Inkognito

Warum wir Gott erkennen. Warum wir Gott nicht erkennen.

Die christliche Botschaft erzählt, dass Gott seinen Sohn in die Welt sandte und dass er dort doppelt ankommt, um seine Heilsbotschaft zur Geltung zu bringen.
Zuerst kommt er als Knecht, wobei er allen zum Anstoss wird, die ihn als Herrn erwarten. Dann kommt er als Herr und wird allen zum Anstoss, die ihn in Knechtschaft halten wollen.

Und doch ist die erste und zweite Ankunft von einer paradoxen Gleichzeitigkeit. Aus diesem Paradox stammt die doppelte Ironie des lNRI-Schildes über dem Gekreuzigten („Jesus von Nazareth, König der Juden“):

Das Gelächter, auf das die Machthaber setzen, stammt aus dem Widerspruch von Knecht und König: „Seht her!“, so sagen sie, „diese Jammergestalt, die tot am Kreuz hängt! Das ist euer König, auf den habt ihr eure Hoffnung gesetzt, ihm wolltet ihr das Königtum erobern!“

Das Lachen der Kirche, mit dem sie gerade dieses Spottbild als Sinnbild ihrer Hoffnung übernehmen kann, sagt: Gerade in diesem Widerspruch ist der Knecht der König! Der König kommt nicht nach dem Knecht. Als Knecht findet er die Seinen. Und wer im Knecht den König erkennt, der findet ihn. Diese Gestalt des Jammers ist unser König, ganz recht. Auf ihn haben wir unsere Hoffnung gesetzt.
Mit ihm werden wir das Königtum erlangen.

 

Aus dem Buch „Wie ich den Unglauben lernte“, Notiz vom Mai 1990