Der Schüchterne

Ich habe mit den Kindern den Film „Sams“ gesehen. Da ist der schüchterne Mann und sein Gegenpol, das Sams, ein Kobold – er ist durch Sprachartistik entstanden, wie es introvertierte Menschen lieben, als das, was dem „Sams-Tag“ den Namen gibt.

Das Sams
Da kann man lernen, dass Schüchternheit keine Charakter-Eigenschaft ist, sondern eine Interaktion, nichts, was einem einzelnen Menschen anhängt, sondern etwas, was sich immer wieder neu zwischen Menschen ereignet. Der eine wird kleiner, der andere grösser, der eine nimmt zu, der andere ab, der eine kann sich überheben auf Kosten des andern, der andere lässt sich beschämen.

Ein Blick, der erfrischend frei ist von Analyse und Schwere und Rückwärtsblicken und schicksalsschweren Bedeutungen. Denn Interaktionen lassen sich verändern. Natürlich spielt die Vergangenheit hinein bei der Genese, der Anamnese, dem Langnese-Eis, das dem Kind zu früh im Hals stecken blieb. Es ist aber immer auch wieder Gegenwart und öffnet den Blick in eine neue Zukunft, wo die Karten neu verteilt werden können.

Der „Ruf“ hat wohl Gewicht, man kann sich einen Namen machen, der hilft oder hindert, aber stärker als der Name ist das Auftreten. Stärker als die Vergangenheit ist die Gegenwart. Ich brauche nicht in Lähmung zu erstarren mit dem Gefühl: Jetzt ist alles aus, jetzt hat auch diese und jener noch eine schlechte Meinung von mir, jetzt kann ich mich gar nicht mehr unter Menschen sehen lassen…

Zwar bewahrheitet sich eine solche Haltung wirklich, aber nicht, weil der Ruf alles bestimmen würde, sondern weil ich mit dieser Erwartung einen Auftritt mache, der den Ruf bestätigt. Und die Leute denken: Es ist doch etwas dran. Haben wir das nicht schon von anderen Leuten gehört? Es stimmt wirklich… Das Denken über die Vergangenheit blockiert die Gegenwart.

Der analytische Approach, der in der Vergangenheit nach Ursachen sucht, ist lähmend, weil das die Haupteigenschaft der Vergangenheit ist: dass sie nicht mehr verändert werden kann. Da hilft nur noch die Katastrophe weiter: der Mann wird von einem Sturm erfasst, der reisst ihn aus allen Bezügen und schleudert ihn übers Meer, in ein anderes Land. Und siehe da: in anderen Umständen geht es plötzlich…! Er musste die Vergangenheit hinter sich lassen. Und mit der Gegenwart stellt sich Zukunft ein.

Gulliver
Schüchternheit ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine Interaktion, ein Spiel wie die Reise Gullivers zu den Liliputanern und den Riesen. In anderen Ländern gelten andere Sitten, andere Regeln. Bei den Liliputanern macht man sich klein, to put it on a little place. Automatisch gibt es ein Gegenüber, das riesenhaft wird. Das braucht ein Gegenstück, das Gross-Werden und sehen, wie andere klein sind im Vergleich – bis es durchschaut wird. Beide Spiele werden meist zugleich gespielt. Der, der sich klein macht, ist zugleich der, der sich zum Riesen macht.

Jetzt wird er erlöst, er darf ein Mensch werden wie ein anderer. «Aus dem Paradies vertrieben und ein gemeiner, sündiger Mensch geworden», wie ich es kürzlich irgendwo las. Ein glücklicher, erlöster, sündiger Mensch.

Dieses Hin-und-Her-Schwanken zwischen Aufblähen und Kleinmachen kennt z.B. der Jüngste, der sich als kleiner erlebt als die andern. Er kann nie hoffen, dass er den Entwicklungs-Vorsprung der Älteren ausgleichen kann. Darum macht er die Not zur Tugend und macht sich klein, wo es Vorteile bringt. Aber er ist zugleich das Nesthäkchen, er wird bevorzugt über sein Klein- und Kindchen-Sein. Er hat Anteil an der Macht des Vaters oder der Mutter. Das bläst ihn gewaltig auf. So klein und so stark! Etc.

Jedenfalls gehen beide Prozesse einher: gross machen und klein machen. Und es kommt vielleicht die Zeit, wo einer das Kleinmachen nicht mehr kontrollieren kann, wo er immer kleiner wird, sich immer mehr zurücknimmt, bis er keinen Boden mehr unter den Füssen, keine Luft mehr zum Atmen hat. Und es wird ein höllisches Spiel und er schreit um Hilfe. Das ist dann vielleicht die Rache und die Strafe für eine andere Zeit in seinem Leben, als er sich gross machte auf Kosten anderer. Da waren sie klein und hässlich und er fand nichts dabei. Er war ja schön und gross und edel (nicht wirklich selbst-bewusst, nur kompensatorisch aufgeblasen).

Er findet nicht heraus, wenn er die andern nicht achten lernt wie sich selbst. Dazu verhilft es ihm, wenn er jetzt auch mal auf die Insel der Liliputaner oder der Riesen kommt, wenn er jetzt auch einmal in den Kochtöpfen der Menschenfresser brutzelt, die er früher unter andern Hintern warm gemacht hat…

Aber Grossmachen und Kleinmachen laufen wohl auch ineinander. Hat der, der sich klein macht, nicht insgeheim Verachtung für die andern, vor denen er sich klein macht? Hier, ich gebe euch ja, was ihr wollt, aber lasst mich in Ruhe. Ihr bildet euch etwas ein auf eure IT-Kenntnisse, und ich lobe sie, ich finde aber nichts dabei, mir sind andere Dinge wichtig. Und eigentlich finde ich es kindisch, sich deswegen so aufzuspielen…

Fühlt sich der, der sich vor andern aufspielen muss, nicht insgeheim weniger wert als die, vor denen er sich so aufbläst? Aber er verliert dadurch den Kontakt zu sich selbst, zu dem, was er selber denkt und fühlt und wüscht. Er spielt Theater und verliert sich im Rollenspiel. So kann das Leben nicht weit gedeihen. Es kommt der Engpass, aus dem es herausmuss, wenn es denn noch ein Leben werden soll und nicht im Drehbuch stecken bleiben.

Gross und klein in der Erlösungsgeschichte
„Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder. Denn er hat grosse Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig. Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten.

Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stösst die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unseren Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.“ (Lk 1, 46-55)

 

Foto von Vasilis Karkalas, Pexels
Aus Notizen 2003