Die Welt der Engel und der Menschen

Engel – das ist ein Thema zwischen Sprachlosigkeit und esoterischer Geschäftigkeit. Die einen haben sie aus der Wirklichkeit ausgeschieden, von der sinnvoll geredet werden kann, andere entdecken sie als etwas, was sie in ihrem Leben angeht. Nach einer Umfrage im Jahr 2016 glaubt jeder zweite Deutsche an Engel. Zehn Prozent geben an, schon einmal das Eingreifen eines Engels erlebt zu haben.

Der Beitrag vereinigt einige Texte, wo Engel mir begegnet sind – als Glaubensgut der Bibel, als Spielmaterial der Kultur, als hilfreiche Imagination auf dem Lebensweg. Trotz allem Imaginären, was dem Reden über Engel anhaftet, der Bezug auf Gott ist in den folgenden Texten immer klar. Es geht also um eine Realität, auch wenn die Möglichkeit des Redens immer erst abgesteckt und erprobt werden muss.

Der Beitrag beginnt mit einem Tagebucheintrag von Neujahr 2019. Damals hatte ich die Bibel aufgeschlagen, um ein Motto für das Neue Jahr zu finden. Und sie ging auf beim Buch Hiob: „Die Weisheit ist höher als der Himmel. Was kannst du tun? Und tiefer als die Hölle. Was kannst du wissen?“  (Hiob 11,8)

Engel, das ist so ein Thema: Das Wissen wird still, und hörbar wird, was das Vertrauen weiss.

 

Inhaltsverzeichnis

Die Welt der Engel und der Menschen. 1

Das Wunder von Mailand. 3

Die Sprache der Tiere. 4

Die Botschaft der Engel 5

 

Die Welt der Engel und der Menschen

Da gab es doch diese Stelle im Tagebuch, wo ich das ewige Kampffeld in Ambach wie in einem anderen Lichte sah. Die Feindschaft war aufgehoben. Es war, als ob die Engel der anderen meinem Engel etwas begreifbar machen wollten. Das heisst nicht, dass ich jetzt eine Engellehre entwerfen will. Aber es war ein hilfreiches Bild, das ich ausserdem nicht bewusst entworfen habe, sondern das mir im Traum oder im Halbschlaf zugewachsen ist.

 

Als ob

In Erinnerung daran habe ich Vorsätze auf einen Zettel geschrieben: ich wolle im neuen Jahr alle Dinge angehen, als ob die Engel aller Beteiligten dabei wären. Was damit gemeint ist, wird deutlicher mit der ersten Anwendung, die ich heute davon machte. Es fällt mir nicht leicht, neu auf die Menschen zuzugehen, weil ich immer noch die alten Geschichten lebendig glaube. Wenn ich also in die Stadt gehe, wie jetzt beim Einkaufen, muss ich einen inneren Anlauf nehmen.

 

Bei all den Leuten, die ich traf, stellte ich mir vor, dass ein Engel bei ihnen sei, wie auch bei mir. Mit der Zeit stellte ich ihn über den Fussgängern vor, so wie es in einem Computerspiel dargestellt sein könnte. Das ist spielerisch, niemand würde daraus eine Metaphysik ableiten, aber es wirkt. Und so ist es nicht einfach irreal.

 

Ein Spiel

Es hilft – der Rahmen wird ausgetauscht, unter dem die ganze Szene wahrgenommen und gestaltet wird. Es ist keine Begegnung mehr, wo Kleinmachen und Ablehnung erwartet wird, so dass ich mich wegwende und das negative Bild bestätige. Die Begegnung wird angeleitet von den Erfahrungen, die ich im Laufe eines langen Lebens gesammelt habe. Ich bin oft der Ältere, ich kann von den andern nicht Verständnis und Zuwendung erwarten, ich muss sie geben. So stelle ich mir vor, wie mein Engel den jüngeren hilft, nein nicht den Menschen, sondern ihren Engeln. Und wie die Engel der Älteren meinem Engel helfen.

 

So habe ich es ja auch wieder begriffen im Umgang mit unserer Tochter. Ich will ihr nicht in ihre Sachen hineinreden. So will ich es auch halten mit den Kollegen im Beruf. Die Jungen sind jetzt dran. Ich will nicht einer von denen sein, die ihre Kämpfe nie abschliessen können, die sie ewig weiterkämpfen wie Gespenster. Ich will nicht die Aufmerksamkeit auf mich ziehen und auf das, was ich angeblich alles anzubieten habe (aber leider wurde es bisher nie genug beachtet), etc.

 

Eine Brücke

Ich will anders auf die Menschen zugehen und mir die Haltung von Engeln dabei zu Hilfe nehmen: Wenn ich die Situation so imaginiere, dass sie zwischen Engeln spielt, dann ist immer der beste Wille dabei beteiligt und die beste Einsicht. In der wirklichen Welt steht sie mir nicht immer zur Verfügung. Da falle ich immer wieder davon herab. Aber mit dieser Imagination kann ich sie mir für den Moment der Handlung gegenwärtig machen. Und das genügt. So kann ich vorwärts gehen – von Moment zu Moment und Schritt für Schritt – so geht man über eine ganze Brücke. So kommt man ans andere Ufer.

 

Zwei Welten?

Die Wirklichkeit scheint hier um eine Ebene verdoppelt zu werden. Eine Ebene, wo die guten Einsichten wirken, wo die guten Erwartungen nicht enttäuscht werden und wo die Handlungen den guten Einsichten folgen. (Es erinnert an das Reich Gottes, oder an jene Utopie der Philosophen, wo die Menschen endlich können, was sie sollen, und wo sie es aus Freude und eigenem Antrieb tun. In der Bibel wird das Paradies der Endzeit so beschrieben.)

 

Auf der unteren Ebene ist das nicht so, da läuft alles in den gewohnten Stolper-Gängen. Aber die Engel können das. So kann die Phantasie hier wirken, statt schon am Anfang abgewürgt zu werden. So können die Intuitionen nach aussen treten, statt sich in blossen Phantasien zu erschöpfen. So kann etwas Wirklichkeit werden, gerade in der „empirischen“ Welt der „blossen Erfahrung“, obwohl das Wesentliche in der „intelligiblen“ Welt des Denkens und Bildermachens abläuft.

 

Diese Engelswelt ist keine „Hinterwelt“, die die Menschen betrügt. Da sind keine „Pfaffen“ dabei, die die Menschen mit solchen Phantasien knechten und hinters Licht führen – und wie die Vorwürfe immer lauteten. Ja, es ist eine andere Welt im Spiel, sie wird imaginiert. Aber es ist immer klar, dass es um das Leben hier auf dieser Welt geht, dass dieses gelebt werden soll und gelingen möchte. Und die imaginäre Welt des Bildermachens, der „Mythopoesie“, hilft dabei. Sie lenkt nicht davon ab.

 

Seelenreise ohne Wiederkehr?

Und wenn einer sich doch ablenken liesse, wäre das nicht ein Fehler dieser Welt, sondern ein Fehler in der Anwendung. In der Anwendung aller religiösen Bilder gilt der Dreischritt der Taufe: dass man die alte Welt verlässt (separatio), dass man die neue aufnimmt (initiatio), dass man in den Alltag zurückkehrt (ordinatio). Der letzte Schritt bedeutet, dass man mit dem Geschauten und Erlebten in die alte Welt zurückkehrt, um die Aufgaben dort wieder aufzunehmen. Jetzt kann man sie besser lösen mit der Hilfe des Geschauten. Wer das zu einer „Hinterwelt“ macht, der vollzieht den letzten Schritt nicht. Er bleibt im Tempel hängen, in der Welt der religiösen Bilder, vielleicht, weil er zu sehr verletzt worden ist von der Erfahrungswelt.

 

So mag es ihm gestattet sein, etwas dort zu verweilen, so wie Kinder es machen, wenn sie „träumen“, so wie traumatisierte Menschen es machen, wenn sie abschweifen. Wenn aber die Bereitschaft völlig schwindet, wieder in die „alte“ Welt zurückzukehren, dann werden diese Menschen für andere auffällig. Und sie sprechen dann von „Krankheit“. Dann wird der Umgang mit ihnen neu definiert. Sie spielen nicht mehr mit in der „Normalwelt“ mit ihren Spielregeln. Jetzt gelten für sie Regeln, die für Kranke gelten, für Aussenseiter etc. In den Bildern der mythologischen Seelenreise wäre das eine Ekstase ohne Aufwachen, eine Reise ohne Wiederkehr.

 

Aus Notizen 2019

 

Das Wunder von Mailand

Zu Weihnachten hat mir Antonia den Film „Miracolo a Milano“ von Vittorio de Sica geschenkt. Ich habe ihn in meiner Kindheit gesehen, wahrscheinlich in den 50er oder frühen 60er Jahren, als er im Fernsehen lief (er stammt von 1951). Und er hat sich mir stark eingeprägt. Mit der Zeit verschmolz die Erinnerung an den Film zu einem einzigen Bild: wie die Armen von Mailand auf einer grossen Ebene versammelt sind und hungern und frieren. Da öffnet sich der Himmel, ein Sonnenstrahl bricht durch die Wolken und alle Menschen eilen hin und wärmen sich in der Insel aus Sonne.

Ich dachte, das Bild komme irgendwann am Schluss des Films, aber es kommt gleich zu Anfang. Und nicht nur das Bild ist so, der ganze Film ist märchenhaft.

 

Engelsperspektive

Er nimmt diesen Blick auf, von dem ich oben gesprochen habe, als ob über jedem Menschen ein Engel stünde und man könnte aus ihrem Blick die Situation wahrnehmen und daraus handeln.

„Die Sicht der Engel einnehmen“ – das erlaubt einen Verkehr untereinander, als ob wir Gott noch nicht hinter uns hätten, als ob wir vertrauen und hoffen und lieben könnten wie die Menschen, von denen das Evangelium erzählt, wenn sie Jesus Christus begegnen. Es ist, als ob das Reich Gottes gleich anbrechen müsste – wir müssen nur noch unsern Sinn ändern, dann sehen wir es und es bricht unter uns an. (Mk 1,15)

 

Transformation der Erfahrung

In diesen Filmen ist die „Transformation“ schon geschehen wie sie unter einer traumatischen Welterfahrung zustande kommt: von der Erstarrung zu neuem Leben, vom Äusseren zum Inneren, wo das Neue sich zuerst in Bildern formieren muss, bevor es später wieder nach aussen treten kann. Dieses Innere muss man schützen und pflegen wie einen „inneren Altar“. Dann kann es nach aussen treten und allmählich kleine Dinge bewegen, die aber auch grösser werden können, bis sie ins Leben eingreifen.

 

Die Transformation ereignet sich zuerst in der Bildwelt: das „Loch“, wo das Trauma alles versinken sieht, weicht der „Mitte“ des Glaubens. Das Heilige lässt sich herab, es teilt das Leid und heilt es. So wird aus der Höllenfahrt hinab eine Fahrt hinauf, auf den Erdboden, wo sich das Neue in kleinen Schritten verkörpern wird.

 

Das Schöne und das Schreckliche

In diesem Film wird eine lange Entwicklung zusammengefasst, wie in allen Filmen über solche Themen, diese werden ja erst möglich, wenn jemand diesen Weg schon zurückgelegt hat. So zeigen sie die Transformation vom Schrecklichen ins Schöne, und das Schöne ist keine Flucht in Kontemplation, es ist kultiviert und an den Körper gebunden. Es ist Kunst, Religion, Mythopoesie. Es ist die Transformation der Trauma-Welt in das Märchenhafte, das in „Miracolo a Milano“, in „Lazzaro Felice“, im „Sams“, in der „Wand“ etc. stattfindet.

Aus Notizen 2019

 

 

Die Sprache der Tiere

Ich hatte den Traum vergessen. Am Morgen, als die Katze kommt, erinnere ich mich, dass etwas war – ah ja, da war ein Traum! Und jetzt erinnere ich mich daran wie an etwas Tiefes und Schönes, so wie es die Katze ist, wenn ich allein bin und sie kommt und ich die zwischen-geschöpfliche Solidarität spüre, und die Einsamkeit fällt von mir ab.

 

Es ist „der Körper“, der mich begleitet, das Warme, das Geschöpfliche, in das Gott sein „Ja“ hineingesenkt hat. Der Schrecken hat seine Dämonen dort einquartiert, dass sie dort hausen, dass sie jeden Morgen von dort aufsteigen und mich schrecken. Aber älter ist die Erinnerung an die Engel, die dort wohnten. Wenn die Dämonen ausziehen, taucht tief unten die Erinnerung an sie wieder auf, wie an etwas Schönes, an das man sich bewusst nicht erinnert, wenn man am Morgen aufwacht. Aber es begleitet einen mit dem Gefühl: Da war doch etwas? – etwas Tiefes und Schönes!

 

Zuerst erschrickt man, diese Hohen kennt man nur als Dämonen. So schrecken sie einen. Die Angst lebt noch in allen Knochen. Sie sitzt mir im Nacken. Plötzlich, mitten im Tag, bringt sie sich in Erinnerung und lässt die Hand, die schon erhoben war, in der Bewegung erstarren. Sie lähmt mich, ich werde klein und suche eine Höhle, wo ich mich verstecken kann. (Und der Gang meines Lebens, der schon anfing, einen schöneren Lauf zu nehmen, bricht wieder ab.) Aber es sind die Hohen. Sie zeigen es durch den Eindruck und Nach-Druck, den sie hinterlassen. War da nicht etwas Tiefes und Schönes?

 

Der Kopf erinnert sich an Ängste und Nöte. Aber die Katze bringt es zur Erkenntnis: Es gibt etwas wie eine tiefe Solidarität, die alles Lebendige verbindet. Sie ist vor aller Leistung, vor allem Bemühen, etwas darzustellen.

 

Da ist etwas, aus dem ersten Ursprung, das alle verbindet, die da sind. Und es ist voller Wärme und Verbundenheit. Wer darauf hört, versteht die Bäume. Er lernt die Sprache der Tiere, und der Himmel spricht zu ihm. Ich aber fliehe noch vor ihnen. Halte sie für die alten Dämonen. Verstecke mich und hoffe, dass ich nicht gefunden werde.

 

Aus Notizen 2007

 

 

Die Botschaft der Engel

Gott hat seine Boten. Die schickt er manchmal auch zu uns. Manchmal kommen sie im Traum zu uns. Und wir lernen etwas über unser Leben. Manchmal kommen sie in Gestalt von Menschen. Und sie helfen uns. Auf Griechisch heissen die Boten «Engel», Angelos. Und in der Zeit vor Weihnachten sind die Engel viel unterwegs, wenn man die Bibel liest.

 

Der Engel kommt zu Maria

Solch ein Engel kam auch zu Maria. Sie würde ein Kind bekommen, sagt er, und sie solle ihm den Namen Jesus geben. Das heisst auf Deutsch Helfer, Heiland. Aber der Engel sagte noch mehr. Drei Sätze will ich herausgreifen. Es sind Engelsbotschaften auch für uns.

 

„Sei gegrüsst, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“ So sagt der Engel am Anfang. So begrüsst er Maria. Und als diese sich fürchtet, sagt er: „Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden.“ Als Maria fragt, wie das gehen soll, da sie nicht mit einem Mann verkehrt, erzählt er ihr von Elisabeth, ihrer Verwandten. Diese hat trotz ihres hohen Alters noch ein Kind bekommen. Und er sagt: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich.“ – Diese Engelsbotschaften möchte ich ansehen:

Der Herr ist mit dir! – Fürchte dich nicht! – Bei Gott ist kein Ding unmöglich!

 

Die Rettung der Zukunft

Manchmal, wenn wir allein sind, gehen unsere Gedanken in die Zukunft. Wie das wohl wird? Vieles fällt uns nicht mehr so leicht wie früher. Wenn die Schmerzen wieder da sind, kann man sich kaum bücken und die Schuhe anziehen. Die Freundin kann nicht mehr zu Besuch kommen. Es fällt ihr schwer zu gehen. Ja, manchmal macht man sich Sorgen um die Zukunft.

 

Da erinnern wir uns an den Engel, der zu Maria kommt und sagt: Sei gegrüsst, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!

Gott ist mit uns. – Es wird sich alles finden, was wir brauchen. – Gott ist mit uns. – Wir sind aufgehoben in seinem guten Willen und ganz und gar geborgen.

 

Die Heilung der Vergangenheit

Manchmal, wenn wir allein sind, gehen unsere Gedanken in die Vergangenheit. Erinnerungen tauchen auf, die wir schon lange vergessen hatten. Schöne Dinge, aber auch anderes, das weh macht, obwohl es schon lange vorbei ist. Es ist als ob wir da noch einmal hindurch müssten, aber wir spüren die Kraft nicht dazu.

 

Da erinnern wir uns an den Engel, der zu Maria sagt: Fürchte dich nicht, du hast Gnade bei Gott gefunden.

Gott sucht uns. Er hat uns schon gefunden. Er kommt wie der gute Hirte. Er rettet, was sich verirrt hat, er heilt, was verwundet ist, er stärkt, was schwach ist. Er führt uns auf einen guten Weg.

 

Die Befreiung der Gegenwart

Wir glauben es gern. Wir erinnern uns an viele schöne Zeiten im Leben. Und auch Dinge, die wir damals abgelehnt haben – im Rückblick sehen wir, dass vieles sich zum Guten entwickelt hat. Aber heute ist es anders. Das, was wir heute erleben, das gab es noch nie in unserem Leben. Da sehen wir manchmal nicht, wo Hilfe herkommen soll.

 

Da erinnern wir uns an den Engel, der zu Maria sagt: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Er hat uns das Leben geschenkt. Er war schon da, bevor wir denken konnten. Er kann uns auch auf diesem Weg begleiten. Er lässt jeden Tag die Sonne aufgehen. Bei Gott ist kein Ding unmöglich.

 

Endlich fasst Maria Vertrauen, und sie sagt: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“  

 

Drei Botschaften hat der Engel gebracht. Auch wir dürfen sie glauben:

Der Herr ist mit dir! – Fürchte dich nicht! – Bei Gott ist kein Ding unmöglich!

 

Aus einem Gottesdienst für ältere Menschen 2006

 

Foto von Cameron Casey, Pexels