Sein und Schein

Im Zug habe ich „Ivanhoe“ gelesen von Walter Scott. Es ist Abenteuer-Lektüre für Jungen – und sehr klug. Es liest sich auf weite Strecken wie eine Variante der Odyssee. Die Helden sind im Ausland, auf einem Kreuzzug, und zuhause breiten sich Profiteure aus, sie reissen das Erbe an sich.

Wer ist der legitime Herrscher? Wie weist er sich aus? Es ist nicht nur eine Frage von Recht und Gerechtigkeit. Hier mischen sich Sein und Schein. Wie kann man das auseinanderhalten? In der Mitte des Buches zitiert Scott ein Gedicht.

„Nennt meine Kunst mir nicht Betrug: Vom Scheine
Lebt alles – Bettler betteln nur mit ihm,
Und der geschmückte Höfling schafft durch Schein
Sich Land und Titel, Rang und hohes Ansehn.
Der Priester selbst verschmäht ihn nicht, der Krieger
Schmückt mit dem Scheine seine kühnste Tat.
Ein jeder billigt ihn – denn wer zufrieden ist damit,
Sich so zu geben wie er ist, der bringt’s nicht weit
In Kirche, Feld und Staat: So ist sie halt, die Welt.“

Das Gedicht beklagt und akzeptiert den Tanz um den schönen Schein. Offenbar muss man das akzeptieren, da alle Welt so tickt. Es gibt allerdings eine Alternative, wenn diese auch ihren Preis hat: Wer sich verweigert, „der bringt’s nicht weit / In Kirche, Feld und Staat: So ist sie halt, die Welt.“

Aussen…
Ja, alles funktioniert mit Schein, sagt das Gedicht. Es ist der Anschein, dass der Anspruch eingelöst werde, der durch Ämter und Funktionen erhoben wird. So funktioniert der Adel, die Regierung, Militär und Kirche. Rang und Ansehen werden so zugeteilt, ein anderes Kriterium hat man nicht. Es ist der Anschein, den man sich zu geben weiss.

… und innen
Aber für sich selbst, an seinem Ort, weiss es jeder besser. An seinem Ort ist jeder kompetent. Da kann er es innerlich beurteilen. Und wehe, wenn er sich da selber etwas vormacht. Er verliert sich selbst. Der Gläubige wird zum Heuchler, der Pfarrer zum Darsteller, der Mensch zum Rollenträger, aber er kann nicht mehr unterscheiden, was er jetzt selbst ist und was nur seine Rolle.

Das meint Christus in der Bergpredigt, als er vor dem Schein warnt. Die Tradition hat dafür einen eigenen Begriff geprägt, den „Heuchler“. Denn das kennt man schon lange. Der Politiker, der etwas vorgibt, was er nicht ist, wird irgendwann durchschaut und nicht mehr gewählt. Der Arzt, der einen falschen Titel beansprucht, wird entlassen und eine Zeit lang geächtet. Der Pfarrer und Priester, der etwas vorspielt, gilt als Heuchler.

Das Innerste
Die Psychologen werden daraus etwas machen wie „intrinsische Motivation“, der Soziologe David Riesmann unterschied „Innen- und Aussenleitung“ und sprach davon, dass die neue urbane Dienstleistungsgesellschaft Menschen mit Aussenleitung herausbilde.

Hier geht es aber um mehr, es geht darum, wie ein Mensch sich selber versteht, wie er sich findet, wie er ein „Ich“ wird im Gegenüber von einem „Du“ und als Teil eines „Wir“.

Es geht nicht nur um Anwendungen von Funktionen und Gewissheiten, die bereits gefunden wären, es geht um die Konstitution dieser Identitäten, um die Frage, wie etwas überhaupt entsteht, und das auf dem innersten Feld, was einen Menschen ausmacht, wie er ein Subjekt wird, wie er sich selber begreifen und annehmen lernt, so dass er auch auf andere Menschen zugehen kann, Teil werden kann einer Gemeinschaft.

Der Weg, ein Mensch zu werden
Die Bergpredigt ist an dieser Stelle also nicht nur ein Lehrgang über das rechte Beten (so wie alle Religionen fromme Übungen kennen im Beten, Fasten, Almosengeben). Es ist ein Weg, überhaupt ein Mensch zu werden. Und das – so die Behauptung – gelingt nur vor Gott. Das „Ich“, das werden soll, ist ein Ich vor Gott. Und anders wird es nicht. Ohne Gott kann wohl etwas entstehen, aber das ist nicht das, was all die Generationen vor uns als „Mensch“ bezeichnet haben. Ein Wesen, „Abbild Gottes“, mit einer Würde und Bestimmung, die weit über das hinaus reicht, was die Welt geben oder absprechen kann.

Darum konstituiert sich dieses „Ich“ vor Gott, vor einem absoluten Bezugspunkt. Darum darf es sich nicht mit Schein begnügen. Darum ist es hier so verächtlich, wenn das Volk einen Heuchler riecht. Bei jedem andern ist es egal, ob er daran glaubt, was er verkauft, aber bei einem Geistlichen nicht. Dass der „billige Jakob“ Sprüche macht, um seine Schuhwichse zu verkaufen, das ist man gewohnt. Man lacht darüber, das gehört zum Spiel. Ebenso ist es auch mit der Werbung, die den billigen Jakob ins Medienzeitalter hinein verlängert. Die zwinkert selber mit den Augen. Und jeder weiss, dass es dick aufgetragen ist.

Wo Wahrheit unverzichtbar ist
Eine Grenze wird aber erreicht, wo Nahrungsmittel wie Medikamente daherkommen und den Sinn vor gesund und ungesund verwirren. Eine Grenze ist ganz gewiss überschritten, wenn der Gläubige nicht mehr glaubt, nach aussen aber trotzdem noch den Glauben vertreten will. Hier wird nicht nur Gott verraten, sondern auch das Ich. Ohne solche Verankerung entsteht eine neue Sorte Menschen. Es ist ein „Ich“ ohne absoluten Bezug – ein Produkt der Gesellschaft, verfügbar, vermarktbar, verschleissbar, entsorgbar.

 

Aus Notizen 2013
Das Gedicht stammt aus Walter Scott, Ivanhoe, dtv 2009, S. 472
Bild Codex Manesse Johann von Brabant