Lob der Mutter

Von der Rückkehr alter Werte

In den 60er Jahren haben wir gelächelt, wenn Mutter jedes Geschenkpapier aufbewahrte und jede Schnur zu Seite legte, weil man sie wieder einmal brauchen konnte. Je mehr wir verbrauchen, predigten wir ihr, desto mehr kann man produzieren. Desto billiger werden daher die Produkte. In der Zwischenzeit sind wir an die Grenzen dieses Wachstums gestossen und haben die Lebenshaltung der Vorkriegsgeneration wiederentdeckt.

Die ökologischen Grenzen zwingen uns einen Lebensstil auf, den jene Generationen aus ökonomischen und weltanschaulichen Gründen schon lange pflegten. Wie unsere Mutter gehen wir abends durchs Haus und löschen alle überflüssigen Lichter. Wie unserer Mutter versuchen wir, möglichst wenig Abfall zu produzieren und alle Reste, wenn möglich, wiederzuverwerten. „Sparen“ hiess es bei ihr, Recycling nennen wir es und fühlen uns modern damit.

Elf Kinder
A wurde 1909 als sechstes von neun Kindern im St. Galler Rheintal geboren. Ein zehntes Kind ist kurz nach der Geburt gestorben. Aus der ersten Ehe des Vaters – die erste Frau ist im Kindbett gestorben – lebte ausserdem noch eine Halbschwester in der Familie. Wir Kinder kennen diese Zeit nur aus den Erzählungen der Verwandten. Sie zeigen das Rheintal zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eher ärmlichen Verhältnissen. Mit der Landwirtschaft vermögen sich die Bauern nur gerade selbst zu ernähren. Industrialisierung und Dienstleistungs-Betriebe haben noch kaum Einzug gehalten und geben nur einen Nebenverdienst ab. Die Kinder müssen nach dem Heranwachsen das Brot in der Fremde suchen.

A.s Vater hatte drei Kühe und ein bisschen Land. Das reichte, um jeden Morgen den obligaten „Ribel“ auf den Tisch zu bringen, am Abend gab es Rösti und Kaffee und am Mittag eine Suppe oder Gemüse. Geld für Anschaffungen war kaum vorhanden. Einen Nebenverdienst fand der Vater wie andere Männer damals bei der Rhein-Korrektion. Die Frauen konnten etwas Bargeld verdienen, indem sie Stickereien ausbesserten – eine Arbeit, die damals von einer Stickerei in Rohrschach an private Haushalte vergeben wurde.

Eng wurden die Verhältnisse vor allem, als der Vater die Stelle bei der Rhein-Korrektion verlor. Auch eine Ziegelhütte ging damals ein, was vielen Familien den Verdienst nahm. A.s Familie konnte das Haus des Grossvaters, der als Gemeindeammann ein angesehener Mann war, nicht mehr halten und musste umziehen.

Sparen, Kloster und Auswanderung
In solchen Verhältnissen lernt man dreierlei: arbeiten, sparen und zusammenstehen. „Geld haben wir keines“ – pflegte A.s Mutter zu sagen – „aber ich will, dass man uns brauchen kann.“ Und Tante D., die als älteste Tochter nach und nach fast alle Geschwister ins Welschland holte, wo sie umsonst eine Sprache und im Gastgewerbe einen Beruf lernen konnten, bestätigt, dass die Arbeitgeber an den „gschaffigen“ Mädchen aus dem Rheintal ihre Freude hatten.

lm Rheintal gab es damals für die herangewachsenen Kinder kaum eine Verdienstmöglichkeit. Onkel T träumte damals von der „Neuen Welt“ und sparte jahrelang für die Überfahrt in die USA. Die Töchter gingen ins Welschland, nachdem in der Elterngeneration A.s zwei Tanten ihr Auskommen noch im Kloster gefunden hatten. Als erste machte Tante D den Sprung ins Welschland, von wo sie nach und nach ihre Geschwister nachholte. Auch A folgte ihr dorthin, nachdem sie zunächst als Hausmädchen in Zürich gearbeitet hatte. Wie Tante D erzählt, war es damals keine Seltenheit, dass man im Gastgewerbe morgens um sieben Uhr mit der Arbeit begann und abends um Mitternacht todmüde ins Bett sank.

Unterstützung durch Arbeitsmigranten
Wie die anderen Kinder schickte auch A Monat für Monat Geld von ihrem kleinen Lohn an die Familie, die auf die Unterstützung der arbeitenden Kinder angewiesen war. 1936 lernte sie meinen Vater kennen, in Basel gründeten sie ein Geschäft. Schon bald kamen die ersten Kinder. Dann der Krieg – der zweite Krieg, den unsere Elterngeneration neben den beiden Krisen miterlebt hat. Auch Basel hat Bombennächte gesehen, und manches Mal haben sie Schutz im Keller oder unter der Matratze gesucht. Mit Rationierung und Militärdienst wurde es schwierig, ein Geschäft zu führen. 1949 folgte der Umzug nach F und der Aufbau eines viel grösseren Geschäfts, das die Eltern bis an die Grenzen des Leistungsvermögens herausforderte. Gleichzeitig galt es, fünf Kinder gross zu ziehen.

Moderne Zeiten
Manches haben wir abgestossen, was uns unsere Eltern vorgelebt haben. Die Härte und Selbstverleugnung ihres Alltags schien uns eine allzu rigide und lebensfeindliche Auslegung dessen, was Leben heisst. Andererseits haben wir in den letzten Jahren vieles wieder schätzen gelernt, was für die Eltern Gültigkeit hatte.

Wir sind von unserem Optimismus wieder etwas abgekommen, dass wir unser Leben in der Hand hätten und dass wir dieser Welt unser Glück aufpfropfen könnten. Wir sind nicht mehr so sicher, dass die Welt ein blosses Material ist, das sich unserm Tun beugt und das im historischen Fortschritt zu immer grösserer Vollkommenheit gestaltet werden kann. Das Wort «Fortschritt“ lockt heute nur noch ein müdes Lächeln hervor.

Es ist Rührung, wenn wir an den Spruch denken, der bei uns immer in der Küche hing: «Hartes Brot ist nicht hart, kein Brot ist hart.» Es ist aber auch Dankbarkeit dabei, Respekt für alles, was sie geleistet haben und das Wissen, dass das Brot für unsere Kinder noch nicht geerntet ist. Die Schweiz hat Wohlstand und Armut kennengelernt.

 

Aus dem Lebenslauf meiner Mutter 1988
Foto von Suzy Hazelwood von Pexels