«Sie kommen nie und nirgends an»

Was ist ein Ende? Wann ist es erreicht? Was fehlt vielleicht noch, damit man von einem Ereignis, von einem Leben sagen kann, es sei zu Ende? Ich lese im Grünen Heinrich, wie Gottfried Keller sich müht, ein Ende zu finden. Da erscheint ein Nachruf auf eine Dichterin in der Zeitung. Es wirkt wie ein Echo darauf. Ich kenne ihr Werk nicht, aber nach dem, was ich lese, sind ihre Texte wie ein Gegenstück zum «Grünen Heinrich». Es sind Erzählungen vom Ausbrechen, aber es gibt kein Ankommen.

Metaphysische Heimatlosigkeit
Diese Heimatlosigkeit in der Welt beschreibt auch ein anderer Nachruf. In ihren Texten «sind die Figuren vom Leben angeschlagen, suchen Halt in der Welt, aber Geborgenheit bleibt ihnen versagt. Immer von neuem brechen junge Frauen aus beengten Verhältnissen aus. Sie sind Nomaden auf der Flucht und auf der Suche gleichermassen, sie kommen nie und nirgends an.»

Das ist keine psychologische Geborgenheit, die ihnen fehlt. Die Diagnose geht auf die ganze Kultur: es ist eine Kultur nach dem «Ende der Metaphysik», eine Kultur, die die höchsten Synthesen nicht zu Ende denkt, wo alles abbricht bei dem, was Augen und Ohren erfassen können. Was das bedeutet, wird vielleicht erst verständlich im Vergleich mit einer anderen Kultur, z.B. im Alten Orient.

Das Ganze oder der Bruch
Die Wirklichkeit, wie sie heute begriffen wird, ist nicht das, was die antiken Rollsiegel darstellen, wenn sie vom Chaoskampf berichten, die Wirklichkeit ist das, was ein Schnappschuss beim Fotografieren zeigt. Da lässt sich eine Bewegung vielleicht erahnen, aber sie bricht ab am Rand. Da ist ein Ausschnitt zu sehen, aber das Ganze, das hier im Teil erscheint, ist nicht sichtbar und es soll auch nicht sichtbar werden. Die Betrachter begnügen sich mit dem Schnappschuss.

(Den Vertrauensvorschuss, den man erbringen muss, um die Wirklichkeit als Einheit zu denken, bringen die Menschen nicht mehr auf. Denn das bedingt die Versöhnung der Gegensätze, die Vermittlung der Widerstände. Und angewendet auf die ganze Wirklichkeit, bedeutet das eine Gottesvorstellung. Und damit hat man schlechte Erfahrungen gemacht. So will man es lieber ohne Gott probieren. Der Preis ist diese Linie, die abbricht, die Erzählung, die kein Ende findet, das Leben, das sich zu keinem Ganzen rundet, die Politik, die in Krieg und Kämpfen stecken bleibt.)

Ein antikes Rollsiegel hingegen erzählt von einem Mythos. Das Bild ist ein Sinnbild, das beim Betrachter die Erzählung in Erinnerung ruft, wovon die Kultur lebt: die Menschen leben an einem Fluss, der periodisch über die Ufer tritt. Das gefährdet die Kultur wegen der Überschwemmungen, aber es ermöglicht sie auch, weil so das Land gedüngt und getränkt wird. Bleibt die Flut einmal aus, kommen Hungersnöte übers Land. So ist der König eingesetzt, der zugleich oberster Priester ist. Er sorgt dafür, dass die Flut Segen bringt und nicht Zerstörung. Dargestellt ist er als Kämpfer über einer Schlange. Das ist der Fluss, der Drache, den er in einem Drachenkampf bezwingt.

Der Kampf mit dem Chaosdrachen
Das Motiv ist uralt, findet sich aber bis in die Gegenwart. Es wurde später christianisiert und erscheint so z.B. auf Darstellungen des Heiligen Georg. Er kämpft gegen den Drachen und klein hinter ihm auf seinem Pferd sieht man die Christus-Gestalt. Der Erzengel Michael bekämpft den Drachen in der Apokalypse. Der Engel und der Heilige stehen stellvertretend für Christus bzw. die göttliche Macht, die den Chaosdrachen bezwingt, die also den Kosmos erhält.

Das Bezirksgericht Zürich trägt diesen Drachenkampf auf seinem Giebelfeld, die Stadt Liestal zeigt ihn auf ihrem Turm am Oberen Tor. Da sieht man unten den Rütli-Schwur der alten Eidgenossen, die sich verpflichten, das Recht zu verteidigen. Darüber ist die Uhr mit dem Drachen, der sich um das Zifferblatt ringelt und darüber der heilige Georg, der ihm den Speer in den Rachen bohrt.

Hier wird der Mythos zitiert, um den Erhalt der ganzen Eidgenossenschaft zu beschwören. Die mythologische Kraft, die das Recht und die Einheit erhält, ist der Heilige, das ist Gott; die moralische Kraft ist das Bündnis der Stände und die Selbstverpflichtung der Bewohner, die alles Notwendige tun wollen im Vertrauen auf Gott und die Gerechtigkeit.

Der Mythos hat einen Eigensinn
Der Drachenkampf ist auch auf dem russischen Wappen abgebildet. Man kann das verstehen als ein Zitat, durch das sich ein Staat mythologische Mächte zur Verfügung halten will. Es ist aber ein Bild für Recht und Gerechtigkeit und erhebt über den Staaten, die es auf ihre Fahne heften, den Anspruch, dass hier vor Gott Recht geschehen soll.

Eine solche Fahne ist wie der Vorläufer eines Verfassungsgerichts, das es früher noch nicht gab: es stellt alles Handeln unter den Anspruch von Recht und Gerechtigkeit. Und sollte der Staat das nicht einlösen, kann Gott selbst dagegen angerufen werden.

 

Foto: Chaosdrachenkampf auf dem oberen Torturm in Liestal
Lesen Sie den Beitrag «Ende»