Tag Archive for: Politik

Der rasante Wandel dieser Tage macht über Nacht Superreiche, z.B. jene jungen Informatiker, die mit ihrer Internetfirma an die Börse gehen. Andere Menschen und ganze Berufs-Gattungen kämpfen ums Überleben, z.B. die Bauern. „Ales wird beser“, schrieb schon vor zehn Jahren ein Mädchen in einer Reklame an die Wandtafel und brachte damit die Skepsis gegenüber dem Fortschritts-Glauben zum Ausdruck. Weiterlesen

Religion hat eine schlechte Presse. In der Philosophie ist sie schon lange verabschiedet. Das ist eigentlich erstaunlich, weil sich diese Welt rasant einem Zustand annähert, wo immer mehr Subsysteme auf einen Kollaps zuzusteuern scheinen. Weiterlesen

«Hingabe» ist ein zentrales Ziel in allen Weltreligionen und ein «Klassiker» der religiösen Kultur. Dennoch klingt das Wort heute unvertraut und wie «von gestern». Mit dem Bedeutungsverlust der Religion ist es aus dem öffentlichen Sprachschatz verschwunden. Es feiert aber ein Nachleben in Gestalt von säkularen Haltungen, die eine Verpflichtung, Identifikation oder Bindung beschreiben. So wird in der Unternehmens-Kultur, in der Zivilgesellschaft oder in der Politik oft «commitment» eingefordert.

Dieses Buch befasst sich mit Religion, dennoch hilft der Blick auf die politische Nachgeschichte dieses Begriffs beim Verständnis des seltsamen Titels: «Hingabe-Verbot». Denn wieso sollte Hingabe verboten sein, wo sie in der Bibel doch explizit geboten wird?

Hingabe hat eine Antwort-Struktur, sie bildet als Haltung der Treue, Opfer-Bereitschaft und Gefolgschaft ein Begriffspaar mit «Führung» und «Herrschaft». Das Verhältnis ist asymmetrisch. In der Religion ist es unbedenklich, wenn jemand sich von Gott «führen» lassen möchte und um ein «hörendes Herz» betet, damit er besser auf die Menschen zugehen kann. In der Politik ist «Führung» seit den 30er Jahren aber ein Unwort. Und von «Gefolgschaft» mag niemand mehr sprechen. Wer es dennoch tut und Fahnenaufmärsche zelebriert, wird als rechtsextrem identifiziert und vom Verfassungsschutz beobachtet.

Auch heute findet sich in der Politik Anschauungsunterricht für Führung und Gefolgschaft. Und nicht immer ist es der «Führer», der auf diesem Weg vorangeht, auch wenn die Medien sich auf diese Gestalt einschiessen. Ist es nicht umgekehrt der Wunsch nach Hingabe und Gefolgschaft, der solche Gestalten wie Trump oder Salvini immer wieder auf die politische Bühne ruft? Wie in den 30er Jahren gibt es heute kaum ein Land, das solche Führergestalten nicht hervorbrächte. Weil sie oft ins Clowneske abdriften, nimmt man sie nicht ernst. Dass da eine Basis ist, die nach Hingabe und Gefolgschaft drängt, müsste aber Sorge bereiten.

Auch im religiösen Bereich gibt es Gründe, dem Wunsch nach Hingabe zu misstrauen. Es kann eine grosse Sehnsucht sein, der sich durch ein ganzes Leben zieht. Und doch möchte eine Haltung, die auf «Seelen-Hygiene» achtet, sie manchmal lieber verbieten. Die Sehnsucht will allzu schnell ans Ziel und lässt Zwischenschritte aus. Man möchte Zeit und Raum schaffen für weitere Erfahrungen, für Erprobungen. Das «Selbst», das so schnell in «Selbstlosigkeit» hingegeben werden soll, muss manchmal erst gefunden werden, bevor es weggeschenkt werden kann – und bevor eine solche Haltung überhaupt Sinn macht und das Leben stärkt. Die Autonomie müsste erst gestärkt werden, bevor sie geopfert wird. Nur das «reife» Individuum kann sich wirklich «hingeben», vorher ist es eine Verführung zur Flucht, eine Suche nach Abkürzungen, die es nicht geben kann.

Das ist keine moralische Frage, eher eine Frage der Verletzungs-Geschichte und wie sehr es einem Menschen schon gelungen ist, Verantwortung zu übernehmen für sein Leben auch in den dunklen Teilen, die er nicht gestaltet, sondern erlitten hat. Und das heisst dann annehmen, vergeben, sich auch negative Merkmale zurechnen und damit umgehen können, ohne sie auf andere zu richten. (Denn das erzeugt eine problematische Dynamik im Umgang mit Menschen, sei es privat oder in der Politik.)

Dunkle Abenteuer sind auch in der Politik abzusehen, jetzt wo sich ökologische Krisen, ökonomische Problemlagen und politische Konflikte verschärfen. In beiden Feldern, Politik wie Religion, braucht es vielleicht kein Hingabe-Verbot, aber eine wirkliche Wertschätzung der Hingabe, welche diese vor einem Abgleiten in blosse Gefolgschaft bewahrt. Denn nüchtern wahrgenommen (vielleicht muss man sich Hingabe erst verbieten, wie ein Alkoholiker das Hochprozentige meidet, bevor man ihm gewachsen ist), mit der ganzen Aufmerksamkeit und Wachheit, die sie erfordert, ist Hingabe vielleicht die Krone eines religiös angeleiteten Lebensweges.

Darum heisst dieses Buch zwar «Das Hingabe-Verbot», aber es sucht nach einem Weg zu einer erlaubten Hingabe, einer Haltung, die die Gesellschaft und Politik nicht mit unstatthaften Asymmetrien belastet, sondern zum Frieden beiträgt – in der Psyche der einzelnen Menschen und im Zusammenleben.

 

Aus dem Vorwort zu «Das Hingabe-Verbot», Notizen 2010.
Foto: pexel