Missbrauch der Mythen

Manchmal erscheint einem die Predigt als blutleer. In jedem Kino geht es phantasievoller zu und her. Auch das Christentum hat Erzählungen von Gestalten, die vom Himmel kommen. Da gibt es Wunder wie im Fantasyfilm und übermenschliche Kräfte. Und es ist älter als die Superman-Geschichten.

Es braucht einige Zeit, bis man begreifen lernt, dass sich die Kirche durch ein Feld tastet, das voller Fussangeln ist. Gern würde man in die Tasten greifen und aus der Fülle zitieren, aber der Weg ist verstellt, man muss die Füsse vorsichtig setzen. Als ob die Geschichte der christlichen Verkündigung ein Minenfeld wäre, wo so viel schon schief gegangen ist. Und es ist nicht das Märchenhafte an diesen Erzählungen, das abschreckt. Es ist das Schreckliche daran, was die Geschichte manchmal wie ein schreckliches Märchen erscheinen liess: wenn politische Bewegungen Religion zitierten und mit absoluter Gewalt auftraten.

1941 hat der Theologe Rudolf Bultmann gefordert, die christliche Botschaft müsse «entmythologisiert» werden. Ich habe das lange als Frage verstanden, wie die Botschaft verstanden werden kann, und Bultmann sagt selbst, in einer technischen Zeit, in der man Radio höre und Penicillin gegen Krankheit verwende, könne man nicht an einen Gott glauben, der Mensch geworden sei. Die Botschaft müsse für das Verständnis übersetzt werden.

Aber «Mythos» war damals nicht nur die Bezeichnung für eine Textsorte wie «Bericht» oder «Märchen», es war die Gestalt, in der eine zutiefst von Krieg und Krise verunsicherte Zeit sich ihre Zukunft dachte. Das Alte war desavouiert, hier konnten die Menschen ihre Hoffnungen nicht mehr unterbringen, und so entwarfen sie sich Mythen einer besseren Zukunft. Und es brachte Unheil über die Menschen, was den Begriff Mythos für lange Zeit vergiftet hat. Vier solcher Mythen möchte ich hier ansehen.

„Der Mythus des 20. Jahrhunderts“
Aus der Zeitgeschichte kann ich die Bewegung zur Entmythologisierung der Kirche besser verstehen. Jene Jahre waren auch eine Zeit neuer Mythen, die es abzuwehren galt. Das gilt v.a. von Alfred Rosenberg und seinem Buch „Mythus des Zwanzigsten Jahrhunderts“. Es gilt als weltanschauliches Hauptwerk des Nationalsozialismus und wurde in Millionenauflage gedruckt. Nach dem Krieg wurde Rosenberg in den Nürnberger Prozessen als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete zum Tod verurteilt. In dem Buch will er die «seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe» der Zeit deuten. Er spricht von einer „Rassenseele“ und entwirft eine „Religion des Blutes». Das Buch ist 1930 erschienen und wurde in ernsten Blättern kaum besprochen, eine Ausnahme waren kirchliche Stimmen, die wegen der feindlichen Haltung gegenüber dem Christentum besorgt waren.

Nachdem Rosenberg 1934 zum Beauftragen des Führers für die weltanschauliche Schulung und Überwachung der NSDAP bestellt worden war, musste befürchtet werden, dass das Werk zur Rechtfertigung der NS-Kirchenpolitik dienen könnte. Nach Rosenberg war es die grösste Aufgabe unseres Jahrhunderts, „der Sehnsucht der nordischen Rassenseele im Zeichen des Volksmythus ihre Form als Deutsche Kirche zu geben.“ (Ich zitiere aus „Bücher, die das Jahrhundert bewegten“, hg von Günther Rühle, Ffm 1980, S. 107ff)

Die Kirche und der Mythos
So begann der Kirchenkampf gegen die ideologische Gleichschaltung als Kampf gegen den „Mythus“. Es ist daher begreiflich, wenn nach den 30er Jahren dem Wort „Mythus“ allgemein misstraut wurde. Hier verwischten sich nicht nur kulturelle Denktraditionen, hier ging es nicht nur um Ideologie. Unter diesem Stichwort war ein ganzer Kontinent in Elend gestürzt und die Kirche zerstört word

 

Die Rasse

Nach dem Vorbild des Idealismus im 19. Jh. wollte Rosenberg einen „neuen Mythos“ schaffen. Davon erwartete er eine Veränderung der Wirklichkeit, weil dieser die Seele zuinnerst ansprechen und Kräfte freisetzen könne. „Der neue Mythus und die neue typenschaffende Kraft, die heute bei uns nach Ausdruck ringen, können überhaupt nicht widerlegt werden. Sie werden sich Bahn brechen und Tatsachen schaffen.“ (110)

Dem deutschen Volk sollte wieder die Idee eines höchsten Wertes vermittelt werden: die Rasse, das Blut. „Gegenwart und Vergangenheit erscheinen plötzlich in neuem Licht und für die Zukunft ergibt sich eine neue Sendung – die Auseinandersetzung zwischen Blut und Blut, Rasse und Rasse, Volk und Volk. (…) Das ist die Aufgabe unseres Jahrhunderts: aus einem neuen Lebensmythus einen neuen Menschentypus schaffen.“ (110)

Wiederbelebung einer Mumie
„Die Rassenseele zum Leben erwecken“, das erinnert an den Film „Die Mumie“ von 1932, wo eine ägyptische Mumie wiederbelebt wird. (Archäologen stossen im Grab eines altägyptischen Priesters auf die „Schriftrolle des Lebens“, mit der Isis ihren Gemahl Osiris von den Toten erweckte. Als sie einige Passagen laut lesen, erwecken sie die 3.700 Jahre alte Mumie zu neuem Leben.)

Der Film lässt sich auch als Satyrspiel auf diese Rassen-Phantasien lesen: Da ist irgendetwas, ein Restbestand der alten Metaphysik, der die aufklärerische Kritik überstanden hat und als Gruselbild in der Phantasie der Menschen weiterlebt. Der Film hat zahlreiche Nachfolger gefunden bis in unsere Jahre hinein. Eine indirekte Nachfolge sind auch die Wiederbelebungs-Phantasien à la „Jurassic Parc“. Der Auferweckungs-Zauber des Osiris erscheint hier in säkularisierter Form als Gen-Technologie.

Der Arbeiter

Die Idee des neuen Mythus wurde weiter fortgesponnen. So in „Der Arbeiter“ bei Ernst Jünger. Das Buch, 1932 erschienen, erinnert an das andere totalitäre Reich jener Zeit, die UdSSR unter Stalin, auch wenn Jünger kein Kommunist, sondern eher ein konservativer Anarchist war. Er bezeichnete sich als „preussischen Anarchisten“.  (A.a.O. S. 119) Nach dem Chaos des 1. Weltkrieges suchte er nach neuer Gestaltung.

Der Konservativismus wird bei ihm revolutionär, weil er nicht mehr rückwärts gerichtet einen Inhalt verteidigt, sondern vorwärts gerichtet die inhaltsleere formale Haltung übernimmt und so der kommenden Ordnung entgegen geht. „Wesentlich sind ästhetische Werte, wenn es sich auch um die gnadenlose Ästhetik technokratischer Samurais handelt. Meinungen, Ideologie, Programme sind Schall und Rauch, Form Gestalt, Haltung ist alles.“ (120)

Totale Hingabe
„Durch totale Hingabe (!) an den technischen Prozess, dessen Sieg ohnehin nichts zu widerstehen vermag, durch die Haltung eines sozusagen aggressiven Fatalismus soll der neue Nomos der Erde ans Licht gebracht werden.“ (Auch hier wird die Religion beerbt, „Hingabe“ erscheint säkularisiert als Fatalismus und Fanatismus.)

„Der archaische Gedanke magischen Gotteszwangs erhebt sich wieder im Zeitalter totaler Entzauberung; der „Arbeiter“ ist Vollstrecker einer theurgischen Transsubstantiation, die im strengen Sinn des Wortes kosmogonischen, kosmosstiftenden Charakter hat. (…) Nicht die göttliche Liebe ist es, wie Dante singt, die Sonne und die Sterne bewegt, sondern die Arbeit, der anonyme und universale Demiurg.“ (120f

Zwischenfrage
Neben der „Rasse“ wird hier ein anderes Moment der sozialen Welt verabsolutiert und zum kosmogonischen Agens erklärt. Dadurch erhält es höchste Würde, es tritt an die Stelle der Liebesmystik, die das Abendland 2000 Jahre lang kultiviert hat.

Die Fabrikwelt greift auf die Seele über. Und Gott ist ein „Arbeiter“, aber nur als leeres Prinzip. In dieser „Religion“ gibt es keinen individuellen Aufstieg, keine Teilhabe, keine Vergegenwärtigung im Gebet, keinen Kult, in dem „heute schon“ etwas vom Ankommen erlebt werden kann, keine Vollendung. Alles läuft im stumpfen Rhythmus der Maschinen.

Aufklärung?
Der Kampf der Aufklärung gegen „Mythen und Tabus“ ist in ihr Gegenteil umgeschlagen: eine Remythologisierung und neue Tabuisierung. Gott und die Gestalten der alten Metaphysik werden ausgetauscht. Wo empirische Gehalte der sinnlichen Welt dafür eingesetzt werden, wie Partei oder Vaterland, schlägt die absolute Geltung religiöser Werte in Totalitarismus um, der absoluten Gehorsam verlangt.

Die Abwehr der Mythen führt nicht zum angestrebten Erfolg. Die angebliche Rationalität der aufgeklärten Gesellschaft und der technischen Zivilisation führt in einer Gegenbewegung zu einem Irrationalismus, der totalitär entarten kann, weil keine Alternativen mehr sichtbar sind, weil die Vernunft nicht mehr in Traditionen eingebettet ist.

Die Seele im technischen Zeitalter

Arnold Gehlen greift das auf in „Die Seele im technischen Zeitalter“, 1957. Die Aufklärung und ihr Pathos der Autonomie laufen aus, sie sind im Kosmos der industriellen Produktikon und Verkehrs-Wirtschaft aufgezehrt. (A.a.O. 193f)

Hier wird nicht mehr das Christentum beerbt und aufgehoben. Jetzt ist bereits ihr Nachfolger, die aufgeklärte, enttabuisierte Gesellschaft, an der Reihe.

Die zunehmende Rationalisierung im technischen Prozess hat ihr Gegenstück in einer „gegenläufigen Primitivisierung“ (196). Die Künste, denen die Mathematisierung weniger gelingt, fallen ins Spielerisch-Unverbindliche zurück. Und die Massenmedien werden immer mehr auf den Massengeschmack konfektioniert. Die Sprache verkümmert und wird durch gestanzte, formelhafte Wendungen ersetzt.

Weil der einzelne das, was er tut und was ihm widerfährt, nicht mehr durchschauen kann, sucht er wie ein Primitiver nach Schuldigen, wenn ihm Schicksal widerfährt. So fällt die hohe Rationalität der technisch-industriellen Gesellschaft in Primitivität zurück.

In David Riesmans Buch „Die einsame Masse“ und dem „aussengeleiteten Menschen“ sieht er das Zeichen der Zeit. Der „innengeleitete Mensch“ war noch im Sinn der Aufklärung durch moralische Autonomie gebunden. Jetzt beginne die „Nachaufklärung“ mit ihren sog. Leitbildern aus vorgestanzten Verhaltensmodellen.

Die Herrschaft über die Natur als Falle
Die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947) geht in ähnliche Richtung, auch wenn die Kritik von anderer Seite kommt. Auch hier ist die Aufklärung gescheitert. (Sie wollen sie aber retten.) Sie sucht Autonomie und Freiheit im Sinn eines „Ausgang aus dem Naturzwang“.

Die Autoren formulieren „die These, dass sich bereits zu Beginn der Menschheits-Geschichte mit der Selbstbehauptung des Subjekts gegenüber einer bedrohlichen Natur eine instrumentelle Vernunft durchgesetzt habe, die sich als Herrschaft über innere und äussere Natur befestigte. Aufgrund dieses „Herrschaftscharakters“ der Vernunft sei die Aufklärung, obwohl sie eigentlich die mythische Weltsicht überwinden wollte, in der modernen Gesellschaft in eine neue Mythologie zurückgeschlagen.“ (Wikipedia)

 

Die Rückkehr von Schicksal und Mythos

Hinter der Forderung nach „Entmythologisierung“ steht also eine ganze Fülle von „Neuen Mythen“, die im frühen 20.Jahrhundert als Ideologien massenwirksam wurden und teils zu totalitären Herrschaftsgebilden führten.

Rasse, Blut und Boden in der Nazidiktatur, Arbeit im Sowjetstaat, waren relativ sinnlich erfahrbar. Das eine greift Wurzeln aus dem Nationalismus auf, das andere das Pathos der Arbeiter-Revolution. Doch auch die Positionen der Geschichte, die für sich beansprucht haben, dass sie die Welt nicht mehr wie einen Mythos erzählen müssen, weil mit ihnen die menschliche Freiheit beginne („wo es hiess, ich muss, soll es in Zukunft heissen ich will“) – auch diese Positionen sind der Mythen-Kritik verfallen. Denn ihre bessere Welt hat nicht die Freiheit befördert, sondern den Zwang noch intensiviert und auf immer breitere Felder des menschlichen Zusammenlebens ausgedehnt, in immer tiefere Schichten des menschlichen Erlebens eingebracht.

Was eben noch formbar war und sich dem Willen fügte, ist hart geworden und bietet Widerstand. Es wird wie Natur erfahren, es ist kalt und fremd gegenüber dem Menschen und seinen Regungen. Das Geschöpf wendet sich gegen seine Urheber. Jetzt muss man die Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft erzählen wie einen Mythos. Die Politik macht kleine Schritte und getraut sich nicht mehr, etwas Wesentliches zu verändern. Vieles ist Symbolhandeln für das Schaufenster der Wähler. Es ist auch kein Subjekt mehr sichtbar, das den global entfesselten Prozess rational lenken könnte. So taumelt die internationale Gemeinschaft von Krise zu Krise und versucht, jeden Tag, Symptome zu mildern – während sich am Horizont in Klimaveränderung und Artensterben wirkliche Jahrhundert-Probleme ankünden.

Eine Änderung auf dem Entwicklungspfad dieser Zivilisation kommt nicht durch Politik zustande, sie kommt, weil das System auf Grenzen stösst und die Dynamik auf ihre eigenen Grundlagen zurückwirkt: Klima, Krankheiten, soziale Verwerfungen, Flüchtlingsprobleme etc. bringen die Dynamik dieses globalen Systems zum Erliegen. Neben katastrophenartig verlaufenden Prozessen gibt es ein Ausklinken und Desintegrieren, so dass wieder kleine Räume mit Subsistenzwirtschaft entstehen. –

So scheint es. So wird es empfunden. Mit der Änderung der Rahmenbedingungen können sich aber auch neue Freiheitsräume auftun.

Bultmanns Entmythologisierung
Als Bultmann 1941 die «Entmythologisierung» der christlichen Verkündigung forderte, hatte er nicht unsere Zeit vor Augen, wo das «mythologische Reden» in gewisser Weise rehabilitiert wurde. (Weil Erzählungen von Göttern und Menschen und ihrem Handeln zur «mythologischen Textsorte» gehören, die aber einen eigenen Wert hat, der zu verstehen ist.)

Damals war die Rückkehr zum Mythos bzw. der Entwurf einer neuen Mythologie ein autoritatives Projekt, um die ganze Zivilisation auf eine neue oder verlorene, alte Grundlage zu stellen. Es war eine Reaktion auf Krieg und Krisen, die die Gesellschaft und die Menschen zuinnerst erschüttert hatten, so dass ihr Suchen hinter die aktuelle Lage zurückging oder diese in die Zukunft zu übersteigen hoffte. Nur diese Welt, in der man lebte, die war diskreditiert

So begreife ich Bultmann besser in seiner Forderung nach Entmythologisierung. Es geht nicht nur darum, dass man die Erzählung von Christus als Gottessohn heute nicht mehr verstehen könne in einer Zeit, in der man Radio hört und Penizillin verwendet, wie Bultmann sagt. Vor diesem historischen Hintergrund ist es die Parole des Kirchenkampfes gegen Irrationalismus und Neuheidentum.

Den Mythos rehabilitieren?
Dennoch lässt sich der Mythos heute rehabilitieren, wo er Sinn macht. Die Welt erzählen heisst akzeptieren, dass der Mensch sich nicht selber schafft. Solches Reden folgt einem metaphorischen Sprachgebrauch in der Tradition der Meditation biblischer Geschichten. Da werden keine neuen metaphysischen Entitäten an den Himmel gesetzt. Im Gegenteil, es kreist um Gott und Jesus Christus.

Es rückt Gott wieder ins Zentrum des Mythos, seine Geschichte mit den Menschen, nicht die Ersatz-Produkte der „menschlichen Emanzipation“ von der Religion, wie Rasse, Arbeit, Kapital, Markt, Technik, und wie es immer heisst. Die Geschichte hat diese Grössen als Götzen entlarvt, welche den Menschen nicht befreien und zu seiner eigentlichen Gestalt bringen, sondern immer tiefer entfremden und versklaven.

 

Nach Notizen 2015
Foto: Scott Webb, Pexels
Zitate: Für die Schilderung der politischen Mythen beziehe ich mich auf die Darstellung: „Bücher, die das Jahrhundert bewegten“, hg von Günther Rühle, Ffm 1980

Rudolf Bultmann stellte sein Programm der Entmythologisierung in seinem Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“ aus dem Jahr 1941 vor.