Der ungläubig Gläubige

Ich war damals weit entfernt von Religion und Glaube. Allerdings, als meine Frau so viel auf Autobahnen unterwegs war, da ertappte ich mich dabei, wie ich für sie betete. Und ich fragte mich: Wie kann ich beten, wenn ich  nicht glaube? – Wie kann ich ungläubig sein, wenn ich bete?

 

Der gläubig Ungläubige

Typisch ist vielleicht auch, dass ich mir gegenwärtig den Kopf darüber zerbreche, ob ich „gläubig“ bin oder nicht – ich bin so unsicher, dass ich diese Frage nicht mehr mit Entschiedenheit beantworten könnte. Mein Seelenleben in dieser Frage gleicht einem Yin-und-Yang-Zeichen. Ich kann entweder sagen: die Grundierung ist weiss, darauf schwimmt aber eine Insel des Gegenteils, oder ich kann mich vom Schwarzen bestimmen lassen: der Hauteindruck meiner Befindlichkeit ist schwarz, aber da ragt als Fremdkörper etwas Weissen hinein.

Eigentlich rechne ich nicht mit „Gott“, aber da gibt es Erlebensbestände, ritualisierte Reste in meinem Verhalten, die zu gelegentlichen abendlichen Regressionen in einen Kinderglauben führen, was vielleicht eher aus psychologisch-emotionellen Motiven zu erklären ist als aus weltanschaulich-philosophischen.

Oder es ist überhaupt Unsinn, bei der Frage, wie man sein Leben bewältigt, „weltanschauliche“ oder „emotionelle“ Teile ausmachen zu wollen. Genauso gut wie von der Ebene der Weltanschauung könnte ich von der Gefühlsebene ausgehen und zu folgender Feststellung gelangen:

 Eigentlich bin ich „gläubig“, und das bricht abends durch, wo ich wie ein gepanzertes Weichtier eine Stelle habe, an der der Panzer durchlässig ist, wie der Halskragen einer Schildkröte. Das ist nicht die Ausnahme, sondern das Fenster, das einen Ausblick auf meine eigentliche Befindlichkeit erlaubt.

Am Abend, in der empfindlichsten Phase des Tagesablaufs, wenn alte Ängste aufsteigen, wenn ich mit nicht verarbeiteten Erlebnisbeständen konfrontiert werde, dann wechsle ich die Art meiner Lebensbewältigung. Ich schalte auf „religiös“ um, nehme neue Lösungsmittel in Anspruch, auf die ich in der Illusion der Mittagsklarheit meine, verzichten zu können: dann, wenn alle Ecken ausgeleuchtet sind, wenn ich ausgeschlafen habe und aufgestanden bin und mein Blutkreislauf seinen Normalzustand erreicht hat – keine unerklärlichen Schwindelanfälle mehr, kein Irrealitätsgefühl, wie ich das in den letzten Wochen meiner physischen und psychischen Erschöpfung zum Beispiel gekannt habe, kurz: wenn meine Augenblicks-Empfindung, die vielleicht nur fünf Prozent der Bewusstseins-Zustände ausmacht, die man überhaupt haben kann, mir eine eigene Kompetenz und Machtvollkommenheit vorspiegelt, so dass ich in einer Anwandlung von Optimismus meine, mein Leben selber in die Hand nehmen und mit seinen Grenzen durch eigenes Tun versöhnen zu können.

 

Aus dem Buch „Wie ich den Unglauben lernte“, Notiz vom 24.4.85.