Ein Trauer-Gottesdienst für ausgestorbene Arten?

Bald gedenkt man wieder der Toten. Am Ewigkeitssonntag werden Kerzen entzündet, Namen werden verlesen, Trauer erhält ihren Ort. Kann ich auch für unsere verstorbene Katze beten? Sie hat unsere Familie begleitet, sie war da, als die Kinder klein waren. Kann ich für all die Tiere beten, die gestorben sind, und da nicht nur Tiere sterben, sondern ganze Arten – kann ich auch um sie trauern?

Trauer um Tiere?
Es wäre ein Schritt, so denke ich, um in meiner Haltung weiter zu gehen: nicht mehr nur die Angst vor kommenden Klima-Katastrohen, nicht nur die Sorge, wo ich mich in meinem Glauben vergewissern kann, dass die Welt trotz des Menschen gehalten ist, sondern auch Wahrnehmen, was geschehen ist und der Trauer Platz geben.

Einen Namen geben
Es ist nicht nur ein Tier, das gestorben ist, es sind ganze Arten. Es ist nicht nur eine Art, es ist ein „Massensterben“. Ich will es aber nicht vergleichen mit anderen Massensterben in der geologischen Geschichte der Erde, als ob es sich einordnete in eine Reihe bekannter Phänomene. Ich möchte eine Liste all der Namen, die gestorben sind – nicht der Individuen, die sind namenlos, aber der Arten, die seit dem 18. Jahrhundert auf der Erde ausgestorben sind.

Blumen am Strassenrand
Das erinnert an die Gross-Gottesdienste, die bei Katastrophen und Terroranschlägen gehalten werden. Dabei wird die Form, die für individuelle Beerdigungen entwickelt wurde, für ein Kollektiv von Betroffenen erweitert. So ist es auch üblich geworden bei den jährlichen Gedenk-Gottesdiensten an Allerseelen oder am Totensonntag, wenn für die Verstorbenen des vergangenen Jahres eine Kerze angezündet wird. So imitieren es die Menschen spontan, wenn sie am Ort einer Katastrophe eine Kerze anzünden oder einen Blumenstrauss niederlegen. So wird es eindrücklich zelebriert an Gedenkfeiern für die Toten vergangener Schlachten und Invasionen. Ich habe es in Südengland erlebt.

Kann ich das überhaupt abtrauern?
Ich denke nicht zuerst an einen öffentlichen Akt. Ich möchte mich selber mal hindurchdenken und hindurchfühlen. Kann ich das überhaupt abtrauern? Welche Reaktion steht mir offen, was spielt sich bei mir ab? Wo ist Hoffnung, Enttäuschung? Wo Furcht und Gewöhnung? Wo ist Sorge um die Kinder, wo Resignation?

Hat Trauer einen Sinn, weil sie verhindert, dass die Sorge in Resignation kippt? Weil sie die Intuition wachhält, dass das Leben leben soll? Weil sie trotz des gesenkten Hauptes den Kopf hochhält: Nein, wir erinnern uns an die Zusage Gottes und wir halten daran fest, für uns und unsere Kinder!

Das Gewimmel der Gänse
Heute Morgen, noch im Dunkeln vor dem Tag, habe ich Bibel gehört. Und Gott sprach, so heisst es am fünften Schöpfungstag, dass es wimmeln soll von Fischen im Meer und von Vögeln in der Luft und von Tieren auf dem Land. So sah ich es gestern noch in einem „Naturfilm“ im Fernsehen. Da waren tausende von Gänsen, die auf einem See Zwischenhalt machten auf ihrem Vogel-Zug. Wenn sie aufflogen, war es ein Wimmeln. Unmöglich sie zu zählen. Das hat offenbar auch einen guten Sinn, denn es wurden Adler gezeigt, die eine Gans fangen wollten, aber das Gewimmel machte sie unangreifbar.

Das Gewimmel als Segen
Darum ist es in gewissen Schichten das ersten Testaments auch verboten, das Volk zu zählen, obwohl an anderen Stellen berichtet wird, das ausgerechnet König David, das Volk zählen liess. Denn das Zählen macht das Volk berechenbar (man kann es für den Kriegsdienst ausheben und besteuern). Es widerspricht dem Vertrauen auf die Zusage, die Gott Abraham gegeben hat, dass seine Nachkommen zahlreich sein sollen wie der Sand am Meer, wie die Sterne am Himmel.

Unzählbar
Das Gewimmel ist ein Zeichen des Segens, wie er schon beim Schöpfungsakt ausgesprochen wird. (Das Zählen, könnte man anfügen, ist ein Zeichen der Herrschaft, die er dem Menschen über die Tiere und Pflanzen gegeben hat. Aber diese Herrschaft ist begrenzt, sie steht unter dem Bewahrungsgebot, das er den Menschen auferlegt.)

Unmöglich!
Es stellt sich die Frage, ob ein Wesen dieser Welt das überhaupt machen kann: sich zu verhalten zur Auflösung seiner ganzen Welt, von der es lebt. Wo wäre das darunter weiterlebende Subjekt, das sich herausnehmen könnte und sich verhalten zu einer Welt, die ihm äusserlich wäre, die es nicht selber mit in den Strudel reisst – und nicht nur in der Zukunft, sondern schon jetzt.

Das Artensterben des Menschen
Schon jetzt hat das Artensterben auch den Menschen erfasst, er merkt es nur nicht, weil er in seiner Kultur eine Fiktion aufrechterhält. Aber der Zeitgeist merkt es. Der reagiert vielleicht mit Verzögerung und auf unangemessene Weise, aber er reagiert heftig, weil hier gespürt wird, dass es ans Lebendige geht: ans Leben von uns allen.

Auferstehung – kontrafaktisch
Über Mittag, vor dem Schlafen, bete ich für meine Familie. Die Gottessdienste in Südamerika zur Zeit der Verfolgung fallen mir ein. Da wurden am Anfang alle Namen aufgerufen, die zur Gemeinschaft gehören, und die Antwort von allen kam: „presente“ – auch bei den Namen von Verstorbenen.

In diesem Geist müsste ein solcher Gottesdienst für die ausgestorbenen Arten gehalten werden: im Vertrauen auf die Auferstehung und die neue Schöpfung. Auch wenn die Freude am Karfreitag noch kontrafaktisch ist. Sichtbar wird es an Ostern, im neuen Advent, wenn der Menschensohn kommt mit den Engeln des Himmels, wenn er alle Verlorenen wieder bringt.

Nein, ein Trauer-Gottesdienst für die Schöpfung ist nicht möglich. Es wird ein Oster-Gottesdienst. Wir feiern die Kreativität Gottes, auch wenn es geologische Zeiträume beanspruchen mag, bis das auf dieser Erde spürbar wird. Trotzdem: das Vertrauen in Gott hilft gegen Resignation. Wir sind zum Handeln aufgerufen. So kann es einen Sinn haben, in einem Gottesdienst an die ausgestorbenen Arten zu denken.

 

Foto von luizclas, Pexels
Aus Notizen 2018

Listen für ausgestorbene Arten hat die «International Union for Conservation of Nature and Natural Resources» (IUCN) erarbeitet. Die Rote Liste der Gefährdeten Arten 2016 listet z.B. 92 Säugetierarten und 156 Vogelarten auf, die seit dem Jahre 1500 ausgestorben sind.

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_neuzeitlich_ausgestorbenen_Saeugetiere

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_neuzeitlich_ausgestorbenen_Voegel