Man könnte sagen, Segen sei eine Erfahrung, die das biblische Volk macht im gelobten Land. Dort regnet es, alles gedeiht, die Scheunen und Kasten füllen sich. Aber nein, Segen ist eine Erfahrung in der Wüste. Segen kommt erstmals zum Volk, als sie in der Wüste sind, als sie abweichen vom Weg, als sie Angst haben, sich zu verlieren, als sie von Gott abfallen indem sie sprechen: «Ist Gott in unserer Mitte oder nicht?» Sie verzweifeln an ihrem Weg. Da schenkt ihnen Gott den Segen. So hat Segen auch etwas Kontrafaktisches: auch wo alle Bedingungen zu fehlen scheinen, kann Gott seinen Segen schenken und einen Anfang machen.

Segen hat zu tun mit Kopf heben, «Aufblicken», wie das Wort in der Bibel heisst. Es heisst, dem andern offen zu begegnen, sich für ihn zu öffnen, für eine Begegnung, aus der vieles entstehen kann. Aufblicken heisst, einen Anfang machen zwischen zwei Menschen, die sonst in sich eingeschlossen sind.

Aufblicken
Aufblicken heisst, den Blick auf den andern zu richten. Es kommt Gutes in Gang. Das wird empfunden wie ein «Segen». Segen ist etwas, das hinzukommt. Menschen tun etwas und aufgrund ihres Tuns kommt etwas hinzu, das nicht von den Menschen stammt, das aber von ihnen ausgelöst wurde, wenn sie es in guter Weise begonnen haben. Segen kann sein, wenn ein Bauer Getreide aussät und es rechtzeitig regnet. Segen kann sein, wenn die Frucht reifen will und rechtzeitig die Sonne scheint.

Man fühlt sich gesegnet, wenn man sich eingliedern kann in ein Hin und Her, einen Ablauf, wo immer wieder etwas Förderndes hinzukommt. Es kommt aus der Natur, aus dem Kosmos und wie man es immer nennen will. Es kommt von Gott, wenn man es ganz abkürzt und gleich zur ersten Stelle geht, von wo etwas ausgeht, wo man es aufgehoben fühlen kann, weil es der Inbegriff ist des Ganzen, in das wir eingebettet sind.

Ansehen
Ansehen heisst auch, dem andern ein Ansehen geben. Ihn zu respektieren und wert zu achten. Eine solche Begegnung ist voller Respekt, wo wechselweise Prozesse in Gang kommen. Man tauscht den Respekt miteinander aus, man ist auf selber Ebene. Man verzichtet auf alles, was den andern herabwürdigen oder klein machen könnte. Man gibt allen Bildern und Vorurteilen eine Absage, die vielleicht auftauchen könnten, weil das Aussehen des andern etwas anzudeuten scheint. Man schaut ja nicht auf sein Äusseres, man schaut ihm in die Augen, man schaut in sein Innerstes. Und das Innerste des Menschen – dort betet er, dort sucht und findet er den Kontakt zu Gott.

Wie der Segen zum Volke kommt
Das Buch Numeri in der Bibel erzählt von der Wüstenwanderung. Nach dem Auszug aus der Sklaverei kommen sie nicht gleich ins Gelobte Land. Sie kommen in eine Wüste, es ist eine Zeit der Versuchung, des Abfalles, der Meuterei, eine Zeit, in der das Volk viele andere Wege versucht. Und es ist eine Zeit der Hilfe.

Das ist wichtig zu wissen, als Hintergrund für die Erzählung, wie der Segen zum Volke kommt. Man könnte ja sagen, Segen sei eine Erfahrung im gelobten Land. Dort regnet es, alles gedeiht, die Scheunen und Kasten füllen sich. Aber nein, Segen ist eine Erfahrung in der Wüste. Sie kommt erstmals zum Volk, als sie in der Wüste sind, als sie abweichen vom Weg, als sie Angst haben, sich zu verlieren, als sie von Gott abfallen indem sie sprechen: «Ist Gott in unserer Mitte oder nicht?» Sie verzweifeln an ihrem Weg. Da schenkt ihnen Gott den Segen.

Das Buch Numeri berichtet davon in Form von Erzählungen, dann wieder bringt es fast tabellarisch formulierte Ordnungen. In der Ordnung der Priester wird festgelegt, mit welchen Worten sie das Volk segnen sollen, nein genauer: Sie sollen Gottes Namen auf das Volk legen, auf dass Gott sie segnet.

«Und der Herr redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.» (Num 6,22-27)

Sehnsucht nach Segen
Diese Worte sind einem Pfarrer vertraut. Es sind liturgische Texte, die die Zeit überdauert haben von der Entstehung des ersten Testaments bis in die Feiern der christlichen Kirchen heute. Es sind wirksame Texte. Sie kommen bescheiden daher, prunken nicht mit Erkenntnissen, sagen einfach etwas zu.

Es ist etwas, das die Hörenden suchen, dafür sind sie in den Gottesdienst gekommen: dass sie hier Gott begegnen, dass sie beten können, dass sie sich «gemeint» und angesehen fühlen mit ihrem Leben, dass sie die Sorge für ihre Kinder und Angehörigen hier anmelden können wie bei einem Schalter.

Ein Schalter für die Seele
Es ist ein Schalter, nicht für das Einwohnermeldeamt, nicht für das Sozialamt oder die Arbeitsvermittlung, es ist ein Schalter für die Seele und diese sehnt sich – auch wenn sie es nicht weiss – nach Segen: dass dieser Mensch, der da in der Kirche sitzt, der sich verloren hat, der sich selber ablehnen muss, weil er dem Leben so viel schuldig bleibt, dass er sich wieder finden kann.

Und das kann er, wenn er fühlt, dass ein Gesicht sich auf ihn richtet, und es verurteilt ihn nicht. Dass er im Blick eines Grösseren ist, und er ist dort angenommen. Dass dieser seine Verfehlung kennt (er nennt sie im Gebet) und er vergibt. Dass er die Not kennt, die ihn immer wieder abirren lässt vom richtigen Weg, und sei es auf den letzten Metern. Und er kommt ihm entgegen wie der Gastgeber im 23. Psalm: «Du salbst mein Haupt mit Oel, lauter Güte und Gnade werden mir folgen und ich bleibe in deinem Haus ein Leben lang.»

 

Foto von Muhammed Al Rashid: Pexels
Aus dem Büchlein «Getragen, Gewogen. Geliebt. Verloren. Gefunden und andere altmodische Worte» von Peter Winiger 2024