Lob der Alten

Ich trete in ihr Zimmer. Es sind wenige Quadratmeter. Das Leben hat jetzt Platz auf wenig Raum. Aber dieser Raum ist ausgefüllt. Licht kommt vom Fenster her.

Sie sitzt am Küchentisch, den sie aus ihrer alten Wohnung mitgenommen hat. Wenige Sachen stehen da, ein „Stöckli“, eine Flasche Mineralwasser und ein Glas. Eine Zeitung und eine Lupe sind zur Seite geschoben. Eine „Strickete“ liegt auf dem Tisch. Sie geht nicht oft „hinunter“ zu den andern, sie ist viel in ihrem Zimmer. Es ist eine gute, ruhige Atmosphäre, die den Besucher empfängt. Was ist es, was diesen so gefangen nimmt?

Die unbekannten Bekannten
Es ist ein Besuch in einer anderen Welt. Im Windschatten von all dem, was populär ist und in den Medien von sich reden macht. Dieser Mensch hier ist nicht jung und dynamisch, sondern alt und in sich ruhend. Nicht welterobernd, sondern auf ein kleines Zimmer beschränkt. Nicht konsum- und statusorientiert, sondern selbstgenügsam, nach innen hörend. Nicht voller Zukunftspläne. Und doch ist das Ganze des Lebens hier zu spüren, weil Vergangenheit hier angenommen wird. Sie lebt eine Haltung vor, die Zukunft hat. Was auch Junge spüren.

Seit dem Aufkommen der Psychoanalyse hat unsere Kultur ein grosses Interesse an der Kindheit. Dort in der Kindheit wird alles zugrunde gelegt, was das Leben prägt. Und wenn im Erwachsenenalter Probleme auftauchen, dann wird der Schlüssel in der Kindheit gesucht. Es wird aufgearbeitet in Analyse und Therapie, in Seminarien für Wachstum und Heilung.
Unter dem Übergewicht der Kindheit ist der andere Pol des Lebens fast vergessen worden: das Alter. Es ist eine Phase mit eigenem Sinn, eigenen Aufgaben, eigenen Fragen, die für das Gesamt des Lebens genau so bedeutsam sind wie die Kindheit. Kinder wissen das, sie suchen intensiv den Kontakt zu ihren Grosseltern.

Am Rand zur Mitte
Vielleicht werden die Fragen des Alters auch darum nicht wahrgenommen weil sie negativ besetzt sind. Wer mag sich mit Krankheit auseinander setzen, wenn er nicht betroffen ist? Wer mit Schwerhörigkeit oder dem Nachlassen der Sehfähigkeit? Nicht alles lässt sich technisch ausgleichen.
Wer nicht sieht oder hört, zieht sich vom gesellschaftlichen Verkehr zurück. Er muss eine Antwort finden auf die Einsamkeit. Solchen Fragen weichen wir gerne aus, obwohl die Antwort auch uns Jüngere interessieren könnte.
Das Altern bringt viele solcher Fragen mit sich. Wie halte ich es aus mit täglichen Schmerzen? Was ist mein Lebenssinn, wenn Schritt für Schritt Fähigkeiten verlorengehen?

Es ist eine Begegnung mit Grenzen. Die Grenze ist ein Ort mit spezieller Geographie. Wer sich dorthin begibt, lernt die Wege kennen. Er kann sie andern zeigen.
Grenzen kennt jedes Leben, auch das junge und jüngste. Und auch der letzte Moment des Lebens, der Tod, gehört von Anfang an dazu. Gerade im Äussersten wird die Frage zugespitzt, was den Menschen ausmacht, und wo er Halt und Würde findet. Am äussersten Ende hört nicht alles auf, gerade dort ist der Weg zur Mitte zu finden.

Das Kind und das Grosi
Die Fragen des Alters erschrecken uns, und wir wenden uns ab. Aber die, die dort ausharren, finden Antwort. Wer Antwort gefunden hat auf seine Frage, strahlt Ruhe aus. Wer Sinn gefunden im Un-Sinn der Schicksals-Schläge, hat einen Pfad geschlagen im Dickicht.
Wer eine Antwort hat auf Grenzen, hat allen Menschen etwas zu sagen. Grenzen gehören zum Mensch-Sein. Und das Wissen, wie man damit umgeht, ist wie der Stein der Weisen. Kein Wunder fühlen sich Kinder zu ihren Grosseltern hingezogen.

„Grosi, wie ist das, wenn du tot bist?“ Grosi kann davon erzählen. Die Frage erschreckt, aber der Stachel ist genommen, sie ist eingebettet in eine Antwort.
Einige Grenzen im Leben können wir aufheben. Andere hinausschieben. Andere überwinden wir, indem wir sie annehmen und neu verstehen lernen aus einem Ganzen.

Die drei Fragen
Das Leben stellt verschiedene Fragen, einige müssen wir in der Kindheit lösen, andere im Erwachsenenalter, wieder andere sind dem Alter aufgegeben. Aber alles sind Fragen für das ganze Leben. Ohne die dritte Frage fehlt ein Stück, ohne die dritte Antwort ist die Prinzessin aus dem Märchen nicht zufrieden, die drei Fragen stellt, bevor sie den Prinzen heiratet und er eingeht zum vollen Leben.

Das vielleicht macht den Besuch in jenem kleinen Zimmer so besonders, von dem am Anfang berichtet wurde. Hier ist keine Berühmtheit, keine Aufgeregtheit, keine Medien-Aufmerksamkeit. Überhaupt niemand als ein Mensch, der in seinem Leben standgehalten hat und der mit seiner Lebens-Haltung mehr beeindruckt als all das, was in den Medien steht.

Solche Frauen und Männer, wie in diesem Zimmer, sind überall zu finden. Es sind unserer Mütter, Väter, Grosseltern. Und wenn wir denken, wir kennen sie – sie lernen noch Neues im hohen Alter. Sie sind noch Pioniere mit über 90. Gerade dort finden sie Antworten, die auf die Mitte des Lebens zielen, und wo alle Lebensangst sich beruhigt.

Und wenn die Eltern nicht mehr leben? – Wir finden sie in der Erinnerung. Wir spüren Dank und Respekt für sie.
Und wenn sie nicht immer souverän waren? Wenn sie noch nicht abgeklärt und am Ziel waren, sondern unterwegs, suchend und zweifelnd? – Sie haben es gemeinsam mit uns und wir mit ihnen. Bitten wir, dass wir standhalten für unsere Kinder.
Der Respekt für Eltern und Grosseltern ist die Kraft für das eigene Leben. Oder wie es die Bibel sagt: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dass du lange lebest und es dir wohl ergehe in dem Lande, dass der Herr, dein Gott, dir geben will.“

(Aus Notizen 2006)