War ich nicht glücklich?

Texte zur Lebensbilanz

Lebensbilanz ist nicht etwas Gemachtes, Lebensbilanz ereignet sich. Manchmal erwischt es uns von hinten. Unerwartet und verstörend. Lebensbilanz kann auch sein: ein poetischer Anflug, wenn man das Leben plötzlich als Ganzes sieht. Man wird herausgelöst aus dem Strom des üblichen Empfindens. Kriegt plötzlich andere Augen und blickt wie von aussen auf sich und seine Situation. Und man begreift: Das, was jetzt geschieht, das ist das, von dem ich später mal sagen werde, dass ich glücklich gewesen bin.

Der Schleier der Selbstverständlichkeit wird auch weggezogen, wenn die Zeit sich beschleunigt. Das erlebt man, wenn die Kinder gross werden. Eigentlich kam es kontinuierlich, da ist kein Trick dabei. Es ging immer Tag für Tag und Minute für Minute. Aber für das Empfinden ist es doch plötzlich. Für das Erleben der Eltern kommt es mit einem Mal. Und dann rast die Zeit, und man begreift es nicht. Man kommt nicht nach mit Fühlen und Handeln. Jedes Wort, bis es ausgesprochen ist, kommt zu spät. Die Situation hat sich schon wieder verändert. Die Geste erreicht den Gegenüber nicht mehr, er ist schon weg.

Dann möchte ich die Zeit festhalten, sie rast mir davon. Ja das ist Glück. Und das, was mir Wehmut in die Seele treibt. Das ist das haltlose Unverstehen gegenüber der Zeit, die so rast, die alles vergänglich macht.

Ich möchte wieder hingehen, wo das Haus meiner Kindheit stand – da ist nichts mehr. Ich möchte sie besuchen, jene Menschen – sie sind weg. Es tut in der Seele weh und ich stehe wie ein Depp, denn ein moderner Mensch versteht das doch, ein Erwachsener kann damit umgehen. Aber ich bin altmodisch, stehe hilflos wie ein Kind. Und es tut mir in der Seele weh. Das gehört auch zum Sterben, und ich wusste es nicht.

Hier Lebensbilanz halten – was wäre das? Am ehesten das Fest, die Feier. Am ehesten die Konfirmation unserer Kinder, die wir schon erlebten. Vielleicht erlebe ich ihre Hochzeit noch, ihr erstes Kind? Solche Bilanzen zieht man nicht. Sie ziehen sich selber. Das ist die Träne im Auge mitten im Fest. Das ist das Lachen, wenn die Kinder gross werden.

 

Aus „Und aus Abend und morgen ward der sechste Tag. Texte zur Lebensbilanz.“
Das Büchlein lässt sich über die Schaltfläche „Download“ herunterladen.
Die Gestaltung ist für den Broschürendruck ausgerichtet. Es sind 32 Seiten.)