Die Apokalypse als «Schatten» des Evangeliums?

Bergpredigt und Apokalypse scheinen verschiedenen Welten anzugehören. Der Kontrast fällt sofort auf. Und das wird der Kirche oft zum Vorwurf gemacht: Sie vertritt eine Lehre voller Sanftheit, aber die Offenbarung steckt voller Gewalt. Da wird getötet, in die Hölle gestürzt, ins Feuer geworfen, da sind grausame Strafen.

Man könnte sagen: Die Apokalypse ist so etwas wie der „Schatten“ der Bergpredigt. Das helle Licht der Gewaltlosigkeit wirft einen grossen Schatten: all die Gewalttätigkeit in der Offenbarung.

Rächt euch nicht selbst
Beim genaueren Hinsehen wird aber deutlich: Es ist kein Gegensatz. Schon in den vorangehenden Büchern wird gesagt: «Rächt euch nicht selbst, werft es auf Gott. Er wird richten.» Das genau zeigt die Apokalypse. Erst so wird es möglich, auf Rache zu verzichten. Das Unrecht ist geschehen, das darf man nicht verleugnen. Aber man übergibt die Strafe Gott. Er kann es aufklären. Er kann richten. Denn er ist auch der Schöpfer, der seine Geschöpfe liebt. Er kennt Barmherzigkeit.

Unbarmherziges Recht, barmherzige Rechtlosigkeit
Nur Gott ist in der Lage, beidem gerecht zu werden: dem Recht und der Barmherzigkeit. Wenn Menschen wirklich gerecht sein wollen, wird es oft unbarmherzig. Wenn Menschen barmherzig sein wollen, wird das Unrecht oft unter den Tisch gewischt. Beides braucht seinen Ort. Die Apokalypse sagt: Der Gekreuzigte kommt wieder, das Opfer sitzt zu Gericht. Er weiss zu richten. Er weiss aber auch, wie es tut, wenn man verfolgt wird. So kennt er auch die Barmherzigkeit.

Paulus sagt: „Rächt euch nicht selbst, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“ (Römer 12,19) Das macht die Apokalypse im Grossen. Der seelsorgerliche Rat wird zu einem geschichts-philosophischem Ausblick, beides wirkt psycho-hygienisch.

Die Bibel auf der Couch
So kann man die Apokalypse auf die psychologische „Couch“ legen. Das Hell-Dunkel fällt auf, die Entsprechung, aber es ist mehr. Die Gewalttätigkeit, die eine normale Reaktion auf Gewalterfahrung ist, wird wahrgenommen. Sie wird nicht verdrängt (so dass sie mit noch mehr Gewalt durchbricht), sie wird „übergeben“.

Damit wird der Weg der Vernunft frei gemacht: Revanche und Rache verewigen die Konflikte. Für Frieden brauche es Akte des Gewalt-Verzichts und der Vergebung. Ein Zwischenschritt ist, das Leiden Gott als Richter zu übergeben und zu vergegenwärtigen, wie er richtet.

So könnte man die Apokalypse des Johannes die „Psychotherapie der frühen Kirche“ nennen. Und es ist keine billige Religionskritik. Der Schatten wird zugelassen, weil ein Umgang damit gefunden ist. Und der heisst: Nicht verdrängen, nicht immer nur lieb sein. Dem Zorn Raum geben, dem leidenschaftlichen Ruf nach Gerechtigkeit. Der Gewaltverzicht, das Unterordnen, das die-Welt-stehen-lassen findet eine Kompensation in dem Ruf nach seiner Rückkehr, im Vertrauen, dass Christus als Richter wiederkehrt, dass er in Herrlichkeit regiert.

So kann alles ihm übergeben werden. Und die Leidenden, Verfolgten ersticken nicht mehr an ihrer verschluckten Wut. Sie bekommen keine Magen-Geschwüre mehr von ihrer zurückgehaltenen Pflicht, ihre Lieben zu verteidigen, Unrecht zu rächen, für das Wahre und Rechte einzustehen mit ihrem Leben.

So kann das erste wieder in sein Recht eintreten. Es ist nicht widerlegt durch den Geschichtsverlauf. Der sanfte Jesus, der nicht zur Waffe greifen wollte, er hatte recht, denn jeder, der zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. So ist kein Friede zu finden in dieser Welt.

 

Aus Notizen 2013
Foto von Francesco Ungaro von Pexels
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