Eine Sprache für das, was sich dem Handeln entzieht

Es gibt Probleme, die kann man lösen. Man kriegt sie in den Griff. Andere lösen sich, wenn wir uns anvertrauen. Es gibt Fehler, da kann man eine Diagnose stellen. Und es gibt Knoten, wo das Leben stagniert. Da muss man eine Geschichte erzählen.

Nachtgedanken – kann ich sie noch packen, jetzt am Tag? Ich lebe hinter einer Scheibe, wie das Kind im Glasberg. In der Nacht steigt ein Bild dazu auf: der Mutterschoss. Ist das die Wahrheit über mein Leben? Suche ich regressiv die Rückkehr in den Mutterschoss?

Diagnose
Mag sein. Der individual-psychologische Zugang interessiert mich nicht mehr. Es erstellt ein intellektuelles Abbild, das als solches nicht mehr wirken kann. Das mythologische Bild ist dagegen noch in Kontakt mit den Zentren des Fühlens und Handelns. Es blockiert nicht, sondern bringt in Fluss. Es diffamiert nicht, sondern stellt uns unter den Schutz von Urbildern. Schon der mythologische Held hat so empfunden und gehandelt, schon er musste da durch. Es ist ein erprobter Weg. Er gehört zum Menschenleben.

Mythos
Wer da durch geht, ist nicht krank, pathologisiert, und muss therapiert werden von einem Fachmann. Er geht haargenau den richtigen Weg, den, der ans Ziel führt, aber zuerst durch die Schwierigkeiten hindurch. Und die Verantwortung wird ihm selbst zurückgegeben, nicht an einen angeblichen Fachmann delegiert. Aber er ist nicht schutzlos, er findet Hilfe auf seinem Weg: nicht einen Universitäts-Absolventen, sondern „den alten Mann“, „die alte Frau“, die mythologische Gestalt, die tief in uns verborgen ist und die ihre Stimme hören lässt, wenn es Zeit ist.

Geburt
Wenn das Bild vom Mutterschoss im Traum auftaucht, dann heisst das wohl: Es geht vorwärts. Es ist jetzt nicht die Zeit der Rückkehr, sondern der Geburt. Das wäre eine zweite Geburt, aber nicht als „Erweckung“, sondern als Ausgang aus dem Labyrinth. Und es ist wohl auch nicht ein einmaliges, datierbares Ereignis, ab dem ich mich als „Wiedergeborenen“ bezeichnen kann. In einzelnen Erfahrungen scheint es sich anzukündigen, in andern nicht.

Das Bild der „zweiten Geburt“ ist unscharf: Vielleicht gibt es nicht zwei, sondern drei, vier, fünf Geburten, weil wir immer wieder neu ins Labyrinth hinabsteigen? Muss ich nicht die Kindheit verlassen, um als Jüngling geboren zu werden? Die Jung-Männer-Zeit, um Vater zu werden? Die Vater- und Familienzeit, um die Kinder frei zu geben? Die Erwerbs- und Berufs-Zeit, um das Land dahinter zu erkunden? Muss ich nicht das Land der Mobilität und des autonomen Handelns wieder loslassen, um Behinderung, Immobilität, Abhängigkeit kennenzulernen? Muss ich nicht dem Leben absterben, um in den Tod hineingeboren zu werden? (Mythologisch vom Leben zu reden, bewegt sich nicht nur zwischen Geburt und Tod. Der Mythos spannt den Rahmen auf und fragt nach dem Ganzen. So führt der Weg vom Ursprung zum Ziel. Und immer wieder auf dem Weg findet sich ein Stück Vollendung.)

 

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Aus Notizen 2001