Eine Würde, die nicht vergeht

Wer älter wird, dem ist auch der Tod schon begegnet. Und es scheint nicht lang zu gehen, weiss man viele Angehörige auf dem Friedhof. Und bald wird es zu einer schönen Angewohnheit, sie dort zu besuchen.

Sie verdienen unsern Respekt: die Verstorbenen. Wenn wir schon zu Lebezeiten in Liebe und Achtung mit der älteren Generation verkehren können, dann gibt uns das „Boden unter die Füsse“. Bis hinab zu den Enkeln spürt man es, dass sie daraus Kraft ziehen und besser auftreten können im Leben.

Manchmal hat man sich auseinandergelebt mit seinen Verwandten. Das Gespräch mit den Eltern ist verstummt. Aber es ist dadurch nicht abgebrochen. Es geht nach ihrem Tod weiter. Wir tragen sie in unserem Innern. Sie sind ein Teil von uns. Sich einig zu wissen mit ihnen, gibt uns Kraft. Trennt uns etwas, so ist jeder Schritt der Annäherung ein Schritt zum persönlichen Wachstum.

Konflikte binden. Eine Versöhnung kann frei machen, so dass das zurückgebundene Leben sich wieder entfaltet. Das meint die Bibel, wenn sie der Achtung vor den Eltern „Segen“ zuspricht: „Du wirst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“

Immer öfter werden heute Menschen beerdigt, die im Alter verwirrt wurden. Es betrifft reich und arm, es nimmt keine Rücksicht auf Stand und Einfluss. In den 90er Jahren wurde die Gesellschaft aufgeschreckt durch das Auftauchen von Alzheimer und anderen Demenz-Krankheiten. Das Wort „Demenz“ heisst wörtlich „ohne Geist“ oder „ohne Seele“. Das Wort grenzt die Menschen unnötig aus.

In den Pflege-Wissenschaften löste es ein neues Nachdenken aus über den Zusammenhang von Körper, Geist und Seele. „Demenz“, so fand man, ist nicht einfach eine körperliche Diagnose. Was wir als „dement“ empfinden, hängt von unserer Kultur ab. Wenn der Mensch als rationales, selbstbestimmtes Individuum gesehen wird, dann ist ein verwirrter Mensch wie ein Schreckbild, das Gegenteil der Ideale.

Die Gesellschaft ist mehr und mehr von der Wirtschaft bestimmt, die leistungsfähige und produktive Arbeitskräfte braucht. Die Jugendlichen bestimmen immer mehr die Werbung, weil sie viel Geld ausgeben. Damit ist der jugendliche und leistungsfähige Mensch zur Norm geworden, und der sogenannte Demente erscheint wie der Schatten einer Zivilisation, die das Licht der Anerkennung einseitig verteilt, so dass immer mehr Schicksale und Lebensalter ins Dunkel abrutschen.

„Ich kenne dich, du hast Gnade gefunden vor meinen Augen. Ich vergesse dich nicht.“

So sagt Gott in der Bibel. Und es entspricht unserer Empfindung. Wir möchten als Menschen geliebt sein unabhängig von dem, was wir leisten. Und wir möchten andere Menschen achten für das, was sie sind, und nicht nur für ihren Nutzen.

„Du hast Gnade gefunden vor meinen Augen, spricht Gott. Ich kenne Dich. Ich werde dich nicht vergessen.“

Das sagt er gerade auch zu solchen Menschen, die vergesslich werden. Sie erkennen ihre Angehörigen nicht mehr. Sie kennen sich selber nicht mehr. Aber Gott kennt sie und er vergisst sie nicht. Das macht sie zu Menschen. Diese Würde ist unauslöschlich.

 

Foto von rawpixel.com von Pexels