Der Tod hat sich verändert

Unsere Kinder werden die Welt nicht mehr so erleben, wie wir das noch durften. Das hat mir lange am meisten zu schaffen gemacht. Es macht mir Angst, in die Zukunft zu gehen und die Kinder auf diesem Weg allein lassen zu müssen. Wer behütet sie? Auch der Tod hat sein Gesicht verändert. Alles ist unbekannt und unerprobt. Wer könnte hier Führer sein, wer hat das schon erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?

 

Nach dem Regen
Nach den häufigen Regenfällen der vergangenen Tage sieht der Bach verwüstet aus. Und die Mauer beim Schwimmbad, mit der das Bachbett gesichert werden sollte, hat sich etwa einen Meter abgesenkt. Es zeigt, wie schnell Berechnungen ungültig werden, wie das Wetter uns alle überrascht, obwohl wir schon lange darauf vorbereitet sein sollten.

Ich mache einen Bogen, um wieder nach Hause zu kommen, und gehe über das Feld. Grosse Pfützen stehen darauf. Aus meinen Gedanken steigt der Satz auf: „Es ist kein Untergang, es ist eine neue Ära.“ Das klingt banal, wenn ich es aufschreibe, für mich in meinem Brüten war es etwas Neues. Es ist ein Stück Abfinden darin, ein Akzeptieren, dass sich vieles verändert hat.

Die Welt der Kinder
Unsere Kinder werden die Welt nicht mehr so erleben, wie wir das noch durften. Das hat mir lange am meisten zu schaffen gemacht. Ich hätte ihnen gern die Welt meiner Kindheit gezeigt. Aber sie hatten auch ihre Kindheit, und der Zauber gehört dazu, sie haben ihn wohl an einem anderen Ort erfahren, als ich damals.

Ja, das Klima hat sich verändert. Die Wetterlagen sind anders, die Windsysteme haben sich teils verlagert. Immer mal wieder berichten die Zeitungen, dass sich die Meeresströmungen verändern könnten. Wir Menschen haben Angst. Es macht mir Angst, in die Zukunft zu gehen und die Kinder auf diesem Weg zunehmend allein lassen zu müssen. Wer behütet sie? Auch der Tod hat sein Gesicht verändert. Alles ist unbekannt und unerprobt. Wer könnte hier Führer sein, wer hat das schon mal erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?

Früher
Auch wir hatten früher Angst, als wir Kinder waren. Wir hatten Angst vor der Atombombe, dass die Mächte im kalten Krieg die Welt auslöschen könnten. Jetzt ist eine andere Epoche. Nicht mehr der Atompilz steht als Fanal über dem Horizont, nicht mehr der atomare Winter, aber dass die Vögel verstummen, dass die Stürme unerhörte Gewalt erlangen, dass das Wasser in die Häuser steigt, dass die Ernten vernichtet werden und Hunger und Krankheit und Krieg wieder kommen…

Eine neue Ära
„Es ist nicht der Untergang, es ist nur eine neue Ära“ – so tönt es in meinem Innern. Der Gedanke ist tröstlich, als ob der Schrecken damit eingeebnet wäre. Als ob er auf jene Stufe gebracht wäre von Abenteuern, die wir schon erlebt und durchlitten haben – und überlebt. Es ist, als ob das Leben auch das meistern könnte. Der Schrecken wird beruhigt. Die Erde kennt das, nicht auf diese Art, aber auf analoge Weise.

Das Leben kennt das, hat Ähnliches durchgestanden. Es ist in den Tod getaucht und hat eine Metamorphose durchgemacht. Krisenzeiten waren immer schöpferische Zeiten. Nach einer Katastrophe entstanden neue ökologische Räume, die Zahl der neu entstandenen Arten ist jeweils geradezu explodiert. Die schöpferische Kraft ist nicht erloschen. Die Welt hat schon viele Zustände erlebt, die Biosphäre hat sich oft neu ausgerichtet. Die „Seele der Welt“, das Leben, kennt das aus ihrer Geschichte, und trägt das Wissen in sich. Das ist niedergelegt in der „Nachtfahrt der Seele“, von der wir Bilder und Symbole in uns tragen. Diese Fahrt führt ins Chaos, in den Tod, sogar in den Tod der Arten, und sie führt zu einer neuen Schöpfung.

Als ich nach Hause gehe, habe ich aber andere Gedanken. Ich spürte das Herz klopfen. Und ich erinnere mich an das Bild von der Madonna mit dem Kind, das einen kleinen Vogel in seiner Hand hält. Eigentlich berichtet das Bild von der Erlösung des Menschen: weil Gott aus dem Himmel auf die Erde herabgestiegen ist, hat er den Weg aufgetan. Der Mensch hat Flügel bekommen und kann in den Himmel steigen wie ein Vogel.

Der Vogel in meiner Hand
Mir ist das Bild eingefallen, weil ich mich fühle wie ein kleiner Vogel in seiner Hand. Mein Herz klopft gegen seine Hand. Er kann es spüren. So ist es, wenn ich selber einen Vogel in die Hand nehme, z.B. weil er sich in einem Schutzzaun verfangen hat, der über die Reben gespannt ist. Auf der Wanderung sehe ich ihn und löse ihn aus den Schnüren. Und ich spüre das kleine Leben in meiner Hand. Es zittert und hat Angst, aber ich will ihm nur helfen. So zittert auch das Herz des Menschen in der Hand Gottes. Er hat Angst, aber Er ist schon dabei, ihm zu helfen.

Und das Bild von der Madonna mit dem Kind hat nicht unrecht: Er steigt herab zu uns. Er durchsteigt Abgrund um Abgrund, bis er uns gefunden hat. Er lässt nicht davon ab, bis er bei uns ist, und wenn wir noch so tief gefallen wären. Unser Herz flattert vor Angst, wenn wir in den dunkel verhangenen Himmel schauen. Aber er kommt auf dem Regenbogen, und dieser erinnert uns: dass er die Welt nicht mehr in einer Sintflut ersäufen will, weil ihn die Schöpfung reut. Der Mensch ist so, wie er ist, aber er will es sich nicht mehr gereuen lassen. „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um des Menschen willen; denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“

Ich darf unsere Kinder in die Zukunft gehen lassen und – wenn es soweit ist – sagen wie Simeon: „Ich kann in Frieden gehen, denn ich habe Dein Heil gesehen, das du uns bereitet hast.“

 

Aus: Notizen 2007
Bild: Guercino-Madonna-del-passero-1615-Bologna