Eine gebrochene Familie

Maria, Josef, die Hirten… Für einmal möchte ich nicht diese Gestalten ansehen, sondern das, was sie verbindet. Der Blick geht nicht direkt auf die Figuren, sondern auf den Raum zwischen ihnen. Auch dieser erzählt von Weihnachten, und wie wir es erleben können.

Maria und Josef sind da. Wer sie nennt, sagt immer auch das „und“. Es ist das, was uns Menschen verbindet. Es ist die Tatsache, dass wir nicht einfach auf uns gestellt sind, dass wir unser Leben und Ergehen mit andern teilen können. Es ist ein heilsames „und“ neben dem unheilvollen, das es auch gibt, wo Verletzungen entstehen, Enttäuschungen, Unrecht, Bitterkeit. Jenes unheilvolle „und“ ist auch da in dieser Krippe, als dunkler Hintergrund. Als Nacht, in die das Licht kommt.

Nicht weit von Maria liegt das Kind in der Krippe. Sie ist so nahe, dass der Abstand eher Nähe ausdrückt als Ferne. Hier ist alles abgebildet, was Nähe bedeutet im Leben: die Familie, unsere Eltern, die Kinder, die Gemeinschaft.
Es ist die Sorge um die Kinder, wenn sie fortgehen und die Freude, wenn sie aufgehoben sind und den Weg finden. Es ist das „Du“, an dem wir uns selber werden und an dem wir wachsen. Es ist Herausforderung und Hilfe im Leben.

Josef steht da bei dieser Krippe. Er ist schon weiter weg, aber auch nah. Er gehört nicht zur Familie und doch dazu. Ich muss an eine gebrochene Familie denken: gebrochen, weil jemand gestorben ist, weil eine Beziehung auseinander ging – gebrochen, aber auch wieder geheilt. Neue Beziehungen sind entstanden, das Vertrauen hat wieder Fuss gefasst. Das Leben hat eine neue Chance. Es ist eine Patchwork-Familie, wie man sie heute häufig trifft.
Josef ist nah beim Kind und doch wieder fern. Alte Menschen fallen mir ein. Die Kinder sind schon lange ausgeflogen, die Enkel gross. Sie haben nicht mehr so viel Zeit, um die Grossmutter zu besuchen. Sie sind in Schule und Lehre. Aber Nachbarn sind da. Die Frau gegenüber hilft einkaufen. Der Mann im Parterre – er ist seit kurzem pensioniert – geht für sie zur Post. Und es ist gut, ihn im Haus zu wissen, falls mal etwas wäre.

Josef ist zwar ein Mann, und doch fällt mir, wenn ich diese Nähe ansehe, die die Ferne überbrückt, eine Frau ein. Sie hat Kinder wie wir. Nichts scheint selbstverständlicher als dass man sich aushilft, ihre Kinder sind mal bei uns, unsere bei ihr. Und doch, wenn es drauf ankommt, und ich die Erfahrung mache: sie ist da, sie hilft, es ist Verlass – dann tut das in der Seele gut, diese Erfahrung, nicht allein zu sein. Es ist das Bild einer grösseren Familie, das vor mir aufsteigt, einer Familie, die die Grenzen der natürlichen Familie übersteigt. Viel stärker fühle ich mich, viel weniger ausgesetzt gegenüber den Wechselfällen dieser Welt.

Dann sind die Hirten da auf diesem Krippenbild und Schafe. Sie sind weiter weg. Sie stehen für die politische Gemeinschaft. Die ist weniger nah, weniger von Gefühlen umgeben, und doch wichtig. Da geht es um Gerechtigkeit, dass wir uns erfahren dürfen als Menschen, die Rechte haben. Dass wir nicht willkürlich herumgeschubst werden, dass wir uns wehren können. Wir sind getragen von einer Gemeinschaft mit derselben Überzeugung von dem was Recht und Unrecht ist, und sie steht dafür ein mit ihrer Macht.

Um Recht geht es und um den Schutz der Schwachen. Die Hirten in der Weihnachtsgeschichte erinnern an die Scheltworte Gottes an die schlechten Hirten, die nur ihren Vorteil suchen und sich an den Schafen bereichern, statt sie zu hüten. „Ich selber werde meine Schafe weiden, spricht der Herr. Das Verirrte werde ich suchen, das Versprengte zurückholen, das Schwache werde ich stärken und das Kräftige behüten. Ich werde über sie einen Hirten bestellen, der sie weiden soll, meinen Knecht David.“ (Ezechiel 34).

Die Krippe wüsste noch vieles zu erzählen. Der Raum zwischen den Personen ist nicht leer. Er ist voller Beziehungen. Er erzählt Geschichten von Glück und Leid und von dem, was helfen kann. Wohl ist es Nacht in diesem Raum. Aber sie wird erhellt von dem, was zwischen diesen Menschen wirksam ist. Und das allerstärkste ist die zwischenmenschliche Solidarität. Das ist die in der Empfindung gegenwärtige Erfahrung, dass einer im andern lebt, dass allen dasselbe widerfahren kann, und aus dieser Erfahrung die Bereitschaft zu helfen. Es ist geteiltes Leben – geteiltes Leid und geteiltes Glück.

Es ist der ungeheure Reichtum von dem, der sich selber verloren hat und wiedergefunden im andern. Und er erfährt sich als grosse Familie, über die Grenzen hinaus, die Natur und Herkommen ziehen.

Die Krippe zeigt eine gebrochene Familie, wenn man so will, weil die Vergangenheit eine Grenze zieht, die niemand überschreiten kann. Eine geheilte Familie aber auch, weil neue Verwandtschaft entsteht, wo ich mich im andern erkenne. Eine heilige Familie, meint die Weihnachtsgeschichte, weil sie die Krippe ist, in die Gott das Kind legt, dass es gross werden kann unter den Menschen und Befreiung bringen, auf dass Erlösung geschieht.

Foto von Lino Khim Medrina von Pexels