Kains Schicksal – ein Verbrecher gegen Gott zu werden?

Hier ist Revolte nötig. Hier kann der junge Mensch nur wachsen, wenn er gegen Gott selber revoltiert und gegen den Vater, wenn er sich von der Religion überhaupt lossagt. So wird Pubertät lebbar – mit einem „pubertären Atheismus“. Keinesfalls ist es aber so, dass der Mensch überhaupt gegen Gott revoltieren müsste, um Mensch zu werden, um frei zu werden, wie es Hesse sieht, wenn er seinen Helden nach dem Bild Kains zeichnet.

 

Versagung
Sexualität ist nicht als solche ein Problem, sondern erst im Licht eines „versagenden“ Glaubens. Und auch hier ist nicht die Sexualität das Problem. Es kann irgendetwas sein, das zum Leben gehört. Wenn der Glaube, das Normensystem, es „versagt“, kommt eine unheilvolle Dynamik in Gang.

Sehr eindrücklich kommt das zum Ausdruck in der Erzählung „Kinderseele“ von Hermann Hesse, wo er das Kains-Schicksal, Verbrecher gegen Gott zu werden, an einem Kind darstellt. Er versteht das aber als einen allgemein-menschlichen Mythos, der den Übergang zur Freiheit bezeichne, die Entwicklung zum „Menschen des Geistes“. Das sei ein notwendiger „Individuations-Weg“.

Kains Schicksal
Er sieht in Kain demgemäss eine negativ gewendete Prometheus-Gestalt. (S.11) Es ist aber nur ein Prozess des Erwachsenwerdens, namentlich vor dem Hintergrund einer versagenden Kindheits-Religion, wie sie Hesse in seinem pietistischen Elternhaus erlebt hat. Bei einem Erlaubnis-gebenden Gott baut sich diese Dynamik nicht auf. So ist es auch nicht eine tragische Geschichte, weil der Mensch notwendig schuldig werden müsste, um „Mensch“ zu werden, sondern ein Abweg, wenn Gott als versagend dargestellt wird. Seine Beschreibung ist eine Hilfe für einen andern und besseren Weg.

Gespalten
Am Anfang steht die Kluft zwischen dem, was ist und dem, was sein soll. Er schildert seine Anläufe zum Guten und sein Scheitern daran. Das erzeugt eine Dynamik, die zum „Absturz“ führt. Wie in einer Sucht oszilliert er zwanghaft zwischen Übertretung und Genuss einerseits und dann wieder Selbstverachtung und Unterwerfung auf der anderen Seite. Er verzweifelt an sich selbst, weil er zwischen hohen und bösen Antrieben zerrissen sei. Und wieder reisst ihn die Dynamik mit. Die Emotionen nehmen an Heftigkeit zu, er muss sich unterwerfen oder revoltieren.

So ist auch sein Selbstbild hin- und her gerissen zwischen Selbst-Respekt und Mutlosigkeit, zwischen Idealität und Sinnenlust (22). Bald glaubt er sich vor andern ausgezeichnet. Bald verachtet er sich für seine Charakter-Schwäche. So lebt er in Angst, weil er in einer Dynamik gefangen ist, die ihn immer nur klein macht: Angst vor den Regungen der „Seele“, die zur Übertretung führen, dann Angst vor dem schlechten Gewissen und vor der Bestrafung. Er schämt sich, möchte allein sein und sich verstecken.

In der Gespaltenheit dieser Dynamik erscheint ihm auch sein Vater: Sein Verbot, seine Strafe machen Angst. Aber durch Beichte, Busse, Unterwerfung gibt es Versöhnung und einen neuen Bund mit dem Mächtigen. Er erlebt Stärkung im Kampf gegen das Böse (24).

Der Zwang, Böses zu tun
Aber gerade gegen ihn muss er jetzt revoltieren, gerade seine „versagende“ Haltung ist der Motor, der die Dynamik in Gang hält und das Verbrechen hervorruft. (Wenn das mosaische Gebot versagend ist, so ist Kain tatsächlich ein notwendiger Rebell, der psychoanalytisch etwas an diesem Gottesbild selbst aufdeckt.)

Er will es nicht, aber es ist wie ein grauenhafter Bann, ein Zwang, über ihm. (26). Er stiehlt ein paar Dinge aus dem Studierzimmer des Vaters. Er braucht sie nicht, er tut es aus dem Zwang, Böses zu tun, aus dem Zwang, sich selbst zu schaden und sich mit Schuld zu beladen. (27)

Wie soll man das verstehen?
Das „Verbrechen“ schliesst die Kluft zwischen Sein und Sollen – auf andere Weise als die rechte Tat. Er revoltiert gegen das Sollen, indem er das Verbotene tut. Und er findet sich nicht ab mit dem Sein, das „versagend“ erlebt wird, indem er an den verbotenen Gütern teilhaben will. So entsteht die Handlung des Stehlens als einem quasi-spirituellen Akt: Er richtet sich gegen das Sein in der Teilhabe am Verbotenen und gegen das Sollen im verbotenen Tun. Teilhabe auf verbotenem Weg, das ist Stehlen. (28)

Auch den Vater nimmt er in dieser Spaltung von Sein und Sollen wahr: Er hasst ihn, insofern er ein nicht-erfüllbares Sollen repräsentiert, oder ein Sollen, das die Teilhabe an notwendigen Gütern versagt. Aber er empfindet auch Rührung für ihn, als er wahrnimmt, dass auch der Vater selbst an diesem Widerspruch scheitert. (28)

Nach der Tat möchte er im Sinn der Dynamik Busse tun, Reue zeigen, sich unterwerfen und die Strafe annehmen, um wieder in Übereinstimmung mit dem gesetzgebenden und richtenden Willen zu kommen. (29). Oder er schwankt in der typischen Oszillation zwischen Genuss (29), Scham und Reue. (30)

„Warum musste man tun, was man gar nicht wollte?“
Natur und Kultur liegen in Widerstreit. Oder, um weniger verfängliche Bergriffe zu verwenden: Ein Werte- und Normensystem, religiös vertieft, „versagt“ dem Norm-Unterworfenen eine wichtige Teilhabe (z.B. Erotik, oder auch irgendetwas anderes). Der Konflikt zwischen Sein und Sollen, der immer gegeben ist, und der in der Religion gelöst wird, ist hier verschärft.

Revolte
Diese Form der Religion (wie es für Hesse z.B. das pietistische Elternhaus darstellt) ist fast tragisch. Hier ist Revolte nötig. Hier kann der junge Mensch nur wachsen, wenn er gegen Gott selber revoltiert und gegen den Vater, wenn er das Kind mit dem Bade ausschüttet und sich von der Religion überhaupt lossagt. So wird Pubertät lebbar, mit einem „pubertären Atheismus“.

Keinesfalls ist es aber so, dass der Mensch überhaupt gegen Gott revoltieren müsste, um Mensch zu werden, um frei zu werden, wie es Hesse sieht, wenn er seinen Helden nach dem Bild Kains zeichnet.

Der Junge leidet unter der Tat. In Phantasien stellt er sich ein richtig grosses Verbrechen vor, in dem er an der Welt Rache nehmen will, wobei er zugleich sich selber preisgeben und vernichten würde (35). (Vgl. die Selbstmord-Attentate in versagenden Religionen.)

Die Vermittlung zwischen Sein und Sollen ist verstellt, da Gott als „versagend“ vorgestellt wird. Teilhabe gibt es nur im Verbrechen. So revoltiert er gegen das Sollen, weil es verboten ist, und gegen das versagende Sein, weil er sich die Teilhabe zueignet. Zugleich sucht er aber die Selbst-Bestrafung. Darin anerkennt er die Gültigkeit des Sollens, anders ist die Welt nicht zu denken.

In der Phantasie revoltiert er jetzt gegen Gott selbst (36). Er möchte ein Rebell sein ohne Reue. Das muss er, wenn er wachsen will und nicht völlig ver-wachsen werden soll unter dem Regime dieser Religion. Er muss den falschen Gott stürzen, der die Entwicklung behindert. „Ich hasse dich, Gott… Du hast Gesetze gegeben, die niemand halten kann.“ (37)

Der Junge bleibt in dem Zirkel von Übertreten-Müssen und Busse-Reue-Demütigung und Selbstbestrafung gefangen. Als Ausweg aus dem nicht-lebbaren Leben zeigt sich hier nur das Nicht-Leben, das Phantasieren mit Selbstmord oder Krankheit, das Spiel, in dem das Ja zum Leben widerrufen wird. (43). Das rettet dann auch vor Scham und sozialem Tod (32).

Eine eindrückliche Illustration einer versagenden Religiosität. Nicht die Religion muss aufgehoben werden, aber ihre versagende Richtung. In der Geschichte des Christentums gibt es die Weltverneinung als Unterströmung. Die Hauptströmung, die biblische Religon, anerkennt die Welt als gute Schöpfung. Darin ist immer wieder zu erinnern, wenn ein moralischer Rigorismus Oberhand gewinnt.

 

Die im Text erwähnte Erzählung findet sich in Hermann Hesse: „Eigensinn macht Spass“, Ffm 1998, S. 13ff

Das im Text verwendete Wort „Versagung“ meint den von einer Norm geforderten Triebverzicht, im Gegensatz zu „Gewährung“. Vgl. Sigmund Freud, „Die Zukunft einer Illusion“, 1927.

Aus „Die Hälfte meines Pfarramtes. Die Mitte meines Pfarramtes. Notizen 2004 – 2005.“

Bild: Kain von Lovis Corinth, 1917