Ibn Tufail

Unsere Tochter, die Nahoststudien betreibt, hat mir ein Buch von Ibn Tufail geschenkt, dem islamischen Theologen aus dem 12. Jahrhundert. Wie die christlichen Theologen stand er vor der Frage, wie die neu bekannt gewordene aristotelische Philosophie mit der Glaubenslehre in Übereinstimmung gebracht werden kann.

Er verteidigte die Philosophie gegenüber den Angriffen der Glaubens- und Rechts-Gelehrten. Die philosophische Erkenntnis stimme mit den „richtig verstandenen“ Inhalten der Offenbarungsreligion überein, besser sogar als „die bloss symbolhafte Religion der breiten Massen“.

Epochen der Geistesgeschichte
Das war auch das Ziel der christlichen Theologen jener Zeit. Und seither sind die Versuche, nicht abgerissen, den Glauben an Gott mit der Kultur und ihren Wahrheitsbegriffen zu versöhnen. Das begleitet die Geistesgeschichte in ihren immer neuen Anläufen, die Wirklichkeit zu verstehen. Immer wieder kam eine neue Sicht auf. Bei den grossen Umbrüchen setzte man eine «Epoche» und sprach von «Mittelalter» «Renaissance», «Neuzeit», etc. Aber immer schneller veränderte sich der kulturelle Rahmen. Immer schneller drehte sich das Karussell der Vermittlungs-Versuche.

Wer sich mit protestantischer Theologie im 19. Jahrhundert beschäftigt, bewundert die Vielzahl von Entwürfen. Sie folgen den verschiedenen philosophischen Systemen auf dem Fuss. Es war eine ungeheuer produktive Zeit. Aber das eine System frass das andere auf. Die Druckerschwärze war kaum eingetrocknet, schon kam der nächste Entwurf.

Das Karussell der «turns» und «Wenden»
Auch unsere Zeit ist schwer auf den Begriff zu bringen, immer schneller drehen sich die Versuche, das Wesen dieser Zeit zu erfassen. Nachdem die Philosophie eine «sprachphilosophische Wende» durchgemacht hat, häufen sich die Entwürfe. Immer neue «turns» und «Wenden» werden nach dem Vorbild dieses «linguistic turn» ausgerufen. Die NZZ berichtet heute (17. Oktober 2019) von der «relationalen Wende» in der Psychologie und gestern vom «ontological turn» in der Ethnologie. Nach dieser Wende wird auch Magie wieder salonfähig, es entspricht ja dem «Wirklichkeitsdenken» afrikanischer Kulturen. Und wir können uns davon nicht distanzieren, da es keine Wahrheits-Konzepte mehr gibt, die kulturelle Schranken überwinden könnten. Im kulturellen Relativismus dieser Zeit würde das als neokoloniale Anmassung empfunden.

Relativismus
Wer meint, auf diesen Zug aufspringen zu können, der muss auch all die andern turns berücksichtigen. Nach dem „cultural turn“ folgten der „practice turn“, der „performativ turn“, der „pictorial turn“, der „geographical turn“ der „emotional turn“. Weitere Wenden sind der „somatic“ oder corporeal turn“, der interpretive turn, der performative turn, der reflexive (rhetorical, literary) turn, der postcolonial turn, der translational turn, der spatial turn, der graphic turn und der iconic turn oder pictorial turn.

Schon lange beklagen sich die Fachvertreter über die Inflation von Neuansätzen und sehen sich doch gezwungen, in dem Wettrennen mitzumachen. Es wundert nicht, wenn die systematische Theologie heute keine Breitenwirkung mehr entfaltet. Wenn die Relativität aller Hinsichten ideologisch festgemacht ist, gibt es keinen Boden für eine Verständigung über den Zufall der Identität hinaus, in die man hineingeboren wurde.

(Eine kritische Würdigung findet sich in Doris Bachmann-Medick: Turns und Re-Turns in den Kulturwissenschaften, in Michael Gubo et al: Kritische Perspektiven: „Turns“, Trends und Theorien, S. 128 – 143).

Der «Geschmack» des Glaubens
Ibn Tufail, der islamische Gelehrte des 12. Jahrhunderts, verteidigte die philosophische Erkenntnis gegen die Angriffe der Glaubenshüter. Gleichzeitig verteidigte er den Glauben gegen seine Aufhebung in Philosophie. Er nahm die Mystik auf, „indem das Schmecken (dauq), die unmittelbar intuitive Erfahrung als Erkenntnisquelle etabliert und dem theoretischen Erfassen (idrak nazari) gleichgestellt, ja übergeordnet wird. Beide Wege bzw. Methoden (tariq), die Philosophie wie die Sufik, werden dabei miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig.“ Das sei der „mystic turn“ von Ibn Tufail, schreibt der Herausgeber des Buches von Ibn Tufail.

Vielleicht brauchen wir heute auch im Christentum einen solchen «mystic turn»: eine neue Wertschätzung für einen Glaubenszugang über Intuition und Glaubensübung. Denn diese sind der rekonstruierenden Erkenntnis nicht nachgeordnet, darin lebt der Glaube.

Die Quelle
Ibn Tufail verwandelt die religiöse Erfahrung nicht in Aussage-Sätze einer Theologie oder Philosophie, oder nicht nur. Er behält den Kontakt zur Erfahrung, die das Wesentliche ist, die Quelle, das Leben, der Inbegriff, wo ein Mensch zum Ziel findet und jeden Tag Freude und Zuversicht erleben kann.

Hier ist der Ort, wo er hingehen kann, die Türe, durch die er schreiten kann, der Garten, der sich öffnet. Hier ist der Augenblick, wo er sich vor Gott hinstellen kann und sich in Gott alles gegenüberstellen. Hier ist das Gebet, wo er alles vor Gott hinbringen kann, Orientierung finden, so dass er nachher im Alltag auf alles zugehen kann. Hier ist die Begegnung, die Mitte, das Vertrauen, so dass er alles übergeben kann und auch sich selbst, worauf er alles zurückerhält – sich selbst und die Situation und die Welt – aber anders gedeutet, er sieht, wie es weitergeht, er ist voll Mut und Zuversicht.

 

Das erwähnte Buch ist: Abu Bakr Ibn Tufail, der Philosoph als Autodidakt. Ein philosophischer Inselroman, Hamburg 2009

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