Übergabe

Brief eines Vaters an sein Kind

Ich hatte als Vater immer das Gefühl, dass ich die Welt verantworten müsse, die ich euch übergebe. Nicht dass ich diese Welt erzeugt oder wesentlich beeinflusst hätte, aber zwischen den Generationen findet doch eine Art Übergabe statt.

Sind die Kinder klein, sorgt man für Essen und Einkommen und alles, was es braucht. Werden sie grösser, wachsen sie immer mehr hinein. Schliesslich übergibt man ihnen immer mehr, bis man die Verantwortung ganz aus den Händen legt. Jetzt ist eine neue Generation «am Ruder». Aber wie übergeben wir die Welt? (Ich habe ein Büchlein geschrieben. Ich möchte es Dir nicht einfach nur zustecken, ich möchte auch ein paar Worte dazu sagen.)

Wie übergeben wir die Welt?
Die grossen Probleme, die mit der Globalisierung kamen, zeichneten sich schon lange ab: Zerstörung von Natur und Kultur, ein Konsum-Verbrauch viel schneller, als das Verbrauchte reproduziert werden konnte, ein Raubbau an Schätzen, die von diesem Wirtschaftssystem gar nicht geschaffen wurden und die durch dieses auch nicht wiederhergestellt werden können…

Im Büchlein wirst Du lesen, wie es mir Sorgen machte, Dich und Euch in diese Zukunft hineingehen zu lassen. «Wer könnte hier voraus gehen, wer hat das schon erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?» (S. 104) Und doch ist das der Weg, den das Büchlein geht. Es gibt einen Weg hindurch. Man kann in die Angst hineingehen, in das «Loch», das einen zu verschlingen droht. Und es ist nicht einfach «Ende der Welt» und Auflösung des Ichs, wo alles verloren geht. Viele Menschen tragen eine Verletzung in sich, ganze Völker werden heute traumatisiert. Es ist die Erfahrung von vielen Menschen: es gibt einen Weg, der hindurchführt.

Das Büchlein erzählt von der Zeit, als ich eine halbe Stelle fand. Ich hatte «Karriere gemacht», ich war «Bundeshaus-Redaktor», ich hatte das Gefühl, dass ich gezeigt hätte, dass ich das auch kann. Und im selben Moment spürte ich, wie das Interesse sich auf die andere Seite kehrte. Jetzt konnte ich mich endlich nach innen wenden, dem nachgehen, was da schon lange anstand. Eine Formel für das, was ich die nächsten Jahre machte, war: «in die Angst hineingehen».

Das grosse Abenteuer
Vielleicht ist das nicht geeignet, wenn man noch ganz im Berufs-Kampf steht, wenn man von aussen immer wieder in Frage gestellt wird. Da kann man sich nicht auch noch innerlich in Frage stellen. Man schaut, dass man reüssiert, manchmal auch nur, dass man davonkommt und den Abend überlebt. (Einsamkeit gehört zu den grossen Themen, Anerkennung, eine Beziehung haben…). Ist im Äusseren aber eine gewisse Verlässlichkeit gegeben, so kann es einem plötzlich als grosses Abenteuer erscheinen, ins Innere zu schauen, dem entgegen zu gehen, vor dem man sonst immer davonläuft. So empfand ich es damals. Meine WG-Kollegen mieteten damals einen Lastwagen, um damit einige Monate durch Afrika zu fahren. Ich hatte das Gefühl, dass ich auch auf einem Abenteuer-Weg sei, wenn ich mich meinen Ängsten stellte.

Und meine Erfahrung ist (davon ist in dem Büchlein an vielen Stellen die Rede): Es gibt einen Weg hindurch. Darum stellt sich am Schluss auch ein positives Gefühl ein, wenn man das Büchlein gelesen hat. (Es empfiehlt sich, es in einem Zug zu lesen, damit sich der Eindruck nicht verzettelt.)

Worte, die den Weg öffnen
Es ist nicht zu vermeiden, dass auf diesem Weg auch von Religion die Rede ist. Religion hat kein gutes Image heute, und vielleicht wird es Pfarrer-Kindern besonders schwer, sich positiv damit zu befassen, weil man sich ja abgrenzen muss und weil man erlebt hat, wie fehlerhaft dieser Weg oft begangen wird, gerade von dem Vater, der es doch dauernd predigt. Aber Religion braucht es dazu. Es ist die Textsorte, die dafür nötig ist, so wie das Telefonbuch für die Telefonnummer und das Rezeptbuch für das Kochen. Wenn man anschauen will, wie die «ganze Welt» heute dasteht, muss man ein Konzept vom «Ganzen» haben. Wenn man ein menschliches Leben erzählen will, muss man vom Anfang erzählen und vom Ende. Und wenn das nicht nur Geburt und Tod sein sollen, wenn man fragt, wo das Leben herkommt und wo es aufgehoben ist, dann muss man an den Anfang von «allem» gehen.

Es ist nicht so sehr eine Frage der «Frömmigkeit» und ob ein Mensch einer seltsamen Sekte anhängt, es ist eine Frage, wie man davon erzählen kann. Und für diese Themen: «das grosse Dunkle» und wie man «hindurchkommt», ob es für den einzelnen ein «Ankommen» gibt auf seinem Weg und ob der Weg der Menschheit sich im Dunkeln verläuft, dafür gibt es eine Sprache: die Religion.

Wer Erfahrungen macht mit dem Dunkel, wer Verletzungen erlebt hat oder auch nur grosse Ängste, der kennt eine Bildersprache, wie ja auch die Rede vom «Dunkel» und vom «Loch», in das man fällt, Bilder sind. Das sind religiöse Bilder, aber nicht von der Art, wie man sie in der Kirche kennengelernt hat oder wie man sie mit Religion verbindet. Im «Dunkel», im «Loch» ist Religion noch ganz am Anfang, oft unter ihrem Gegenteil verborgen, dort ist eine Sprache elementarster Erfahrung, wie man sie in alten Mythen findet. Vielleicht ist das der Grund, dass diese heute in so vielen Fantasy-Geschichten revitalisiert werden. (Ursprünglich waren sie in der Religion zu Hause, sie wurden von Kirche und Theologie aber verbannt und sie fehlt heute in der kirchlichen Verkündigung, sie wäre sonst nicht so blutleer.)

Es gibt einen Weg
Genug von Religion. Es ist fast der längste Abschnitt in diesem Brief geworden, weil ich das Gefühl hatte, dass Du daran vielleicht am meisten Anstoss nimmst. Urteile selber, wenn Du das Büchlein liest.

Es gibt einen Weg, davon bin ich überzeugt, sogar für all das, was vor uns steht und für das wir noch keine Antwort haben. Wir gehören zu dieser Wirklichkeit nicht nur durch unser Machen, sondern auch durch unsere Teilhabe. Wir sind ein Teil von ihr, lange bevor wir angefangen haben, etwas zu tun und zu machen. Aus dieser Weisheit werden wir geboren, wir treten in die Welt. Auf sie können wir vertrauen, wenn unser Weg in einen Abschnitt einbiegt, den wir nicht mehr «machen» können. So wird es Morgen, so geht die Sonne auf.
Alles Liebe, Papa

 

Das erwähnte Büchlein: «Im Innern des Wals. Was Jona sah und erlebte, als er zum Grund des Meeres reiste.» Von Peter Winiger. Edition winterwork. ISBN 978-3-96014-867-8

Foto von Igor Photography, Pexels

Aus Notizen 2022