Eine Kathedrale jeden Tag

Zwei Teenager treffen sich nach der Schule regelmässig zum Aufgabenmachen. Auch danach stecken sie immer zusammen. Als „beste Freundinnen“ können sie alles besprechen – oder unausgesprochen teilen. So viel Neues geschieht in dieser Lebensphase, alleine kann man es kaum „packen“. Am freien Nachmittag fahren Sie gemeinsam in die Stadt und erobern sich neue Lebensräume, in die ihr Leben jetzt hineinwächst.

Ein Mann hat seine Partnerin verloren und lebt wieder allein. Er weiss nicht, wie lang diese Lebensphase andauert. Er hat sich eine Katze zugelegt. Immer wenn er nach Hause kommt, kommt sie ihm entgegen. Das rührt ihn mehr als er sagen kann.

Nicht für die Katze
In einer Phase, als es ihm nicht gut geht, findet jemand Kontakt zu einem Hund. So sehr stellt er sich in dieser Zeit in Frage, dass er diese Begegnung mit einem Tier wie ein Geschenk erlebt. Der körperliche Kontakt zu diesem Wesen, das dableibt, nicht weggeht, das die Nähe sucht, öffnet etwas in seinem Innern. Er spürt eine tiefe Solidarität. Es hilft ihm in dieser Zeit und wird ihm wertvoll für sein ganzes Leben.

Ein Mann und eine Frau haben wieder zueinander gefunden. Sie machen jetzt öfters einen Abendspaziergang. Das vor Jahren abgebrochene Gespräch kommt wieder in Gang, sie erzählen von sich und hören zu.

Eine alte Frau lebt allein. Die Kinder sind schon lange ausgeflogen. Nachts betet sie vor dem Einschlafen und bittet für all ihre Lieben.

Eine Kathedrale jeden Tag
Seelsorge geschieht überall, sie hat tausend Formen. Beim Wort «Seelsorge» denkt man zwar an den Beruf der Pfarrerin und des Pfarrers. Aber wenn es nur ihre Aufgabe wäre, kämen sie immer zu spät. Uns allen hat Christus die Sorge füreinander aufgetragen. „Wo einer dich bittet, eine Meile mit ihm zu gehen, da gehe mit ihm zwei“. Und es ist unerhört, was hier in der Kirche geschieht, in Tausenden von Kontakten, in Worten, Handlungen und Gedanken.

Jeden Tag wird so – bildlich gesprochen – eine Kathedrale gebaut, nicht in Steinen, aber in der Anteilnahme der Menschen füreinander. Das geht von der Fürsorge in der Familie über die Hilfe unter Nachbarn bis zum Gruss am Morgen auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen. Schon die Begegnung mit dem Postboten beheimatet und lässt spüren, dass man hier zuhause ist, wo man wohnt.

Was die Kirche gross macht
Das Wunder, dass sich die Kirche in der Antike so schnell und so weit verbreitete und dass es heute eine christliche Kirche gibt, das ist wesentlich durch diese Seelsorge zustande gekommen. In einer Zeit, in der Alte, Kranke, Witwen und Waisen oft als Last galten, sahen die Christen zu den Bedürftigen. Christus hatte sie ihnen besonders ans Herz gelegt. Ihr sollt Hungrige speisen, Bedürftige kleiden und Kranke besuchen, sagt er in seiner Endzeitrede, „und was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,31ff). Seelsorge hat die Kirche gross gemacht, und sie hat dies Kraft zum Kirche bauen auch heute noch.

Lebensführung
Seelsorge ist aber nicht nur ein Betreuungskonzept, es ist auch ein Weg der Lebensführung. Es gibt heute eine riesige Ratgeber-Literatur. Sie zeigt, wie gross das Bedürfnis ist, wie sehr die Menschen nach einem Weg suchen, der ihnen hilft, die grossen Lebensfragen zu beantworten. Die Tradition bewahrt die Antwort der Generationen. Aber sie muss angeeignet und täglich geübt werden.

 

Aus Notizen 2003 und 2006