Das Überwältigende

Ein neues Wort, das jetzt überall begegnet: Transformation. Es ersetzt die alten Begriffe von Reform oder Revolution, die politisch nicht gewollt oder kraftlos geworden sind. Vor allem soll es sich abgrenzen von einer naturwüchsigen Entwicklung, die von Krise zu Krise geht wie Geröll, das den Berg hinunter poltert und nicht mehr aufzuhalten ist, bis es nicht von selber stillsteht, weil irgendein Gleichgewicht erreicht ist, weil es den Boden möglicher Entwicklung erreicht hat.

Damit ist das Wort Programm, es soll nicht krisenhaft geschehen und nicht durch politische Gewalt, obwohl die von den vielfachen Wandlungsvorgängen ausgelösten Konflikte spürbar auch auf die soziale Anspannung durchschlagen und sich in einem politisch verschärften Ton zeigen. «Transformation» klingt nüchtern. Es ist Verwaltungs-Sprache, so wie «Handlungsbedarf». Es ist inhaltlich leer und meint ein Verfügungs-Handeln von Akteuren, die damit markieren, dass sie etwas auf der Liste haben, aber es ist noch völlig unabsehbar, wie das gemanaged werden soll.

Begegnung mit dem Überwältigenden
Vor allem ist völlig offen, ob das damit bezeichneten Programm überhaupt zu leisten, ob der Klimawandel überhaupt zu stoppen, das Artensterben überhaupt zu begrenzen, die geopolitische Dynamik überhaupt zu managen ist. Das gilt wohl auch für viele der Programme, die die UNO sich zu Beginn des neuen Millenniums auf die Liste gesetzt hat: «Freiheit von Not, Freiheit von Furcht», darunter alle Probleme des Ost-West- und des Nord-Süd-Konflikts wie Frieden, Entwicklung und die Aufhebung von Armut. Jetzt sind auch die ökologischen Probleme in voller Schärfe entbrannt.

Vorher konnte man sich die Weltprobleme noch «vornehmen» und auf eine UNO-Agenda setzen, um sie abzuarbeiten. Jetzt ist definitiv die Grenze der Politik erreicht, die Grenze des international gestalteten Verhaltens, die Grenze der Kosten, die zu stemmen sind. Es kommt immer wieder zur Begegnung mit dem Überwältigenden.

Hier droht die «Gefahr einer unkontrollierbaren Entwicklung» – das war die Warnung in der Covid-Pandemie. Es ist ein Schreckgespenst für alle Menschen und Institutionen, die Verantwortung tragen. Da stehen sie und am Horizont türmen sich die Wolken auf, der Sturm lässt nicht mehr lange auf sich warten. Aber die Feuerwehr, wenn sie kommt, scheint nichts mehr in der Hand zu haben, das da noch wirkt.

Das Echo in der Seele
Das Wort «Transformation» wird oft auf eine Makro-Ebene gebraucht, wo alle Kennzahlen aggregiert sind. Es hat aber auch eine Mikro-Ebene, wo das einzelne Subjekt ins Blickfeld gerät. Wie fühlt sich ein einzelner Mensch dabei? Wie setzen sich die Befürchtungen in seinem Handeln um? Was ist hilfreiches Verhalten auf seiner individuellen Ebene?

(Im Bereich der Ökologie wird «nachhaltiges Handeln» empfohlen. Das wird so ausbuchstabiert, dass der einzelne etwas damit anfangen und es in seine Konsumentscheide umsetzen kann. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, so habe ich gestern in einem Radiobericht gehört, ist die Forderung nach «Nachhaltigkeit» in der ganzen Textilbranche angekommen. Der Anteil von sozial und ökologisch produzierten Textilien sei mit einem Prozent des Umsatzes in der Schweiz aber eine absolute Nische.)

Betrachtet man den einzelnen, sind nicht nur die Kennzahlen interessant, hier schaut man einem Menschen ins Angesicht, ja, in die Seele, möchte man sagen, denn diese Fragen gehen ans Elementare. Da begegnet man allen Erlebnissen einer geängstigten Seele, aber auch den Bewältigungs-Strategien der Kultur, wie sie einem Menschen zu dieser Zeit offenstehen. Dazu gehört auch die Religion.

Religion
Die Religion kann man auch als aggregierte Grösse betrachten, die Kirche tritt dann ins Blickfeld, die historischen Ereignisse werden sichtbar, wo Religion schon einmal eine Rolle spielte in Kriegs- und Krisenlagen und in Situationen, wo Menschen bis zum Geht-nicht-mehr verzweifelt waren. (Das Entstehen der christlichen Kirche kann vielleicht insgesamt als Ereignis verstanden werden, das wesentlich von den traumatischen Verletzungen jener Zeit mitverursacht wurde.)

Auf subjektiver Ebene tritt der Glaube ins Blickfeld. Wie gingen die Menschen damit um? Wie konnten sie um Gotteswillen dabei aushalten und nicht verzweifeln? Was hat ihnen geholfen? Wie haben sie ihr Vertrauen bewahrt, ihren Glauben buchstabiert, dass er ihnen durch diese Zeit hindurchgeholfen hat? Er half ihnen, den Mut nicht sinken zu lassen, ihre Verantwortung zu begreifen und wahrzunehmen, für ihre Kinder da zu sein und für alle Menschen, die ihnen anvertraut sind. (So möchten ja auch wir für unsere Lieben da sein, wenn die Fragen unserer Zeit derart drängend an uns herantreten.)

Ein Zeichen
Was die Kirche seit ihrer Gründung mitbrachte, war die Taufe. Sie nahm das Zeichen auf aus ihrer Umwelt, aus den antiken Mysterienkulten der hellenistischen Welt und aus der Umkehrpredigt von Johannes dem Täufer im Geschichtsraum Israels. Der Evangelist Matthäus zeichnet ihn als «Aussteiger». Er hatte sich von der Welt verabschiedet, lebte asketisch in der Wüste und wurde darum von Menschen aufgesucht, die Rat und Hilfe suchten. (Das hat sich in der Geschichte immer wieder ereignet. Eremiten leben ausserhalb des Sozialverbandes, sind nicht Teil der sozialen Kontrolle, haben ein unabhängiges Urteil und können so Rat geben und Seelsorge leisten. Die Kirche hat diese Funktion in der Rolle des Priesters rekonstruiert, der ausserhalb der sozialen Ordnung steht.)

Ein Weg, eine neue Gemeinschaft
Die Menschen des Umlandes suchten Johannes auf und er taufte sie. Bei der Taufe Jesu, so heisst es bei Matthäus, habe sich der Himmel geöffnet und eine Stimme anerkannte ihn als Sohn und bekräftigte, dass er dem Himmel wohl gefalle. Das teilt die Taufe mit den Initiationsriten der Mysterienkulte, dass der einzelne dort individuell angesprochen wird. Die Gottheit des Kultes offenbart sich ihm, beruft ihn in die Nachfolge und in die Gemeinschaft der Kultgenossen, die das Leben in Zukunft so führen wollen, wie sie es in der Initiation gesehen und gelernt haben.

Eine neue Intensität
Da gäbe es viel zu sagen. Was mir wichtig ist: dass die Intensität der Infragestellung hier eine Entsprechung findet in der Intensität des Erlebnisses. Die Menschen, die bis auf den Grund verunsichert sind, werden bewahrt von Gewalt an sich selbst und andern, wie es bei grosser Verzweiflung vorkommen kann. Gott selbst zeigt sich ihnen, es ist eine Begegnung wie von Anfang der Welt. Der Inbegriff aller Wirklichkeit tritt dem einzelnen entgegen, spricht ihn an in einem «Du». Und an diesem Du kann das «Ich» des einzelnen neu entstehen.

Taufe, psychologisch gesehen, ist ein Geschehen der Ich-Konstitution, was die Entwicklungs-Geschichte der Kindheit neu aufrollt und die Verletzungs-Geschichte des Erwachsenenalters aufdröselt und auf eine neue Grundlage stellt. Es ist eine Heilungsgeschichte. Von hier und heute an beginnt eine neue Geschichte im Leben dieses Menschen, der die Initiation erfahren hat. Er ist jetzt Teil einer neuen Gemeinschaft und folgt einem Weg, der nicht nur aus ethischen Normen und Werten besteht, sondern begleitet wird von der Gegenwart eines himmlischen Du, das die Seinen in unverlierbarer Gemeinschaft zum Ziel begleitet.

Die Taufe ist Teil einer Erlösungsreligion. Diese erzählt die Geschichte der Wirklichkeit nicht als tragisches Geschehen. Da gibt es einen Anfang, ein Ende und eine Vollendung am Ende des Wegs. Dieser Weg ist von Anfang an viel zu gross für das ethische Wollen des Menschen. Er findet sich ja in der Welt vor, hat sie nicht gemacht. So kann er sich als Teil verstehen und im Glauben lernen, sich getragen zu fühlen von diesem göttlichen Du, das am Anfang steht aller Wirklichkeit und das noch am Ende stehen wird. Die «Nachfolge» auf seinem Weg umfasst auch viele Handlungen, die seiner Verantwortung anvertraut sind, aber sie allein würden das Ziel nie erreichen, genauso gut könnte der Mensch versuchen, mit den Armen zu rudern um in den Himmel zu fliegen. Aber auch Flugzeuge erreichen diesen Himmel nicht. Er umschreibt die Vollendung, wenn Gott alles anschaut und sagt: «Siehe es ist sehr gut!» (Gen 1,31) Da wird das verletzte Recht geheilt und Tod und Leid werden in einer neuen Schöpfung aufgehoben.

Eine Aufgabe für die Kirche
Damit hilft die Kirche, wenn sie es denn versucht, den Menschen in der Krise unserer Zeit. Sie kommt ihnen nahe in der Verkündigung, in der Seelsorge, in Gottesdiensten und in der Feier der Sakramente, die fühlbar auf einen Weg begleiten und das Abenteuer einer neuen Geburt mitten in Angst und Not erfahren lässt. Sie ist die kulturelle Kraft, die alle Gegensätze vermittelt und neues Leben möglich macht.

 

Aus Notizen 2023
Foto: Eberhard Grossgasteiger, pexels