Neues Jenseits?

Ich lese in der Baruch-Apokalypse. Hier wird der Schritt getan, von einer messianischen Hoffnung zu einer Jenseits-Welt, die in einer Endzeit kommt, aber jetzt schon erfahrbar ist, wo man sich hin fliehen kann.

Ein Strom trennt diese und die andere Welt und niemand kann ihn überschreiten. Es ist die Lebensgrenze, die nur im Tod überschritten wird. Was in der mythologischen Erzählung eine Grenze zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod darstellt, ist in der Erkenntnis-Theorie die Grenze zwischen dem sinnlich und geistig Erkennbaren. Das kann man nicht „erleben“, aber man kann davon „wissen“. Man findet es in den Intuitionen, die wir zum Leben-Können brauchen.

Wo Handeln versagt
Ich erinnere mich als mir die Ahnung aufging, der Schritt Platons von der sinnlichen zur geistigen Erkenntnis, von der empirischen zur intelligiblen Welt entspreche dem Schritt der Religion vom Diesseits zum Jenseits. Platon habe etwas zu tun mit diesem Überschreiten der Erfahrungsgrenze im Erkennen und Handeln, weil dem Handeln nicht mehr zugetraut wurde, die Leidensbestände versöhnen zu können, sodass eine religiöse Vermittlung in Anspruch genommen wurde. Das Leben, wie es in dieser Religion betrachtet wurde, z.B. bei einer Beerdigung, konnte in der diesseitigen Welt nicht mehr an ein Ziel kommen. Man musste auf die Vollendung der Welt schauen, auf den Weg allen Seins, das an einen Uranfang begonnen hatte (ein Mensch war nicht dabei) und das zu einem Ziel unterwegs ist (der Mensch wird es nicht herbeiführen).

In der Geschichte des Ersten Testamentes lässt sich das verfolgen, wie dieses Überschreiten der Erfahrungsgrenze zustande kam In der Zeit des späten Alten Testamentes kamen Apokalypsen auf, die teils Eingang fanden in das Alte und Neue Testament, aber auch in jüdischen Schriften dieser Zeit.

Die griechische Kultur war zuvor schon mit der ägyptischen Religion bekannt geworden. Platon nimmt vieles davon auf, auch von der Religion, und säkularisiert es in seiner Philosophie. Es gab eine «interpretatio graeca» der ägyptischen Kultur. Hier lässt sich verfolgen, wie vieles aufgenommen und «übersetzt» wurde.

An der Grenze
Baruch erzählt vom Grenzfluss, an dem der Weg angekommen ist. Wer hinüber will muss sich wandeln, es ist die Grenze von Leben und Tod. Von der Grenze her kommt Kunde, doch die Sprache, die davon erzählt, ist eine andere. Wie es dort drüben aussieht, hat niemand erlebt, das Wissen davon stammt aus anderen Quellen. Es sind Denknotwendigkeiten, die dazu nötigen, blosses Erleben weiss nichts davon. Das Reich dieser Welt wird hier verlassen, es ist die Welt der Götter, von der die Mythen erzählen.

Die frühe griechische Philosophie war vertraut mit solchen Mythen, sie hat sie auch kopiert. Ich denke an Parmenides, der eine Offenbarungs-Erzählung einer Mysterienreligion zitiert und an die Stelle, wo die Göttin sich dem Mysten zeigt und ihre Wahrheit offenbart, seine Lehre vom unveränderlichen Sein einträgt. Hier ist der Mythos nur noch Kleid und Form. Die Erkenntnis wird nicht von einer Göttin offenbart, das hat der Philosoph durch Nachdenken gewonnen. Aber das «unveränderliche Sein», das ist ein Blick auf die Wirklichkeit, die die empirische Grenze überschritten hat. Das ist Jenseits-Religion in philosophischer Gestalt.

Revolution der Kultur
Bewegt man sich im antiken Umfeld, so ist das vielleicht nicht erstaunlich, weil man dort vieles findet in dieser Art. Man muss sich erinnern, wie man heute auf solche Fragen reagiert, dann realisiert man das Gewaltige und Umstürzende, was mit diesem Schritt verbunden war: das Heil wird nicht mehr in dieser Geschichte erwartet, sondern jenseits dieser Zeit, in einer anderen Wirklichkeit. Diese ist zwar mit dieser Erfahrungswelt verbunden, aber doch auch getrennt, so dass sie Güter bewahren kann, so dass Menschen (Seelen) dort geborgen sind und von den Übeln, von Gewalt, Krieg und Unrecht dieser Welt nicht mehr gefährdet werden können. Man muss sich nur erinnern, wie Nietzsche sich ereifert über die «Hinterwelten» im Christentum, wo das Diesseits verraten werde, wo das Leben betrogen statt gefeiert werde. In diesem Stil findet sich vieles in 200 Jahren Metaphysik-Kritik. Man feiert die sinnlich erkennbare und gestaltbare Welt, was vielleicht die Essenz der «Moderne» gegenüber ihren Vorepochen ausmacht.

Wohlfühlen im Diesseits
Heute kommen wir von einer anderen Seite her. Die Menschen, die heute alt sind, waren jung in den 60er Jahren. Sie haben diese «empirische Wende» mitgemacht, die Wende zum Diesseits, die Verabschiedung der Religion, die Feier der Sinne, etc. Sie haben die Weltkriege nicht mehr erlebt, wie ihre Eltern. Sie haben das Abwandern des Wohlstandes nach Ostasien noch nicht erlebt. Es war eine behütete Zwischenphase, eine Insel von Frieden und Prosperität in Europa. Sie lebten in der Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg, als es beruflich immer aufwärts ging. Und Staat und Gesellschaft stützten den einzelnen. Der System-Wettbewerb im Kalten Krieg führte zu einer «Sozialen Marktwirtschaft». Man korrigierte die negativen Systemfolgen, stützte jene, die hinauszufallen drohten, weil ja immer die Gefahr bestand, dass die Menschen zum anderen System überliefen, das die Hälfte der Welt besetzt hielt.

Neue Revolution im Denken?
Heute, 2022, ist der Krieg wieder eingezogen in Europa. Das Klimaproblem droht, ausser Kontrolle zu geraten. Der Optimismus, die Probleme angehen und lösen zu können, ist weitherum verschwunden. Da geht der Blick wieder hinaus über die Grenzen des Machbaren. Da kann wieder ein Prophet auftreten mit einer Vision oder ein Reisender, der ans Ende der Welt reist, von wo er Nachricht bringt: „Er nahm mich und brachte mich dahin, wo der Himmel befestigt ist und wo ein Strom war, den niemand zu überschreiten vermag“ wie es heisst in der Baruch-Apokalypse.

Und er erzählt von einem Land des Friedens und der Gerechtigkeit, das jenseits des Stromes beginne. Man könne nicht einfach hinüberfahren, aber wir könnten schon hier und heute Früchte davon essen, bis wir eines Tages, wenn unser Leben zu Ende geht und die Kraft uns verlässt, über diesen Strom getragen werden und in dieses Land des Friedens eingehen. Dort können wir unsere Lieben aufgehoben wissen, die der Unfriede dieser Welt von unserer Seite gerissen hat. Dort ist alles Leid aufgehoben und Gott wischt alle Tränen ab.

Das mag vielen bekannt vorkommen. Kommt man aber nicht von einer religiösen «Subkultur» her, sondern von der dominierenden Deutung von Welt und Leben, die Metaphysik verabschiedet und Religion aufgehoben hat, so ist es eine Revolution, die an die elementarsten Motive der Moderne rührt und sie in Frage stellt. Der Tatbeweis steht ja noch aus: dass diese Welt aus blosser Vernunft verstanden werden kann, dass die Leidensbestände dieser Welt durch Handeln versöhnt werden können. Wenn es so ist, muss niemand mehr am Grenzfluss stehen, muss niemand mehr an den Gitterstäben rütteln, die den Tod von Leben trennen. Denn die Menschen gelangen hier zur Entfaltung und Recht und Gerechtigkeit finden hier eine Heimstatt. Da bleibt kein Rest, der eine religiösen Traum inspirieren könnte von einer besseren Welt.

 

Bild: ein Mädchen balanciert auf einer Grenze, Foto von Kate Gundareva von Pexels.

Die griechische Baruch-Apokalypse gehört zu den so genannten Pseudepigraphen des Alten Testaments. Die Schrift wird dem biblischen Baruch zugeschrieben, der im Buch Jeremia als Schreiber erwähnt wird (um 600 v. Chr.). Die Schrift ist aber nach der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) verfasst.