Bettag 2.0

Ein Unglück schlägt manchmal eine solche Kerbe, dass man nicht weiterfahren kann. Ein Verbrechen kann einen sprachlos machen. Menschen halten unwillkürlich still. Sie legen etwas am Ort des Ereignisses nieder, zeigen Anteilnahme. Am nächsten Tag versammeln sich Menschen und halten eine Schweigeminute.

Bei grossen Ereignissen fühlt sich die ganze Gesellschaft herausgefordert, der Staat möchte ein Zeichen setzen, so gibt es nach Anschlägen Gedenkfeiern. Man versammelt sich in stiller Solidarität, dankt den Hilfskräften, bekräftigt die Zusammengehörigkeit und die Werte, die das Zusammenleben leiten. Man stellt sich hinter den Betroffenen auf, schliesst einen Kreis der Geborgenheit.

Die Worte, die Gesten, werden je nach Situation verschieden sein. Gemeinsam ist, dass die Betroffenheit die Menschen zusammenführt. Sie sagen sich gegenseitig Hilfe zu, binden das Band der Gemeinschaft wieder fester, das durch das Unglück erschüttert, durch das Verbrechen zerschnitten worden ist.

So entsteht, aus dem Bedürfnis der Menschen, immer wieder neu, was der Dank-, Buss- und Bettag meint, der am 15. September in der Schweiz gefeiert wird (in Deutschland im November). In den Kirchen ist er Tradition geworden, der Tag steht jedes Jahr im Kalender. Der «neue Bettag» entsteht spontan. Er ist nicht an die Kirchen gebunden. Aber auch hier werden Gebete gesprochen, Kerzen entzündet. Es wird Trost gespendet, und sei es nur durch das Sich-Einfinden am Ort. Das zeigt Anteilnahme und den Willen, die Situation gemeinsam zu tragen.

Es ist vielleicht ein «wilder», ungeregelter Bettag, der spontan in der Zivilgesellschaft zustande kommt. Er ist nicht immer von Behörden besprochen und angeordnet worden. Aber er macht auch Dinge möglich, für die ein geordnetes Vorgehen noch nicht bereit ist. Vor allem widerspiegelt er die Bevölkerung in ihrer Zusammensetzung. Wer gerade vorbei kommt, kann an einem solchen Ort stille stehen, beten, Blumen niederlegen. In allen Sprachen, in allen Religionen und Glaubensrichtungen geschieht das. Und es ist ein vielsprachiges Gebet, ein interkulturelles Gelöbnis für ein Zusammenleben in Frieden.

So gibt es auch für den kirchlichen Bettag, obwohl dieser aus dem Spätmittelalter stammt und man ihn für verstaubt und vergangen halten möchte, ein neues Leben. Es ist eine Lebensader der Gemeinschaft, weil hier Dank, Bitte, Andenken laut werden, weil Solidarität spürbar wird und der Wille, gemeinsam einen Weg zu gehen und sich von Unglücksfällten und Verbrechen nicht irre machen zu lassen.

 

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