Nachts las ich in der Nachrichten-App vom «Supreme Court» in den USA, wie sie Trump Recht geben und ihn gegenüber einer Strafverfolgung für immun erklären. Viele Erinnerungen stiegen bei mir auf, viele Bilder, war es ein Traum? Ich fühlte mich von dem Entscheid selbst betroffen, als ob mir etwas genommen worden wäre, das mir doch nicht gehörte. Oder war ich auch ein Bürger der USA? Stand die US-Geschichte für etwas, das mich und mein Leben auch betraf?

In vielen Filmen wurde das erzählt, es war ein Teil des amerikanischen «nation building», aber wir europäischen Zuschauer haben es miterlebt und wurden mit-einbezogen, indem wir uns mitreissen liessen von diesen Erzählungen von Aufbruch, Mut, Abenteuer und endlichem Erfolg.

God’s own country
Als ich die Nachricht hörte, erinnerte ich mich an einen Besuch im südenglischen  Plymouth. Von diesem kleinen Hafenstädtchen waren die Pilgerväter 1620 in die Kolonien aufgebrochen. Wegen ihres Glaubens verfolgt, kehrten sie Europa den Rücken und suchten ein Land, wo sie ihre Überzeugung leben konnten. Viele Verfolgte schlossen sich in späteren Zeiten an. In ihren Hoffnungen wurden die Kolonien zum verheissenen Land der Bibel, wo Milch und Honig fliesst: «God’s own country».

Befreier
In Plymouth erlebte ich auch eine Erinnerungsfeier an den D-Day von 1944. Damals begann die Invasion gegen die Wehrmacht und läutete das Ende des zweiten Weltkrieges ein. Der 2. WK ist der seltene Fall, wo Krieg mit Moral einhergeht, wo eine Kriegspartei als Befreier begrüsst wurde: von den überfallenen und unterworfenen Völkern, denen ein Neuanfang geschenkt wird, aber auch von den ehemaligen Feinden, die von einer totalitären Diktatur befreit wurden.

Vormacht der freien Welt
So begann für die USA nach dem 2. WK ein eigentlicher Siegeszug. Sie waren die «good guys», der „American Way of Life“ eroberte die Welt. Das ging zusammen mit Wohlstand und Waschmaschine, Kino und Kaugummi, Jazz und Rock n Roll. (Auch da: mit dem Marshallplan halfen sie selbst ihren ehemaligen Feinden.)

Es folgte der Kalte Krieg. Mit den «Rosinen-Bombern» schlüpften die USA bei der Blockade von Berlin noch einmal in die Rolle von Befreiern. Sie etablierten sich als Vormacht der freien Welt.

Brandmauer
Das waren die Erinnerungen in der Nacht. Jetzt aber, so dachte ich: «Setze Richter ein und sie immunisieren dich für alle vergangenen und zukünftigen Verstösse.» Polen und Ungarn kennen auch eine solche autoritative Versuchung, auch in Israel und vielen anderen Ländern wird versucht, die Gerichtsbarkeit an die Kandare zu nehmen. Auch in Italien und Frankreich drängen autoritative Parteien an die Macht. Hier halfen aber die EU oder die Wähler legten eine Barriere ein, bauten eine Brandmauer, einen Damm gegen die Überflutung.

Lady Liberty
So dachte ich in jener Nacht. Als ich die Nachricht hörte vom Supreme Court, fühlte ich mich, als ob ich selbst etwas verloren hätte. Ja, ich bin jenem Bild von der «Vormacht der freien Welt» selbst erlegen. Es kam ja nicht ideologisch daher, sondern eingepackt in spannende Erzählungen vom Cowboy, der für das Recht kämpft, vom Treck der Siedler, die das freie Land eroberten, von den Pilgervätern und den Immigranten aus der ganzen Welt, die aus Unfreiheit und Verfolgung flohen und hier einen Hafen fanden. Die Freiheitsstatue (auch Lady Liberty genannt) war das Erste, was die Einwanderer und Flüchtlinge von weitem sahen. Sie ist ein Geschenk der Französischen Republik an das amerikanische Brudervolk in Anerkennung für seine Rolle bei der Verbreitung der Menschenrechte.

«The Pursuit of Happiness»
«Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.» So heisst es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, an die am 4. Juli wieder erinnert worden ist.

Ja, es ist pathetisch, und wahrscheinlich glaubt heute keiner mehr daran, ausser die Generation, die das in der Kindheit mit den Cowboy-Geschichten aufgesogen hat. So kann man in den USA auf solche Folklore im politischen Kampf vielleicht verzichten. Der Kampf um geopolitische Vorherrschaft wird aber auch mit solchen Symbolen entschieden. Mit Macht allein erreicht man die Phantasie der Menschen nicht. Diese Geschichten, die jetzt für Kitsch erklärt werden, während wahre Politiker sich das Recht selber machen, haben den USA für Jahrzehnte Sympathie und Zuwendung geschaffen. «Ich bin ein Berliner», sagte Kennedy. «Ich bin ein Amerikaner», hörten viele das Echo in ihrem Innern.

 

Foto von Carsten  Busch

Die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 beginnt mit folgenden Worten: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.»