Haarsträubend

Die angesagten Gewitter verzogen sich. Ich fahr nochmals mit dem Fahrrad hinaus. Es liegt eine schwüle Spannung in der Luft. Fast stellen sich die Haare auf, wie damals im Physikunterricht, wenn wir einen Kondensator berührten und unser Körper sich elektrostatisch auflud.

Ist es das jetzt?
Haarsträubend, möchte man sagen. Aber es ist eher ein bisschen unheimlich. Es liegt ein Warten in der Luft. Ein Gewitter, Starkregen womöglich, nachdem die Flüsse, die Böden, die Seen schon übervoll sind. Jetzt irgendwann tritt es ein, was man seit Jahren und Jahrzehnten erwartet: dass es auch bei uns stattfindet, die «Klimakatastrophe».

In den Nachrichten kommt es schon ganz beiläufig. In den letzten Tagen habe ich es irgendwo aufgeschnappt: in der Schweiz habe sich die Durchschnittstemperatur gegenüber der vorindustriellen Zeit um 2,8 Grad erhöht.  Das wird einfach so gesagt, nachdem der ganze Hype um Klimapolitik von einem «Zwei-Grad-Ziel» ausging. Sollte das Ziel nicht erreicht werden, dann würde das Leben auf dieser Erde Erfahrungen machen, die bisher noch unbekannt gewesen seien. So etwa war die Formulierung, sehr kryptisch, so dass einem wirklich die Haare zu Berge standen.

Wir wüssten es eigentlich
Es ist keine Zeit für Spott. Ich fühle mich direkt angesprochen von dieser Atmosphäre. Mein Leben wird angesehen, als ob ich vor Gericht stünde. Komme ich nochmal davon? Wer klagt mich an? Was habe ich getan oder nicht getan? Wer hat die Kompetenz, mich auf die Anklagebank zu setzen? Am 4. Juni war der hundertste Todestag von Franz Kafka.

Wir wüssten eigentlich schon, was wir verbrochen haben. Aber die individuelle Zurechnung, das ist neu. Ich dachte immer, schon viel gemacht zu habe, kein Auto, keine Flugreisen, kein dies und das. Aber nur schon, dass ich da war, hat Energie verbraucht. Nur schon, dass ich atmete und existierte, hat die Welt näher an den Punkt gebracht.

Begriffe gesucht für eine neue Zeit
Diese Zeit ist eine besondere Zeit. Sie hat eigene Kategorien, auch für Gerechtigkeit. Ich hoffe, dass die alten Intuitionen noch Geltung haben, auf die ich mich verlasse, wenn ich zu Gott bete. Ich hoffe, es gibt noch so etwas wie Fürbitte und Barmherzigkeit. Ich hoffe, dass Hoffnung noch Platz hat in der Ablaufslogik dieser Zeit. Könnte nicht auch ein Vulkan ausbrechen und mit seinem Staub die Sonne abschirmen? So denke ich manchmal. Könnte die Erde nicht einen Klima-Puffer besitzen? Wenn es wärmer wird, steigen die Meere, das erhöht den Druck auf den Untergrund, das stimuliert die Vulkane, diese führen zu einer Abkühlung?

Das ist ein Ersatz für die göttliche Fürsorge, wie man sie früher kannte, in modernem Gewand. So arbeitet man heute an technischen Eingriffen, die die Erderwärmung stoppen sollen. Die Natur kennt noch andere Mittel. Der Meteorit, der vor 66 Millionen Jahren die Dinosaurier zum Aussterben brachte, hat mit dem Staub, den er aufwirbelte, die Sonne verdunkelt und einen „nuklearen Winter“ verursacht. Das Wort erinnert an eine andere Technik, die es kalt werden lassen kann auf der Erde. Im Krieg um die Ukraine ist jetzt wieder von nuklearen Erstschlägen die Rede. Das ist keine Rückkehr zum Erbarmen. Aber es dient nur zur Panikmache.

Ich trage die Grünkübel hinaus. Es ist kühler geworden, die Kaltfront hat die schwüle Luft vertrieben. Ein angenehmer Wind geht. Das Gewitter ist vertagt. Danke! So hat wohl auch die Fürbitte wieder ihren Platz für all die Menschen, die im Wettersturm ihr Leben oder ihre Habe verloren haben.

 

Foto von Paul Theodor Oja, Pexels

Zitate im Text:
Temperatur: «Das aktuelle Klimamittel liegt bereits 2,8 °C über dem vorindustriellen Durchschnitt 1871-1900 (Stand 2024).»
In: https://www.meteoschweiz.admin.ch/klima/klimawandel/entwicklung-temperatur-niederschlag-sonnenschein/klima-monitor.html

„Warnung an die Menschheit“: 1992 haben rund 1700 Wissenschaftler aus der ganzen Welt, darunter die meisten der Nobelpreisträger, eine „Warnung an die Menschheit“ verfasst: „Viele unserer gegenwärtigen Verhaltensweisen stellen ein ernsthaftes Risiko dar für die Zukunft, die wir für die menschliche Gesellschaft wünschen, aber auch für die Pflanzen- und Tierwelt. Und ohne Änderung können sie die lebende Welt so beeinflussen, dass diese das Leben nicht mehr tragen kann – in der Form, wie wir es kennen.“