Herzliche Gratulation!

Am 18. Juni 2024 wird Jürgen Habermas 95 Jahre alt. Ich bin nicht berufen, etwas dazu zu sagen, das machen die Weggenossen und Koryphäen. Aber vielleicht kann ich eine kleine Blume hinlegen?

«Habermas» wie wir ihn immer mit dem Autorennahmen nannten, es ist keine Geringschätzung darin, ist der berühmteste akademische Lehrer, mit dem ich zu tun hatte. Dementsprechend war ich beeindruckt und ich getraute mich kaum, den Mund aufzumachen, als ich 1984 in einem seiner Seminare sass.

Der Bleistift
Zwar hatte er mir schon Mut gemacht durch seine Schriften. Die Wissenschaft erschien dort als eine Gelehrten-Republik, die nur dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ folgt. Und so erlebte ich es auch in seinem Seminar. Ich staunte, als ein junges Mädchen die Hand aufstreckte und frei heraus eine Meinung formulierte. Ich war noch ganz zerknittert in meinen Bedenken, ob ich überhaupt da sein dürfte. Und ganz waren meine Zweifel weg, als er – im Hin- und Hergehen beim Formulieren der Gedanken – an einer Bankreihe vorbeikam, von der eben ein Bleistift heruntergefallen war. Ganz selbstverständlich hob er den Bleistift auf und legte ihn auf die Bank zurück.

So getraute ich mich, ihn in der Sprechstunde aufzusuchen. Von den drei Aufgaben der Ethik, eine Norm auf den Einzelfall anzuwenden, sie im Handeln zu verwirklichen und sie zu begründen, sei nur die letzte philosophisch lösbar. So hatte er gesagt. Anwenden erfordere Urteilkraft und verwirklichen Ich-Stärke. Ich meinte in der Sprechstunde, für mich persönlich sei es kein Problem, eine Norm anzunehmen, aber sie zu verwirklichen, das wolle mir nicht gelingen. Seine Antwort war seltsam und gab mir zu denken auf: er könne keinen religiösen Trost geben.

Religiöser Trost
Religion hatte mir ferngestanden. Jetzt fragte ich mich nach meiner Haltung zur Religion. Und nicht lange, so führte mein Fragen in ein Theologiestudium. Jetzt konnte ich besser formulieren, was ich dort hätte sagen können. Ethik, jede Formulierung von Sollens-Sätzen, setzt voraus, dass Sein und Sollen letztlich vermittelbar sind. Das wird ausgedrückt in einem religiösen Gottes-Begriff oder in einer Metaphysik, die Sein und Sollen vermittelt. (Kant formuliert es in seinen Postulaten der Praktischen Philosophie.)

Dass wir letztlich tun können, was wir sollen, dass die Welt letztlich sein wird, wie sie soll – diese Aussage wirkt harmonistisch, gerade in der heutigen Krisenzeit. Auch Habermas wird gerne vorgeworfen, dass seine „Diskursethik“ zu viele Voraussetzungen mache, die in der heutigen konfliktiven Gesellschaft nicht mehr gegeben seien. Er verwendete den Gottesbegriff aber nicht.  Er respektiert die Grenzen des „nachmetapyhsischen Denkens“.

Dennoch: dass Sein und Sollen sich vermitteln lassen, gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit von Ethik, diese sind „kontrafaktisch“ festzuhalten. Es sind also Voraussetzungen, die man macht, ohne zu behaupten, dass sie realisierbar seien durch ein Handeln in der empirischen Welt. (Die Religion spricht gar von einer Endversöhnung, wo alle Konflikte vermittelt sind in einem „Reich Gottes“.)

Kontrakfaktisch
Diese Rede von der „kontrafaktischen Geltung“ habe ich mir als Pfarrer von Habermas ausgeborgt. Darin sah ich den Glauben am Karfreitag ausgedrückt. Der Karfreitag in der religiösen Welt entspricht der nachmetaphysischen Welt, die ohne Gottesbegriff auskommen will. Am Karfreitag, wenn Jesus am Kreuz stirbt und alle Hoffnung mit ihm, ist es dieser Welt nicht mehr anzusehen, dass es so etwas wie Recht oder Barmherzigkeit gebe, dass Angefangenes sich entfalten kann und Hoffnungen sich erfüllen.

Alle Brücken aus der Erfahrung zum Glauben sind abgebrochen, das Vertrauen stützt sich auf nichts in dieser Welt. Im Gegenteil, es lebt erst recht auf im Kontrast zu versagender Erfahrung, weil es Gerechtigkeit geben muss, wenn ein Mensch leben will. Gerechtigkeit gehört zu den notwendigen Intuitionen, die ein Mensch haben muss, wenn er leben und psychisch gesund bleiben will. So entsteht am Karfreitag ein Bewusstsein für Gerechtigkeit, das sich nicht auf die Erfahrung stützt, im Gegenteil: alle Erfahrung sagt dann, es gibt kein Recht! Das Wissen um das Recht gilt kontrafaktisch.

Das Potenzial religiöser Rede
Das Evangelium hört in seiner Erzählung mit dem Karfreitag nicht auf. Es erzählt von Ostern und Auferstehung. Hier kann der Philosoph nicht folgen. In seiner Dankesrede zur Überreichung des deutschen Friedenspreises 2001 sprach Habermas von der „verlorenen Hoffnung auf Resurrektion“ (Auferstehung), die eine „spürbare Leere“ hinterlasse. Die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens beunruhige uns. Er sprach von «uneingelösten» Potentialen religiöser Rede, die für den säkularen Staat notwendig seien und würdigte den Gedanken der Auferstehung und die Sorge um die toten Opfer, denen hier keine Gerechtigkeit mehr widerfahren kann.

Blumen
Professor Habermas hat Geburtstag. Vor 40 Jahren habe ich ein Seminar bei ihm besucht. Wer bin ich? So habe ich mich schon damals gefragt. Kaum traute ich mich in seine Lehrveranstaltung. Jetzt stehe ich da mit einem Blumenstrauss. Ich getraue mich nicht, an der Tür zu klingeln und ihm die Blumen zu überreichen. Ich will aber auch nicht einfach daran vorbeigehen. So lege ich sie vor die Tür. Vielleicht dass er sie im Vorübergehen sieht und aufhebt wie den Bleistift der jungen Studentin. Danke und alles Gute zum Geburtstag!

 

Foto von Secret Garden, Pexels