Gespräch auf dem Kirchturm

Zum Jahreswechsel

Bald ist es Mitternacht. Die Fenster der Stadt sind hell erleuchtet. Hinter vielen Fenstern ahnt man ein buntes Treiben. Manchmal öffnet sich die Tür eines Pubs, dann dringt ein Schwall lauter Musik auf die Gasse. Die Tür schlägt zu und es wird wieder still. Wenige sind unterwegs. Alle möchten in Gesellschaft sein, wenn das neue Jahr beginnt. 

Da schlägt eine Glocke an und schickt einen tiefen, vollen Ton über die Stadt. Noch einmal klingt es, und noch einmal geht der Ton über die Stadt. Andere Glocken fallen ein. Bald läuten alle Glocken im Turm. Da und dort wird ein Fenster geöffnet. Das Geläut verebbt, und der Stundenschlag beginnt. „Still!“ rufen einzelne Stimmen. Und man hört ein Zählen: „acht, neun, zehn…“. Bei zwölf ein Knallen von Korken. Dann laute, fröhliche Stimmen, die sich mit dem Gläserklingen mischen. Etwas später gehen die Fenster zu. Es ist wieder still auf der Gasse. Über dem Kirchturm steht schwarz die Nacht. Im Westen, wo das Wetter aufklart, sieht man Sterne blinken. – Was wird das neue Jahr bringen?

„Frieden“, sagt die alte, grosse Glocke. Und setzt damit ein Gespräch in Gang, ein Gespräch im Glockenstuhl. „Du mit deinem Frieden“, zetert die Notglocke. Hörst Du nicht, wie es zugeht in der Welt? Frieden! Aufschrecken muss man die Leute, aufwecken!

„Was nützt es, immer nur Alarm zu schreien?“ fragt die grosse Glocke. „Die Leute haben es über. Schone deine Stimme, du klingst schon ganz schepprig. Hörst du es nicht?“

„Besser als über alles die Friedens-Sauce zu kippen!“, schimpft die Notglocke. „Brumm, brumm! Friede, Freude, Eierkuchen. Wusstest Du, dass jetzt auch Stricken im Flugzeug verboten ist? – Sticknadeln gelten als mögliche Terrorwaffen. Wusstest du, dass es Menschenhandel gibt in der Schweiz? Dass Menschen versklavt werden? Dass man …“ – „Alter Griesgram“, sagt die Friedensglocke. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden!“

„Wann hat man dich denn gegossen?“ schimpft die Notglocke. „Das klingt ja wie im Mittelalter! – Sagt ihr doch auch mal etwas!“ fährt sie die anderen Glocken im Turm an. „Ich rede, wenn es Zeit ist“, sagt die Totenglocke. „Ich läute für jeden einmal. Sonst bin ich still. Es ist eine Stille, die man hören kann. Hört ihr nur mal auf zu streiten!“

Die Glocken verstummen. Tatsächlich: Es ist still. Die Stadt liegt unter dem Sternenhimmel. Kinder schlafen und träumen. Kranke liegen wach und hören auf den Glockenklang. Aus Fenstern und geöffneten Türen hört man ab und zu noch ein Lachen oder ein betrunkenes Grölen. Dann wieder still.
„Es ist schön!“ sagt die Betzeit-Glocke. „Hört ihr es? Es ist einfach schön!“

Plötzlich wird die Stille unterbrochen. Eine feine Stimme spricht. Es ist das Silberglöcklein. Es läutet das neue Jahr ein. „ave maria gratea plenno dominus tecum” sagt es in gebrochenem Latein. “Ja wer soll dich denn verstehen?“ sagt die Notglocke, schon halb versöhnlich gestimmt, weil da so ein kleiner Wicht kommt und auch noch sein Stimmlein erhebt.

„Es ist der Engelsgruss“, sagt das Glöcklein. „So ist der Engel zu Maria gekommen: „Gegrüsst seist du Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir!“ Und er berichtet ihr, dass sie ein Kind gebären werde. „Wie soll das zugehen“, fragt Maria, „da ich von keinem Manne weiss?“ „Der Heilige Geist wird über dich kommen“, sagt da der Engel.“ –

Ist es Einfalt? Ist es Gottvertrauen? Die Notglocke weiss nichts zu sagen. Ausserdem beginnt die Betglocke zu läuten. Und die grosse Glocke schwingt auch schon leise mit. Sie wollen das Neue Jahr einläuten.

Kaum hört man noch die Stimme des Silberglöckleins. „So hat der Engel gesagt: Der Herr ist mit dir! Bei Gott ist kein Ding unmöglich! Fürchte dich nicht!“

Aber schon geht seine Stimme unter in dem grossen Chor der Glocken. Und das Jahr 2020 hält seinen Einzug in der kleinen Stadt.

 

Aus Notizen 2010
Foto von Emre Kuzu von Pexels