Ein Brief zum Advent

Ich glaube, ich kann vieles, was Sie mir im Brief erzählen, aus dem eigenen Leben nachvollziehen. Ich trage aus meiner Kindheit nicht jene Sicherheit des Daseins in mir, die aus guten, stärkenden Beziehungen stammt. Ich muss lernen, mir die Anerkennung selber zu geben, die ich aussen suche, die Wärme, das Schützende, das Väterliche und das Mütterliche. Ich finde das Vertrauen zu dieser Welt, das Gefühl, in dieser Wirklichkeit gehalten und geborgen zu sein, nicht selbstverständlich in mir. Darum ist es zu einem Lebensthema für mich geworden.

Auch ich habe Kinder, lebe in einer Partnerschaft. Und ich erlebe: Dort kann ich diesen Halt auch nicht finden, im Gegenteil, die Familie, die Kinder erwarten von mir, dass ich „da“ bin und ihnen Halt und Beständigkeit gebe. Und so muss es ja sein, der Regen kann nicht von unten nach oben fliessen, die Kinder können und dürfen diese Rolle nicht für ihre Eltern übernehmen, wenn sie sich gut entwickeln sollen.

Weil die Frage für mich so wichtig ist, musste ich sie einmal ganz radikal stellen: Ist diese Wirklichkeit überhaupt so, dass wir uns in ihr gehalten und geborgen fühlen können, oder ist die Welt ein finsteres „Loch“, in dem wir nur verloren gehen können? Das ist die religiöse Frage: Gibt es einen Gott? Hat diese Wirklichkeit eine Mitte? Ist da eine Kraft aus dem Ursprung, die alles trägt und auch mich?

Ich habe wieder angefangen zu beten, habe die Reste des Vertrauens wiederbelebt, die ich bei mir finden konnte. Und ich habe dort angefangen, einen Weg des Vertrauens zu gehen, statt den Weg der Absicherung, den ich vorher gegangen bin. Es ist ein langer Weg. Auch Sie schreiben ja, dass Sie einen Weg gehen.

Das Bild, das ich beifüge, zeigt eine russische Ikone: Maria, die das göttliche Kind in sich trägt. Gott ist da, er ist gegenwärtig. Es ist für mich eine Hilfe, mich im Gebet immer wieder in diese Gegenwart zu stellen. Bis dieses Gefühl des Getragen-Seins auch körperlich spürbar wird und ich Anschluss finde an ganz frühe Empfindungen meines Lebens, als ich mich wohl fühlte in meiner Haut, erwünscht und gehalten. Und so kann der Glaube, der zuerst nur im Kopf steckt, in ein paar Empfindungen, sich „inkarnieren“, er kann immer mehr „Fleisch“ annehmen und dieses Leben fühlbar gestalten.

Aber das klingt für Sie vielleicht etwas abrupt, wie da scheinbar alle Probleme religiös „gelöst“ werde. Für mich ist es nicht eine schnelle Lösung, es ist eine Hilfe auf dem Weg. Und dieser Weg bleibt. Er ist eine Herausforderung, Tag für Tag. Aber es gibt auch die Hilfe, Tag für Tag. Und die religiöse Tradition gibt uns Übungen, wie wir Tag für Tag eine gute Haltung aufbauen können. Und wenn es einmal nicht klappt, wenn wir zurückfallen in alte Muster, müssen wir nicht verzweifeln. Wir dürfen uns wieder neu anvertrauen, es gibt Vergebung und Liebe. Und es gibt Erlösung.

Erlösung, das heisst zuerst einmal: dass ich allein es nicht schaffe. Dieses Eingeständnis scheint zuerst wie eine Bankrotterklärung. Wer bin ich dann noch, wenn ich mein Leben nicht selber schaffe? Und tatsächlich, eine alte Weise, mein Leben meistern zu wollen, geht in dieser Bankrotterklärung zu Grunde. Und ich entdecke das, was mein Leben trägt. Und ich begreife, dass es immer schon da war, ich habe es nur nicht wahrgenommen.

Ich danke Ihnen für Ihren Brief und wünsche Ihnen eine schöne Adventszeit!

 

Aus einem Brief zum Advent 2002

Bild: Madonna mit Kind, Paolo Veneziano