Nein!“ sagt Elie Wiesel, „das Leiden schwemmt das Niedrigste, das Feigste im Menschen hoch. Es gibt im Leiden einen Markstein, hinter der man ein Tier wird. (…)

Die Heiligen, das sind diejenigen, die vor dem Ende der Geschichte sterben. Die anderen, diejenigen, die bis ans Ende ihres Schicksalsweges gehen, wagen nicht mehr, sich im Spiegel zu betrachten, aus Angst, er möge ihr inneres Abbild widerspiegeln: das Ebenbild eines Ungeheuers.“ (313)

 

Elie Wiesel hat beides erlebt, Gewalt und Gegengewalt. Aber es hat nichts gebracht. Gewalt bringt nie Frieden hervor, immer nur neue Gewalt. Sie erzeugt immer neue Opfer und neue Täter und hat nie genug.

Friede wird so nie, und Gerechtigkeit hat keine Chance. Das Reich Gottes, ein Zustand, in dem Menschen in Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben – mit Gewalt lässt es sich nicht erzwingen.

 

Das „Heilige Land“ ist nichts, was man mit Gewalt erobern könnte – das hat schon jener Jünger erfahren zur Zeit Jesu, als dieser verhaftet wurde im Garten Gethsemane. Als die Soldaten kamen, zog er das Schwert. „Steck Dein Schwert zurück“, sagt Christus, „denn alle, die zum Schwert greifen, kommen durch das Schwert um.“ (Mt 26,52). So erlebt es auch Elie Wiesel. Liebe wäre eine Antwort, wir warten auf das Stichwort. Es ist das, was der Glaube lehrt. Aber die Liebe kommt bei Elie Wiese zu spät. Er ist zwar noch jung, als er aus dem KZ befreit wird, und er lernt auch eine Frau kennen, die ihm Liebe schenkt. Aber er kann sie nicht annehmen. Es ist als ob etwas zerbrochen wäre in seinem Innern.

 

Er kann Liebe nicht annehmen. Er kann es nicht fühlen, nicht auf sich beziehen. Er erkennt: Er trägt seinen bittersten Feind in sich selbst. Dort ist der Kampf noch nicht zu Ende. Dort entsteht er immer wieder neu, der Krieg, der Hass, die Ablehnung, die Scham. Und er begreift: Er muss die Friedensarbeit bei sich selbst anfangen. Er muss hinabsteigen in sein tiefstes Inneres, wo er jene peinvollen Erinnerungen versteckt hält. Er muss seinen tiefsten Verletzungen wieder begegnen, denn dort entsteht das immer wieder neu. Aus Angst wird Hass und aus Hass Aggression.

 

Wenn er dort nicht zum Frieden kommt, bleibt er für immer gebunden an seine Geschichte. Sie hat sich ihm wie eingebrannt, immer wieder ist er verurteilt, sie zu wiederholen. Mit immer anderen Menschen. Wer in sein Leben tritt, der wird erfasst von seinem Misstrauen. Er sieht ihn im Bild der alten Erfahrungen, und die alten Gefühle steigen wieder auf. Er kann es nicht ändern.

 

Er muss Frieden finden in sich selbst. Und das gilt in grossem Massstab auch für all die Orte in der Welt, wo Konflikte herrschen, wo Krieg und Verfolgung geschehen. Da werden ganze Generationen von Menschen traumatisiert. Sie werden unfähig zum Frieden, weil man ihnen den Konflikt ins Innerste einpflanzt. Und so wirkt er immer weiter fort. Friedensarbeit ist eine Arbeit für Generationen, aber sie muss bei jedem einzelnen beginnen, dass er Frieden findet in sich selbst.

 

Das Buch von Elie Wiesel ist eine beeindruckende Wegbeschreibung für eine solche Reise ins Innere. Diese kann man nicht antreten, ohne all den Schmerzen wieder zu begegnen. Es ist ein langwieriger Weg, voller Rückfälle. Immer wieder wird man eingefangen von den Magnetkräften der alten Geschichte. Aber nur das Annehmen befreit. Im Annehmen kommt etwas zum Stillstand. Der Kreislauf der Vergeltung bleibt stehen. Wo jemand sein Schicksal annimmt, wird die Kette durchbrochen, durch die aus Opfern neue Täter werden. Die Kette des Schicksals wird durchsägt, es wird ein neuer Anfang möglich.

 

Annehmen, das ist ein Weg, der zu tun hat mit Vergeben. Es muss nichts mehr heimgezahlt werden. Es ist ein Opfer, aber nicht ein passives Opfer, das erlitten wird, so wie man Kriegsopfer wird, es ist ein freiwilliges Opfer im religiösen Sinn. Es ist ein Akt der Freiheit. Und es ist Liebe im religiösen Sinn.

 

Christus sagt in der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstehen sollt, sondern wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. (…) Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen, ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, welche euch verfolgen.“ (Mt 5,38f). Es ist ein langer Weg, der zu solcher Liebe führt. Aber es liegt Vergebung auf diesem Weg und Frieden. Und in dem Moment, in dem ein Mensch diesen Frieden in sich findet, stiftet er ihn unter anderen Menschen, weil in diesem Moment das Rad der Vergeltung unterbrochen wird. Dieser Mensch muss es nicht mehr weitergeben.

 

Frieden ist nicht eine Aufgabe, der wir uns unterziehen müssten, aus Pflichtbewusstsein und mit saurem Schweiss, weil wir gute Christen sein wollen. Frieden ist das allererste Lebensbedürfnis, das wir haben. Und es ist eine Zusage an uns alle. Es ist möglich, den Bann der Vergangenheit zu brechen. Es ist möglich, frei zu werden. Es ist möglich, zum Frieden zu kommen mit sich und andern Menschen. Darum sagt es Christus uns allen zu: Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Friedensstifter; denn sie werden Gottes Kinder heissen.

 

Aus Notizen 2004 – Zitate aus Elie Wiesel, „Die Nacht zu begraben, Elischa“, München 1961

 

 

 

Im Dunkeln der Nacht

 

Tagebuch 11. Oktober 2023

Im Dunkeln, vor dem Aufstehen, höre ich Psalmen. «Gott ist in Juda bekannt, sein Name ist gross in Israel; / in Jerusalem ist sein Zelt und seine Wohnung in Zion. / Dort zerbricht er die Pfeile des Bogens, Schild, Schwert und Kriegsgerät.» (Ps 76)

 

Das scheint mir zu passen zu den Nachrichten: „Er zerbricht die Pfeile des Bogens, Schild, Schwert und Kriegsgerät.“ Die Lesung geht weiter im selben Stil. Es ist eine ganze Reihe von Psalmen die dem Sänger Asaf zugeschrieben werden.

 

Der Schock
Die Asaph-Psalmen sind eine beeindruckende, ehrfurchtgebietende Sammlung von Gebeten, wie eine Insel im Fluss der Psalmen. Sie stehen noch unter dem Schock der Ereignisse, die zum Untergang Judas und zum Exil geführt haben, dem Kahlschlag, als Land und Eigenstaatlichkeit verloren waren, als König, Hof und Priester weggeführt wurden, als der Tempel zerstört und verbrannt wurde. Und sie fragen warum? Wie lange?

 

Die Asaf-Psalmen haben ein prophetisches Profil, es ist die Stimme der Propheten in den Psalmen. Psalm 82 fasst ihr Credo zusammen. Da erscheint Gott zum Gericht: «Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Verschafft Recht den Unterdrückten und Waisen, verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen, entreisst sie der Hand der Frevler!»

 

Fragen
Die Propheten fragen nach der Schuld des Volkes, der Führer, aller Stände. Asaf selbst ist eher noch Klage, Schock, Nachsinnen, warum es so weit kommen konnte, dass alle Verheissungen zunichtewurden, dass scheinbar Gott selbst seine Zusage für ein „Land, wo Milch und Honig fliesst“, widerrufen hat.

 

Das hat mich bei der Lektüre des ersten Testamentes immer fasziniert, wie die Katastrophe des Exils verarbeitet wurde. Nicht nur die Feinde werden angeklagt, das auch, nicht etwa Gott wird angeklagt, auch wenn immer wieder Zweifel laut wird und selbst Revolten nicht ausbleiben, das Volk sucht die Schuld bei sich selbst. Und auf die Gerichts-Ansagen gegen fremde Völker folgt immer auch eine Gerichts-Ansage gegen das eigene Volk. Denn Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit. Es ist ein Gott der Güte und Gnade, wie könnten wir sonst leben und atmen? Aber er ist auch ein Gott der Gerechtigkeit. Und die brauchen wir so sehr wie die Gnade. Darum folgt immer wieder der Aufruf, sich selbst zu erforschen und umzukehren.

 

Recht
Der Asaf-Psalm 82 formuliert es wie ein Credo: «Verschafft Recht den Unterdrückten und Waisen, verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen, entreisst sie der Hand der Frevler!» Solche Stimmen hört man heute auch aus Israel, das in einem neuen Konflikt steht, wo es um Land und Institutionen geht.

 

Mir macht das Eindruck. Ein gewalttätiger Konflikt folgt bald eigenen Gesetzen und zieht immer mehr Lebensbereiche in seine Kreise. Wenn einzelne eine solche Sicht übernehmen, die auch dem Gegner etwas Gutes zutraut und nach dem eigenen Beitrag zum Konflikt fragt, kann das wohl helfen gegen Eskalation und den Boden für eine Friedenslösung bereiten.

 

Dem Sänger Asaf werden die Psalmen 50 sowie 73-83 zugeschrieben.

 

 

Nachwort

 

Die Bibel im Krieg

 

Der Krieg um Israel hat die Welt aufgeschreckt. Und wer bisher unbefangen in der Bibel las, fragt sich, ob das noch erlaubt sei. Wird sie nicht missbraucht, um Ansprüche abzuleiten, um eine Politik zu legitimieren? Man fühlt sich wieder als der «hässliche Fromme», der die Augen vor der Welt verschliesst.

 

Auf der anderen Seite hat die Welt nicht auf einen weitern Kommentar gewartet. Auch wenn anfangs ein ungeheurer Druck zu spüren war, sich auf der «richtigen Seite» einzureihen. Der Meinungskrieg erfasste alle, jeder musste ein Lippenbekenntnis ablegen.

 

Ich will für mich selber Klarheit finden. Die Bibel hat mein Leben begleitet, mal enger, mal weiter. Ich fühle mich verunsichert. Das erste Testament scheint in Frage zu stehen, weil «Fromme» es im Krieg verwenden. Das erste Testament ist mir aber besonders ans Herz gewachsen, auch wenn ich heute verunsichert bin, ob ich es als Christ überhaupt lesen darf. Ist es nicht eine «kulturelle Aneignung», wie sie heute überall entdeckt und verworfen wird?

 

So möchte ich mir erinnern, was ich in der Lektüre des ersten Testamentes gefunden habe. Ich möchte sortieren, was überhaupt da ist und was es mir bedeutet. Dann wird auch klar, was bleiben kann und was ich revidieren muss.

 

Was war mir wichtig an den oben zitierten Texten? Ich zitiere die wichtigsten Aussagen:

 

 

Die Makkabäer lesen

Ich habe die Makkabäer-Bücher gelesen und mir angeeignet in ihrem Abwehrkampf, im Aufstehen gegen Beschämung und Demütigung, im Einstehen für das Innerste und Heiligste. So gehören die Makkabäer-Bücher auch zu meiner Geschichte, zu den innersten Fragen meiner Entwicklung. Ich habe in ihrem Widerstand Ermutigung erfahren, in ihrem Leiden etwas begriffen von den Mechanismen der Demütigung und Beschämung. Zentrale Begriffe meiner Selbstverständigung wie Innerer Altar, Gräuel, Loch, Mitte sind mit meinen Leseeindrücken der Makk verbunden.

 

Einstehen und sich wehren

Die Makkabäer-Bücher erzählen von einer Phase der jüdisch-israelischen Geschichte, als sie sich wehrten, als sie kämpften, als sie Kriege führten, als sie sich aus eigener Kraft ein Staatswesen schufen. Nicht toleriert von den benachbarten Grossmächten, nicht unter Kompromissen und Tributzahlungen. Für eine kurze Zeit konnten sie als Player dem antiken Rom gegenübertreten, im regionalen Mächtespiel konnten sie sich als Verbündete anbieten, die Unterstützung von andern gewinnen.

 

Die Bejahung von Kampf und Abwehr kontrastiert zu der Art, wie die Katastrophe des Exils im ersten Testament aufgearbeitet wurde: als Schuldübernahme, als Strafe, die das Volk tragen musste, weil es «halsstarrig» gegen die Gebote verstossen hatte. So leiten die Propheten an zu Schuldgeständnis, Busse, Bitte um Vergebung und dem Suchen nach einem Sinn im Leiden der Geschichte. (Neben den Feind-Verwünschungen und Gerichtsansagen, die sie auch kennen.)

 

Diese Kampfbereitschaft kontrastiert zur folgenden jahrhundertelangen Geschichte in der Diaspora, als Juden als extreme Minderheit unter fremden Völkern lebten. Da gab es kaum je die Möglichkeit, sich zu wehren, so entstand der Eindruck von einem Volk, das immer Opfer war, das mit Verfolgungen überzogen und von Vertreibung heimgesucht wurde. Im ersten Testament schien das schon abgebildet in der Gestalt des «Gottesknechts», der für andere zum Opfer wird, ohne sich zu wehren:

 

«Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.» (Jes 53,6f)

 

Das sind Texte, die ich nicht ohne Erschütterung lesen kann, in ihren Worten hat man jahrhundertelang das Leiden Christi verstanden.

 

 

Spiritualisierung

Im Exil und in nachexilischer Zeit kommt es zu einer Spiritualisierung der Institutionen. Land, Königtum und Tempel sind verloren, da ist kein Anteil mehr, den man real verteilen könnte, er ist ideell vorhanden, im Vertrauen auf Gott, der gegenwärtig bleibt. In einem messianischen Endreich wird er auch sinnlich wieder zu erleben sein, wenn Gott sein Volk in einem zweiten Exodus in ein neues Land führt, wenn er selbst die Herrschaft ausübt oder durch einen Spross aus dem Geschlecht David, wenn der Tempel neu entsteht oder wenn kein Tempel mehr nötig ist, weil Gott selbst bei seinem Volke wohnt.

 

 

Elie Wiesel

Als Höhepunkt und Umschlagpunkt dieser Entwicklung empfinde ich die Erzählung von Elie Wiesel in «Die Nacht zu begraben Elischa», wie Juden im KZ beten. Auch jetzt noch unterwerfen sie sich Gott, einige aber widerstehen und wenn es nur in dem Triumph war: Du, Gott, lässt uns im Stich, wir aber loben dich.

 

«Ich dachte: «Ja, der Mensch ist stärker, grösser als Gott. Als Du von Adam und Eva hintergangen worden bist, hast Du sie aus dem Paradies gejagt. Als Noahs Geschlecht Dir missfiel, hast Du ihm die Sintflut geschickt. Als Sodom keinen Gefallen mehr vor Deinen Augen fand, hast Du Feuer und Schwefel vom Himmel regnen lassen. Aber diese Männer hier, die Du enttäuscht hast, die Du hast foltern, erwürgen, vergasen, einäschern lassen, was tun sie? Sie beten Dich an! Sie preisen Deinen Namen!»

 

Im selben Buch erzählt er aber, wie er später, als Rückkehrer in Palästina, sich einer Widerstandgruppe anschloss und kämpfte. Er formuliert selber, dass er jetzt in die Rolle eingetreten sei, die er vorher bekämpft hatte, dass er selber tat, was er vorher verurteilt hatte. Ein dialektisches Umschlagen, wie es sich ereignet, wenn man sich ganz von etwas bestimmen lässt.

 

 

Exkurs: Welche Wirklichkeit hat Gerechtigkeit?

Ich lebe nicht in Israel, ich will nicht unberufen in etwas Fremdes hineinreden. Der Umgang mit diesen Texten, ihre Wirkungsgeschichte, betrifft mich aber selber auch.

Es sind zwei Pole, zwischen denen sich auch mein Leben abspielt:

  • Da ist die «fromme Bibellektüre», die sich einbezieht, die einstimmt in Klage, Bitte, Dank und Hoffnung.

 Die Spiritualisierung der alten realen Hoffnungen, ihre Verwandlung in geistige Grössen ist mir nahe. Das fliesst schliesslich ein in das Bild vom Reich-Gottes, wie es im Neuen Testament begegnet. Das lebt nicht einfach in der Geschichte, die Hoffnung ist aber, dass immer wieder ein Stück davon zu erfahren ist. Die Verwirklichung ist in eine «Endzeit» gesetzt, seine «Wirklichkeit» ist also nicht empirisch, als ob es sinnlich einfach zu erleben wäre. Hier werden neue Wirklichkeitsbegriffe geprägt, weshalb diese Teile der Bibel «metaphysisch» wirken gegenüber den frühen Teilen des Alten Testamentes.

 

  • Trotzdem geht die Hoffnung nicht einfach auf ein «Jenseits», ich will dem Leben nicht absterben, um der Erfüllung teilhaftig zu werden.

Das Verhältnis von geistiger und sinnlicher Wirklichkeit ist dialektisch. Das Ideal kann in der empirischen Welt nie erreicht werden, es schwebt ihr aber als Ziel vor. So ist es Kriterium für die Beurteilung von allem, was wir tun. So haben wir einen Massstab für Recht und Gerechtigkeit, müssen nicht einfach eine vorfindbare Realität für die letztmögliche halten. Das eröffnet einen Raum für Veränderung, für Hoffnung, für Wachstum und Gestaltung. Trotz aller Mühe wird das Resultat das Absolute aber nie erreichen. Das schützt vor Abwertung und Missachtung, vor Übergriffen gegenüber anderen Lebensweisen, vor totalitärer Entgleisung.

 

Spiritueller und politischer Ansatz

So gibt es zwei Aspekte, die mich auch persönlich interessieren.

  • Da ist die Aneignung in einer persönlichen Frömmigkeit, sie kann anschliessen an Texte, die das alte Anteilhaben spiritualisieren, nachdem Land und Staat und Institutionen untergegangen sind.

 

  • Und da ist die Wiederbelebung empirischer Hoffnungen auf einen realen Staat, einen neuen Tempel, eine Hauptstadt mit Regierung – so geschehen mit der zionistischen Bewegung und der Staatsgründung von Israel. So geschehen schon in der Antike bei den Makkabäern, bevor ihr Reich unter den Römern endgültig zerstört und das Volk für Jahrhunderte in die Diaspora gezwungen wurde.

 

 

Die Rückeroberung eines äusseren Lebens

Das Volk kehrt an den Ort der Niederlage zurück und baut den Tempel wieder auf. Esra und Nehemia berichten davon. Eine historiographische „Geschichte“ im Stil des 19. Jh. wird sich aus diesen Büchern vielleicht nicht rekonstruieren lassen. Es ist zu viel Gestaltungswille, Komposition und «Mythopoesie» darin. Aber genau das interessiert mich. Nicht das distanzierte „es gibt/es hat“ einer Betrachtung vom Schreibtisch aus, sondern die Frage eines Menschen, der übriggeblieben ist, der zurückkehren will, der die alten Heiligtümer nicht mehr findet – es ist alles Asche und Ruinen – und der sie wieder aufbauen will.

 

Es ist eine innere Stadt, aber wenn sie dort Gestalt annimmt, kann sie auch im Äusseren Wirklichkeit werden. Das eben erzählen die Bücher Esra und Nehemia. Es sind Zeugnisse einer Kultur, die Leid in grossem Ausmass erfahren hat, die aber auch an ihrer Hoffnung festhält und an den Zusagen ihres Glaubens.

 

Es ist die Frage, wie anstelle des „Gräuels“, der auf unserem Altar sitzt, wieder das Heilige in der Mitte wohnen kann; wie man anstelle des „Loches“, das man in den Flashbacks von traumatischen Erfahrungen vor sich sieht, das Heilige wieder findet.

 

Die Makkabäer stehen in meinen Notizen für diese Bewegung der Gedanken, für diese Entwicklung von Rückzug und neuem Vorwärtsgehen, für die Rückeroberung eines äusseren Lebens, für die Bejahung des Sich-Wehrens und für den Versuch, sich in der äusseren Welt einzubringen. «Makk» – das ist nicht nur die Abkürzung für biblische Bücher, in meiner Entwicklung steht es für den Versuch, die Gärten des Glaubens nicht nur im Innern anzulegen, sondern die äussere Welt nach dem Glauben zu gestalten. Das muss nicht konfliktiv sein, wie der Name Makkabäer vielleicht vermuten lässt, das Ziel ist Integration und Versöhnung. (Auch die Makkabäer wollten nicht den Krieg, sie wollten ihren Glauben auch im Äusseren leben können.)

 

 

Fromme Lektüre und Rekapitulation

Tagebuch 29.5.2024

Gestern erlebte ich bei der Arbeit an «Makk» eine Überraschung. Ich suchte die Themen, die mich im Alten Testament (AT) sehr beschäftigt haben.

 

Nach Makk kam «Mein Teil», ich folgte der Spiritualisierung, der Verlagerung nach Innen. Beim alten Israel geschah das durch das Exil, den Verlust von Staat und Institutionen, Vertreibung und Minderheitsexistenz. Bei mir durch Verletzung, Rückzug, Unmöglichkeit, mich aussen einzubringen.  Danach gab es in Israel eine Rückkehr aus dem Exil, eine zweite Landnahme. Da geht es noch nicht um kriegerische Eroberung, sie siedeln sich mit Erlaubnis der Perser im alten Lande an. Und doch knüpft das an die alte Erzählung an: zweite Landnahme, Wiederaufbau von Jerusalem, zweiter Tempel…

 

Auch in meiner Frömmigkeitsgeschichte gab es das: es ist nicht möglich, immer im inneren Exil zu verbleiben, ich muss und will auch aussen auftreten, ich habe Familie, Beruf, Aufgabe. Es muss sichtbar werden. Da sind aber noch die innern Hindernisse, nicht nur die äusseren. So tauche die Themen von Körperspiritualität auf, Bildung von Institutionen im Innern (Charakter). Aber dann auch im Äussern: ich will die Gärten im Äussern anlegen, nicht mehr nur im Innern, «einen sichtbaren Tempel» bauen. (Hier schliesst sich meine Lektüre von Esra und Nehemia an, die ich auch von meiner Geschichte her las und für mein Leben fruchtbar machte.)

 

Ich folge also der biblischen Heilsgeschichte. Ich suche meinen Weg, und weil ich viel Bibel lese, weil ich als Pfarrer viele Gottesdienst-Verpflichtungen habe, meditiere ich dazu auch das Alte Testament. Ich verlebendige mir die alten Texte, indem ich meine aktuellen Fragen einbringe und mit den alten Texten verknüpfe. So geschieht es: ich gehe (als Leser, als Betender, als Mensch, der so Versöhnung und Hoffnung sucht, damit er nach aussen auftreten und sein Leben an diesem Morgen fortsetzen kann) selber den Weg mit, den das alte Israel gegangen ist. Ich gehe durch Exil und Rückkehr zu neuem Aufbau, neuer Landnahme, zur Arbeit an einem neuen, sichtbaren Tempel, der ins Land ausstrahlt, so dass ich und die Menschen sich integrieren können…

 

Wiederholung

In meiner persönlichen Frömmigkeit gehe ich einen Weg der Wiederholung, so wie Matthäus sein Evangelium aufbaut und Jesus Christus als «zweiten Moses» darstellt, mit Einzug ins Gelobte Land (Reich Gottes), Bund und Gesetz (Bergpredigt), fünf Reden analog zu den fünf Büchern Mose…

 

Im Mt-Evangelium ist Christus symbolisch auf dem Weg Israels dabei: seine Familie flieht nach Ägypten, sie kehren von dort zurück. Als Kind ist er mit auf dem Weg, er wiederholt die Flucht nach Ägypten und den Exodus. So versteht auch das alte Israel das Exil als «neue Gefangenschaft in Ägypten» und die Rückkehr ins Land als «zweiten Exodus».

 

Vom Bewegen der Worte im Herzen

Das fromme Denken benutzt gern Analogien, Bilder, Gleichklänge und Ähnlichkeiten. Das ist kein theoretischer Fehler, das disqualifiziert es nicht als Wissenschaft. Es weiss, was es weiss, sucht es nicht mit wissenschaftlichen Methoden. Es «bewegt» die Erfahrungen «im Herzen», wie weiland Maria, als sie die Prophezeiungen der Hirten bei der Geburt Jesu hört (Lk 2,19 «Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen.»). Und sie hört die Worte Simeons und Annas bei der Beschneidung (Lk 2,21-38), und «ein Schwert dringt ihr durchs Herz». (Lk 2, 34f «Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele zu Fall kommen und aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird, und deine Seele wird ein Schwert durchdringen. So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden.»)

 

Politik

Exodus, Exil, neuer Exodus, neue Landnahme … – in der biblischen Welt dreht sich viel um Politik. Es ist Politik, wie sie aus der Sicht des Glaubens aussieht. (Es ist auch die Verarbeitung eines historischen Traumas.) Sie ist wiedergekäut und wiedergekäut und auf viele andere Gebiete übertragen, wo geistig gekämpft, wo aus- und eingewandert wird, wo Herrschaft ausgeübt wird. Und eine Gemeinschaft schwebt ihnen vor, die in Gerechtigkeit und Frieden zusammenlebt.

 

So über Geschichte und ihre grossen Ereignisse nachzudenken, erinnert an Moses in der Wüste, der so lange auf einen Stein schlägt, bis dort eine Quelle entspringt, die der Not abhelfen kann. Oder an Jakob, der am Jabbok mit dem Dämon kämpft und sagt: «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.»

 

Es ist Nachdenken unter der Notwendigkeit, Segen zu finden für den nächsten Schritt. Es ist «Politik» unter Ansehung Gottes, nicht Politik, wie wir sie heute betreiben, eine säkulare Politik, die nichts Grösseres über sich hat.

 

Zusammenfassung

«Seit über 30 Jahren betreibe ich Bibellektüre, ich bete mit den Psalmen, versuche, meine Zeit zu verstehen mit den Propheten… Heute herrscht Krieg in Israel und Palästina. Die Lektüre hat die Unschuld verloren. Es wird mir eine Parteinahme aufgezwungen. Es gibt nur noch die Wahl zwischen Freund und Feind, hier oder dort. Ich will ansehen, was mir am Alten Testament wichtig war und ist. Ich suche Orientierung für mich selber.» So schrieb ich am Anfang dieser Untersuchung.

 

«Auch der gleichzeitige Krieg in Russland-Ukraine stellt die Fragen ganz grundsätzlich: Soll man kämpfen? Darf man sich wehren? Muss man einstehen für sich und für das, was einem heilig ist? Sind die Verheissungen des Glaubens nicht anderer Art? Kann das überhaupt mit Krieg und Gewalt gewonnen werden? Aber das «Gelobte Land», das «Reich Gottes» – sollte das nur in einem Jenseits leben? Muss es nicht in dieser Welt verwirklicht werden?

 

Makkabäer

Der Arbeitstitel für meine Untersuchung war „Makkabäer“. Dort habe ich gelernt: man darf sich wehren. Für die meisten Menschen ist das keine Frage. Wenn man aber gelernt hat, sich immer selbst hineinzuwerfen, wo immer ein Opfer gesucht wird, das den Kopf hinhält, ist es eine Wende zur Selbstbehauptung.

 

Ich suchte Texte, an denen ich «meinen Weg mit dem Alten Testament» ablesen konnte, ich hatte keine Vorstellung, wie das aussehen könnte. Und ich war überrascht, als einige Texte vorlagen, wie sehr diese selber einen Weg markieren. Das Alte Testament (AT) ist kein Geschichtsbuch, und wo es von Geschichte erzählt, ist es meditierte Geschichte, erzählte Geschichte, wiederholte Geschichte. Noch und noch haben die Generationen die Wege der Väter abgeschritten, sind mit Moses aus Ägypten geflohen, durch die Wüste geirrt, ins Land gekommen. Sie haben Städte erobert und verloren, haben das Land in Besitz genommen und sind ins Exil geführt worden. Sie haben einen zweiten Exodus erlebt, eine zweite Landnahme etc.

 

Als Hörer und Leser des AT habe ich das miterlebt, ich habe meine eigene Geschichte eingetragen, neben vielen andern, die ihre Schritte auch auf diesem Weg getan, ihre Hoffnungen auch in diesen Bildern formuliert haben (auch wenn sie, wie ich, vom Christentum herkamen und diese Geschichte als „Altes Testament“ gelesen haben).

 

Abgetan?

Das mag fremd erscheinen, etwas, was nur noch Fromme und Vorgestrige in dieser Art tun. Heute redet kein Mensch von der Bibel… Aber darin zeichnet sich ein Weg ab, wie er sich überall auf ähnliche Weise findet. Denn es ist die Frage nach der Gerechtigkeit, die Frage, wie Hoffnungen wahr werden, die Frage, wo solche Intuitionen wie Friede, Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich überhaupt zur Existenz finden. Sind es ideale Hoffnungen, finden sie einen Weg in die erfahrbare Wirklichkeit? Und Enttäuschungen, wenn Aufbrüche eines ganzen Volkes scheiterten, wenn sie niedergeschlagen wurden, wenn die Lebenshoffnungen von Generationen in Gewalt ertränkt und traumatisiert wurden – welche Wirklichkeit haben da die alten Erzählungen von einem Land, wo Milch und Honig fliesst? Leben sie nur in der Trauer, sind es Namen für die Erinnerung?

 

Der Weg es biblischen Israel folgt den Stationen von Exodus, Landnahme etc. Sie bezeichnen auch Kategorien der Wirklichkeit. Und sie wechseln mit der Erfahrung. Sie changieren von Idealvorstellungen, Projekten, zu historischen Verwirklichungen in vielerlei Gestalt, bis wieder zu einer Liste von Namen, die in trauernder Vergegenwärtigung aufgerufen werden.

 

Der Weg Deutschlands

Der Weg Deutschlands – als ein Beispiel – scheint demgegenüber etwas anderes, viel handfester, nicht verwoben mit Bibel, Religion und Phantasien. Aber die Staatswerdung Deutschlands folgte vielen Stationen, die ebenfalls nach dem Muster der Bibel als ein Weg dargestellt werden könnten, der innerlich und äusserlich abgeschritten wird. Er wird erzählt, erinnert, in Projekte gegossen und abgetrauert, wenn sie scheitern.

 

Dass Deutschland zu einem modernen National-Staat werden konnte, das lebte erst in Hoffnungen, die sich an der Französischen und Amerikanischen Revolution festmachten. Sie knüpften sich an Napoleon: dass er als Herrscher über Europa Freiheit und Bürgerrechte nach Deutschland bringen könnte. Die Hoffnungen wurden enttäuscht und es brauchte viele Stationen, bis nach dem Deutsch-Französischen Krieg die „kleindeutsche Lösung“ unter der Führung Preussens und unter Auslassung Österreichs verwirklicht wurde. 1938 kam es noch zu einem «Anschluss Österreichs», aber hier ging der Hoffnungstraum in den Albtraum des Zweiten Weltkriegs über.

 

Das Versprechen des Exodus

Man kann irgendeinen Staat nehmen, er hat solche Wege ebenfalls abgeschritten, so gibt es keinen Grund, auf die «biblischen Geschichten» herabzusehen. Es ist eine hohe Kultur, die hier begegnet, eine grosse Arbeit von aneignen, deuten, sich erinnern, aber auch immer wieder: einen Schritt zu versuchen, aus der Gefangenschaft auszuwandern und das Land zu suchen, wo Milch und Honig fliesst.

 

Viele Erfahrungen sind mit solchen Zielen verbunden, sie reichen von einem Projekt bis zur Utopie, von einem Besitz bis zu einer traumatischen Verletzung. Sie sind nicht nur mit dem Weg des biblischen Israel verbunden. Das zeigt sich ähnlich in der antiken Landschaft «Arkadien», und der Bedeutung, die sie in der europäischen Kultur gewann.

 

«Auch ich war in Arkadien»

Der Ausspruch „et in arcadia ego“ findet sich zum ersten Mal um 1620 auf einem Gemälde des Barockmalers Guercino, wo zwei Hirten vor einen Totenkopf stehen. Betrachtet man die Hirten, steht ihre bukolische Idylle im Vordergrund. Betrachtet man den Totenkopf, so begreift man das Bild als Memento Mori: selbst in Arkadien wird man vom Tod nicht verschont. So ist die Aussage ambivalent und ändert je nach Zeit und historischer Erfahrung. In Renaissance und Barock dominierte die lebensfreundliche Interpretation. „Die griechische Landschaft Arkadien war so zum Symbol für das Goldene Zeitalter geworden, in dem die Menschen als glückliche Hirten lebten und sich im Einklang mit der Natur ganz der Musse, der Liebe, der Dichtung und Musik hingaben.“ (Wikipedia)

 

Welche Deutung ist die richtige? Die Projekte der Menschen stossen auf Echo oder Ablehnung, die Welt erscheint ihnen als Garten oder als Wüste. Und das kann sich abwechseln auf einem Weg. Manchmal scheint die Welt undurchdringlich für die Hoffnungen der Menschen.

 

„Auch ich war in Arkadien geboren, / auch mir hat die Natur / An meiner Wiege Freude zugeschworen, /

auch ich war in Arkadien geboren, / doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur. / Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder, / Mir hat er abgeblüht.“

 

So heisst es in dem Gedicht «Resignation» von Friedrich Schiller. «Darin fordert die Seele von der Ewigkeit eine Gegenleistung für die Entbehrungen, die sie zu Lebzeiten getragen hat, bekommt aber nur zur Antwort, wer für den Glauben auf weltlichen Genuss verzichtet habe, müsse auch in Ewigkeit bei dieser Entscheidung bleiben.“ (Wikipedia) Glaube und tätige Verwirklichung scheinen hier Alternativen zu werden. Das eine führt nicht zum andern, zu unbeweglich scheint die Wirklichkeit, zu erstarrt die Verhältnisse im Ancien Régime (das Gedicht stammt von 1786).

 

Arkadien und das Gelobte Land

Ist Erfüllung im Diesseits zu suchen oder im Jenseits? Sind Glück, Gerechtigkeit – ein «Ankommen» mit seinem ganzen Lebensweg – Kategorien nur einer idealen Wirklichkeit oder gibt es schon in dieser Welt eine Brücke, auf der diese Ideale gesehen, geahnt, geschmeckt und erfahren werden, wo erste Schritte möglich sind im Übergang zur Welt der Hoffnung, sodass ihre Verheissungen immer wieder auch weltliche Wirklichkeit werden können?

 

»Und an dem Ufer steh ich lange Tage / Das Land der Griechen mit der Seele suchend,« heisst es in Goethes Iphigenie auf Tauris. Arkadien spielt für die am antiken Griechentum ausgerichteten europäischen Kultur eine ähnliche Rolle wie die Verheissung eines Landes, wo Milch und Honig fliesst für die an der biblischen Welt ausgerichteten Kultur.

 

Auch das Ideal des säkularen Europas, Arkadien, kennt dieses Schwanken zwischen Hoffnung auf Verwirklichung und resignativem Nachschauen, wo unerfüllbare Hoffnungen abgetrauert werden. Auch in der europäischen Geschichte – wenn man sie denn meditieren wollte – könnte man die Stationen ablesen von ägyptischer Gefangenschaft, Exodus, Wüstenweg, Landnahme und Verlust von allem, was errungen war. Es ist ein Weg, der alles mobilisiert an Hoffnung, Arbeitskraft, Versöhnungsbereitschaft und immer neuem Aufbau.

 

 

Israel und Palästina

 

Tagebuch 12.6.2024

Die Arbeit an „Makk“ geht dem Ende entgegen. Oder auch auf die Hauptsache zu. Denn jetzt habe ich die Texte durchgesehen, jetzt geht es an die Auswertung. Dazu gehört auch die Frage Israel-Palästina. Ich fühle mich nicht berufen, mich da einzumischen, mir geht es nur um die Frage, ob der Krieg etwas an meinem Verhältnis zum Alten Testament (AT) ändert. Ich denke, dass das AT und seine Tradition selber darauf Antwort geben. (Für mich bleibt das AT also in Geltung, weil es sich auch in diesem Konflikt bewährt.)

 

Was sagen die ausgewählten Texte zum Kriegführen?

  • Schon bei den Makkabäern, im ersten Text der Auswahl, taucht es auf: es gibt die legitime Abwehr – das war mir für meine Lektüre sehr wichtig: dass man sich wehren darf! – es gibt aber auch so etwas wie einen „Notwehr-Exzess“, wo der Gegenschlag den Schlag weit übertrifft, wo die Dynamik eskaliert, wo es zu Grausamkeit führt und Rechtsverletzung.

 

  • Ein zweiter Punkt ist bei mir mit dem Namen Elie Wiesel verbunden. Aus Auschwitz befreit, reiht er sich bei den zionistischen Befreiungsgruppen ein. Wieder kommt es zu Gewalt und Exzess. Er selber schreibt: „Das erste Mal, dass ich an einer Aktion teilnahm, hatte ich mich unmenschlich anstrengen müssen, um meinen Widerwillen zu unterdrücken. Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in dunkelgrauer Uniform, in SS-Uniform.“ (Die Nacht zu begraben, Elischa, S. 183)

 

Ich möchte nicht von einem Täter-Opfer-Umschlag reden. Wer Täter ist und wer Opfer, ist in einem interdependenten Zusammenhang kaum mehr zu eruieren. Denn jede Partei behauptet und empfindet wohl auch, nur auf eine Aggression reagiert zu haben. Die Paar-Therapie kennt das als Frage der Interpunktion: wo macht man in einem Zusammenhang einen Punkt? Wo hat es angefangen? Soll der Prozess weiterführen, braucht es wohl einen Blick für die eigene Beteiligung. Das Akzeptieren eines eigenen Anteils ermöglicht eine Begegnung auf selber Ebene und erleichtert Prozesse, die zur Vergebung führen.

 

  • Die Bibel lässt sich nicht zur Begründung von Rechtsansprüchen in der politischen Welt verwenden. Die Verheissungen eines Gelobten Landes haben Verheissungs-Status, das sind Heilsgüter, die zwar nicht einfach in ein „Jenseits“ abgeschoben werden können, sie können aber auch nicht einfach als Rechts-Figuren in der empirischen Welt behandelt werden. Die Identifikation von Glaubensgütern mit empirischen Tatbeständen folgt einem Heilspositivismus, der der dialektischen Beziehung von Ideal und Empirie ausser Acht lässt.

Das moderne Israel ist nicht das biblische Israel. Wenn der Weg des biblischen Volkes in frommer Lektüre meditiert wird, wenn man sich „gleichzeitig“ macht (wie es die Pessach-Haggada ja empfiehlt: «In allen Zeitaltern ist jeder verpflichtet, sich zu betrachten als ob er gleichsam selbst aus Ägypten gegangen wäre.») wird man bald auf Einsichten stossen, die das erste Testament formuliert.

Die enge Verbindung von Volk Israel und Gott steht im Zentrum. In diesem Glauben konstituiert sich das Volk. Und doch ist immer klar, Gott ist grösser als Israel. Er tritt ein für das Recht. Er ahndet Unrecht, wo immer es auftritt. So benennen die Propheten immer wieder ein Unrecht, auch im eigenen Land. Im Exil nimmt das Volk die Prophetentexte in die Bibel auf. Es bekennt seine Schuld und hofft auf eine neue Zuwendung Gottes.

 

Was für mich bleibt

Für mich bleibt der Weg des Alten Testamentes. Er führt ins Innere und wieder nach aussen. Und «sich wehren ist erlaubt». Darin steckt das Lebensrecht jedes Menschen. Ich will nicht nur innere Gärten anlegen. Ich will einen sichtbaren Tempel bauen.

 

Ich stehe vor dem ersten Testament und der Welt die es schildert. Ich meditiere den Weg. Und das geschieht in einer solchen Abstraktion, dass ich auch als Nicht-Angehöriger dieser Kultur das tun darf. Das ist das welthistorische Geschenk der Bibel.

 

Ich kann mich auf diesen Weg begeben und ihn meditieren, als ob ich selber dabei wäre. Auch ich kenne Gefangenschaft, auch ich mache mich auf den Weg zu einem Exodus, auch ich will zurück an den Ort der grössten Verletzungen und das Land wieder aufbauen.

 

Das sind langsame Prozesse, das gibt Zeit, damit Anklage, Vergebung und Versöhnung stattfinden können, auch die Benennung von Unrecht im eigenen Tun. Da öffnet sich ein Weg zu Frieden und Dankbarkeit.

 

Das neue Aussen ist nicht mehr das alte Aussen. Die Propheten blicken auf das Gelobte Land:

«Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen,

höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen! (…) Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker.

Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spiesse zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN!» (Jes 2,2ff)

 

Das richtige Leben

Die Sprache der Endzeit ist die Sprache der Apokalyptik, da geht der Blick weit hinaus in einen anderen Äon, der noch nicht auf der Erde angebrochen ist, der uns aber vorschwebt, der abgebildet ist in unseren Hoffnungen, in den Bedingungen des Lebens, damit wir überhaupt vorwärts gehen können und unsere Situation hier ergreifen. Und die ist nicht ideal, die gehört zu «diesem Äon», da gib es nicht nur Sicheln und Pflugscharen, da gibt es Schwerter und Kanonen. Das Gelobte Land schwebt uns aber vor, das Reich Gottes, wenn der Messias kommt und seine Herrschaft aufrichtet (Christen sprechen von der Wiederkunft Christi). Dann wird Gott selber herrschen und Friede und Gerechtigkeit werden einziehen.

 

Die beste Annäherung an das «Reich Gottes» und an das universale «Gelobte Land», die unsere Geschichte bisher hervorgebracht hat, ist der Rechtsstaat. Da muss man das Recht nicht auf der Strasse suchen und mit Gewalt verteidigen. Der Staat monopolisiert die Gewalt, aber er hat sie zurückgebunden an das Recht. Da herrscht nicht ein Mensch über den andern und nimmt sich, was er braucht. Da wird das Recht der Schwachen geschützt.

 

(Das moderne Israel hat Einwanderer aus Europa, die mit der liberalen Verfassungstradition vertraut sind, und Einwanderer aus anderen Traditionen. Der Erlass einer Verfassung, Gewaltenteilung, ein Wahlrecht, das Minderheiten keine Vetomacht gibt – aus der Ferne sind viele Reformen vorstellbar. Ich kann dazu nichts sagen. Mir ging es um die Frage, ob ich dem Ersten Testament noch vertrauen kann als Wegweiser für mein Leben. – Ja, gerne gehe ich weiterhin diesen Weg und bin dankbar für das Geschenk, das die Bibel für die Menschheitsgeschichte darstellt.)

 

 

Titelfoto: Soldatenfriedhof Verdun, Schachtfeld im Ersten Weltkrieg. planet-wissen.de