Tag Archive for: Kirche

Manche Nationen haben ein sachliches Verhältnis zu ihrem Siedlungsort, zu ihrer Staatlichkeit, zu ihrem Territorium. An anderen Orten ist die Geschichte mit so viel Auf und Ab, Erfolg und Leid, verbunden, dass die Verbindung schicksalshaft erscheint. Oft wird das Verhältnis religiös gesehen, das Land erscheint als Gottesgabe, das Volk als Verheissungsträger. Das Christentum, im Römischen Reich gross geworden, spricht von einem universalen Reich Gottes. In solchen Begriffen verbinden sich religiöse und weltliche Gehalte. Das gilt es zu verstehen.

Was ist Israel, was ist die Kirche?
Im Theologiestudium begegnet mir immer wieder die Rede vom Gottesvolk, vom Reich Gottes und vom Gelobten Land. In der «Kirchengeschichte» und in der «Geschichte Israels» wird erzählt, wie es diesen Grössen in dieser Welt ergeht. Dabei taucht eine Schwierigkeit auf: Kirche, Volk Gottes, Israel sind in der biblischen Verwendung Ganzheitsaussagen. Sie lassen sich nicht einfach in Begriffen der empirischen Welt abbilden. Sonst landet das Gespräch in Sackgassen.

Sackgassen der Diskussion
In der Bibel ist „Israel“ ein theologischer Begriff. Eine historische Engführung in der „Geschichte Israels“ muss in dieselbe Sackgasse führen wie die „Leben-Jesu-Forschung“ in der Theologie-Geschichte. Viele Autoren plagen sich mit der Vor- und Frühgeschichte Israels: „Wo beginnt jene Grösse, die als „Israel“ anzusprechen ist?“ Es beginnt mit dem Glaubens-Verhältnis, es beginnt mit dem Verhältnis von Gott und seinem Volk, mit dem Akt des Bekenntnisses, es beginnt einmal und immer wieder neu. In der „Geschichte“ ist dafür kein Anfang auszumachen, genauso wenig, wie die Leben-Jesu-Forschung in der Geschichte einen Anfang der Einheit Jesus-Christus ausmachen kann.

Historisch findet man allenfalls Spuren eines historischen Jesus, aber als „Jesus, der Christus“ lebt er nur in Bekenntnis, im „Kerygma“, und also in Bekenntnistexten. Ebenso kann der kerygmatische Charakter des Israel-Verhältnisses nicht historisch unterlaufen werden – ausser in einer Geschichts-Theologie, in welcher „Geschichte“ als direkte Offenbarung Gottes aufgefasst wird. Dort fallen historische und theologische Wahrheit zusammen; der Glaube kann sich „historisch“ seiner selbst vergewissern. Theologie und Geschichte sind aufeinander zugeordnet. Nach dem Bruch dieser Einheit nach dem Zweiten Weltkrieg (das geschah schon früher, wurde aber erst dann breit rezipiert) ist das nicht mehr möglich. Jetzt noch historisch nach einer Vor- oder Frühgeschichte Israels zu fragen (und dabei jene theologische Grösse zu meinen) ist methodisch nicht möglich und erkenntnistheoretisch unsinnig.)

 

Inhaltsverzeichnis

Wer ist „Israel“?. 2

Ethnische Engführung. 2

Positivistische Engführung. 3

Ethische Engführung. 4

Umkehr 4

Zusammenfassung. 5

 

 

Wer ist „Israel“?

In der hebräischen Bibel wird Israel schon in den Vätern präfiguriert. An sie gehen die Verheissungen und über sie an ihre Nachkommen. Über die Volks- und Nachkommens-Verheissung sind die Patriarchen mit den folgenden Geschlechtern verbunden. Genealogie dient als Band, ähnlich wie die apostolische Sukzession im Katholizismus.

Ist das mehr als ein Bild? Die Menschheit und also das empirisch erscheinende Volk Gottes besteht zum grössten Teil aus Toten: denen die vorher gelebt haben und denen die noch folgen. Es ist ein über-empirischer Ganzheitsbegriff, der mit der empirischen Grösse der heute und hier lebenden Menschen nicht abgedeckt werden kann. Also muss der Partner Gottes in der Volk-Gottes-Verheissung auch über-empirisch umschrieben werden, z.B. eben in Form einer Patriarchen-Gestalt: eines Stammvaters eines Volkes, aus dessen «Samen» die kommenden Geschlechter hervorgehen.

Der Rest und das Ganze
(Eindrücklich für diese Frage ist die „Rest“-Vorstellung bei Jesaja. Nach dem Untergang des Nord- und Südreichs bleibt ein Rest, der jetzt das Volk Gottes verkörpert. Erst fällt nur das Nordreich Israel. Juda sagt: Wir sind übriggeblieben! Also waren wir fast wie Sodom. Es gab noch einen Rest von Gerechten, daher gibt es einen Rest von Geretteten. Dann fällt auch Südreich. Ergo: Wir sind ganz wie Sodom, es gab keinen Rest von Gerechten und Geretteten. Die Restvorstellung wandelt sich: Soll es denn wirklich sein, dass Gott die Menschheit ganz aufgegeben hätte? Das hat er ja auch nach der Sintflut nicht getan, er hat einen Rest bewahrt, aus dem wie aus einer Arche ein neues Volk Gottes hervorging.

Es entsteht also ein Rest-Bild im Sinn einer Arché, eines „principiums“, eines keimhaften Restes.  Bei Jesaia in Naturbildern: der Baumstumpf – obwohl der Baum ganz abgeschnitten ist, kann wie durch ein Wunder aus dem Stumpf ein neuer Sprössling emporwachsen. Oder das Bild des Samens. Der Wald ist abgebrannt, aber aus den in der Erde ruhenden Samen sprosst neuer Wald. Oder das Bild des Kindes. Es ist im Mutterschoss noch verborgen, aber aus ihm sprosst ein neues Volk. Das verbindet sich mit der Hoffnung, dass Israel, als Volk Gottes, unter einem neuen Davididen neu erstehen wird. Das Kind aus dem Geschlecht Davids ist schon da. Das «Ganze» des neuen Gottesvolkes entsteht wie das Wachsen eines Kindes: der Friedefürst und sein Volk.

Das zweite Testament formuliert aus diesen Motiven eine Kindheits-Geschichte Jesu: er ist der keimhafte Rest, aus dem das Ganze kommt, er ist der kindliche Davidide, aus dem das Gottesreich neu ersteht.)

Ethnische Engführung

Aufgrund der Väter-Geschichten kann man das Volk Israel also genealogisch umschreiben. Gegen eine ethnisch definierte Engführung eines solchen genealogischen Verständnisses, wie es in der Diaspora, fast notwendig, entstehen muss, hilft eine Besinnung auf den überempirischen Charakter des Gottes-Volkes, was die genealogische Redeweise als Gleichnis erkennen lässt.

Aber auch bei den Vätern ist Genealogie ohnehin nicht das einzige Band. Schon dort wird Zugehörigkeit durch einen Bekenntnis-Akt gestiftet, die Beschneidung.  Denn Zugehörigkeit erfolgt nicht qua physischer Beschaffenheit, sie erfordert eine Antwort des Menschen, sie wächst ihm nicht zu wie die nationale Zugehörigkeit. Auch das Volk Gotts ist eben eine überempirische Grösse, die nicht ein-eindeutig in empirische Grössen abgebildet werden kann. Deshalb deckt sich der Kreis der Beschnittenen schon bei den Vätern nicht mit dem Kreis der genealogisch zu den Patriarchen Gehörigen: Abraham beschneidet auch die Fremden, die bei ihm sind, die genealogisch nicht Zugehörigen.

Positivistische Engführung

Nach der Reichsgründung gibt es nun eine empirische Grösse, die sich „Israel“ nennt, das Nordreich. (Die Autoren, die sich aufmachen, eine „Geschichte Israels“ zu schreiben, atmen auf: endlich ein fester Anhaltspunkt. Wenn schon Vor- und Frühgeschichte zweifelhaft sind, hier kann die Darstellung endlich auf festem Boden einsetzen. Denkste! Das ist eine positivistische Engführung, welche empirische und überempirische Grössen identifiziert.)

Insofern wir alle in empirischen Verhältnisse leben, sind wir alle auf den Versuch verwiesen, das Reich Gottes schon hier zum Ausdruck zu bringen. Wenn also eine Reichsgründung, eine Staatenbildung gelingt (wie im modernen Israel), muss das nicht zur Versuchung werden, beide Ebenen zu vermischen?  So kann bei positivistischer Engführung eine nationale Definition der Grösse Israel (als Verheissungsträger) entstehen (so wie man halt zur „Kirche“ gehört, wenn man in sie hineingeboren ist).  Das muss ins Abseits führen.

Prophetische Kritik
Ohnehin, jede historische Verwirklichung überhistorischer Grössen steht bleibend in der Differenz: Das im Modus der Verheissung Gegebene und im Glauben Angeeignete ist immer kultur-schöpferisch, es tendiert dazu, empirischen Ausdruck zu finden. Aber es ist immer auch kultur-kritisch; es geht über jeden Versuch hinaus, der immer nur vorläufig sein kann.

Die Differenz zwischen den empirischen und intelligiblen Gehalten im Gottesvolk-Begriff ruft die prophetische Kritik hervor: das Reich Gottes ist nicht „da“, es ist verborgen. Das Recht ist nicht am Verhalten der Menschen einfach ablesbar. Wenn wir vom Gesetz wissen, dann kontrafaktisch, weil das Gewissen uns daran mahnt, weil die Gebote es uns vor Augen stellen. Gott ist allenfalls im Gebot „da“, aber noch nicht in seiner Reichsherrschaft. Das Recht wird aber «offenbar» im Gericht. Im Urteil und in der Rechtfertigung wird offenbar, wer und was recht bzw. unrecht ist.

Eine genealogische oder nationale Definition wird hier aufgesprengt: zum Volk Gottes gehört nicht einfach, wer zur Nachkommenschaft der Patriarchen gehört oder wer zur nationalen Grösse Israel gehört. (Wo ist sie denn geblieben, diese nationale Grösse? Von den Assyrern zerstört. – Sollten die Assyrer stärker sein als Gott, sollte Gott kein Volk mehr haben, nur weil es den Assyrern so gefällt? Das sei ferne! Hier offenbart sich Gott, im Gericht, das sich der Assyrer als Mittel bedient. Damit wird aber auch das Volk Gottes neu definiert).

Die Propheten sprechen von einem “Buch“, in das die Zugehörigen des Gottes-Volkes eingetragen werden. Das Buch ist noch verborgen, nur Gott kennt es, aber im Gericht wird es für alle offenbar. (Die Zugehörigkeit wird „am Ende“ offenbar. Die Eschatologie wird beigezogen um das Ineinander von Ganzheit und sinnlicher Wirklichkeit in der Geschichte zu umschreiben.)

Ethische Engführung

Wird das Volk Gottes hier zu einer ethischen Grösse? Nützt es gar nichts mehr, über die Genealogie an den Verheissungen teilzuhaben? Dass die Ganzheit als „Volk Gottes“ nicht über eine ethische Verhaltenszumutung an die Menschen verwirklicht werden kann, wussten auch die Propheten. Sie haben es bitter erfahren. Denn das Volk antwortet nicht auf den Umkehrruf, es ist verstockt (und als die Katastrophen immer weitergehen, heisst es: Gott selbst hat sie verstockt, bis das Gericht zu Ende ist. Dann ist die Schuld abgebüsst. Dann kommt ein neuer Anfang: Dann gilt wieder die Verheissung: Wer die «Richtigkeit» einhält, wird Erfolg haben, wer dagegen verstösst, wird untergehen. Diese Konzeption gerät aber in die Krise, bis zur Schuldvertiefung, bis zur Erkenntnis: der Mensch kann das Gesetz gar nicht halten. Er kann aus eigener Kraft Sein und Sollen nicht versöhnen. Wenn diese nicht schon in Gott zusammenstimmen, gibt es kein Heil und keine Ganzheit.

Aus der Klage gegen den Schöpfer geht Gott in der Theodizee als Sieger hervor.  Gott hat die Welt gut geschaffen, aber der Mensch ist aus eigener Schuld in diese Unfähigkeit gefallen. Die Güte Gottes als Schöpfer und Erhalter zeigt sich jetzt aber in seiner Neuen Schöpfung, in seinem Erlösungswerk, in welchen Motiven und Traditionen das auch immer ausgesagt wird: er schafft einen «neuen Menschen», der sich nicht in dem unvereinbaren Dualismus von Gebot und Herz zerreibt, sondern dem das Gesetz direkt ins Herz geschrieben ist. Er führt uns «aus der Sklaverei» und erlöst uns wie seinerzeit in Ägypten. Er wird aus dem «Rest», der der Ausrottung entgangen ist, ein «neues Volk Gottes» erstehen lassen. Er sendet einen «Herrscher aus dem Geschlecht Davids» …)

Das Tun des Nichttuns
So wie die Propheten alte, vorläufige Gottes-Volk-Vorstellungen, die in eine Krise geraten waren, aufheben und neue formulieren, so wird in ihrer Tradition die weitere Erfahrung im Sinn einer Schuldvertiefung fortgeschrieben. Dieser läuft aber eine Fortschreibung der Verheissungen parallel. Die von Gott seinem Volk zugesagte Ganzheit überwindet auch diese historisch neu erfahrenen Brüche und Schuldmöglichkeiten des Menschen. Das Reich Gottes kann nicht durch Gebots-Frömmigkeit errichtet werden. Es ist ein gnadenhaftes Geschenk Gottes, wobei die Freiheit des Menschen aber nicht einfach aufgehoben wird. Diese „Dialektik“ oder das Spannungsverhältnis von Gottes-Gabe und Gottes-Forderung, von Glaube und Verantwortung, von Religion und Ethik, wird im Dekalog mit seinen beiden Tafelhälften ausgesagt, vor allem im Sabbat-Gebot, das in jener Zeit ins Zentrum rückt.

Es gebietet ein Nicht-Tun. Das Tun des Menschen, das zur Gerechtigkeit führt, ist das Gedenken, dass das Heil von Gott kommt. Erst so wird er frei aus der Lähmung der blossen Ethik, die aus innerer Notwendigkeit hypertroph werden muss (der Mensch ist nun mal nicht das Subjekt der Geschichte, das seine Existenzgrundlagen selber in Händen hält. Er findet sich vor, hat sich nicht selbst geschaffen…).

Umkehr

So gewinnt der Umkehrruf einen neuen Gehalt. Er ist nicht nur ethische Umkehr, sondern, wie es der Name sagt: Umkehr zu Gott, in dem Sein und Sollen bereits zusammenstimmen, ohne dass das dem Menschen aber als quasi ontologischer Besitz einfach zukommt. Umkehr ist weder ein ethischer Akt allein, eine Tatvermittlung von Sein und Sollen durch den Menschen, noch ein symbolischer Akt allein: die Ganzheitsrepräsentation, das im Glauben erfahrene Zusammenstimmen von Sein und Sollen bereits in dieser empirischen Welt, wo beides real noch auseinanderklafft.

Umkehr ist ein Begriff auf der Scheide zwischen Ethik und Religion, von Verantworten und Glauben. Im zweiten Testament heisst es «Metanoia»: Es ist ein metanoetischer Akt, wo immer der Übergang von intelligiblem Glauben in empirisches Tun gegeben ist (Ethik), wo es sich aber darin nicht erschöpft, denn aus der Enge der empirischen Grenzen ist umgekehrt immer der Übergang zur Ganzheit möglich.

Das Ganze in einem Augenblick
So kann Jesus am Kreuz dem Verbrecher neben sich noch in dessen letztem Lebens-Augenblick das Heil zusagen. «Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein.» Hier hat das Ganze in einem Augenblick Platz, sei es als glaubend erfahrene Heilsrepräsentation, sei es Befreiung aus der Lähmung blosser Ethik zur Tatwerdung.

Zusammenfassung

Auch wenn der heutige nicht-jüdische Synagogen-Besucher den Eindruck hat, dass der Begriff «Volk Israel» hier mit einer ethisch definierten Grösse gleichgesetzt wird (was aus der historischen Situation erklärbar ist), die hebräische Bibel hat viel umfassendere Antworten darauf parat. Es geht um dieselben Fragen, wie sie sich die christliche Kirche seit je stellen musste und auch heute stellen muss. Es geht um Heilszugehörigkeit, um das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch, um die Ganzheit.

„Volk Gottes“, „Kirche“ und „Israel“ stehen im Spannungsfeld sich wechselseitig bedingender Grössen: Weder können sie als empirisch auffindbare Grössen in ihrem vollen Bedeutungs-Gehalt ausgesagt werden, noch leben sie allein in bloss intelligiblen Gehalten. Wie der Begriff der „Menschheit“ selbst gehören sie beiden Bereichen an, in wechselseitiger Beziehung. Sie müssen empirisch konkret und zeitlich werden, gehen in der „Verwirklichung“ aber nicht auf (sie ver-wirken sich nicht). Insofern stiften sie empirische «Wirklichkeit“ und stehen dieser in all ihren Ausprägungen auch kritisch gegenüber.

Wenn sie nicht einfach empirisch feststellbar und umgrenzbar sind, so gelingt es doch auch nicht, sie nur ethisch zu definieren: „wer das und das tut, der gehört dazu!“, weil die Grenzen des Menschen das verhindern. Er ist nicht das Subjekt der letztendlichen Versöhnung von Sein und Sollen. Und doch, wenn es eine solche Versöhnung nicht gäbe, höbe sich Ethik in Absurdität auf und Leben wäre vollends unmöglich. Das Zusammenstimmen von Sein und Sollen in einer Ganzheit kann deshalb auch symbolisch in den Bedingungen der empirisch begrenzten Lebenswelt repräsentiert werden. Es wird im Glauben ergriffen, so dass sich der Lebensvollzug vertrauensvoll darauf verlassen kann, Verantwortung wird wieder möglich. Neben dem Spannungsfeld empirisch-intelligibler Gehalte steht das Gottes-Volk also auch im Spannungsfeld von Glauben und Verantworten, Ethik und Religion.

Umkehr als vermittelnde Grösse
Die Einheit all dieser Spannungen liegt nun in einem Begriff, der selber die Polarität in sich aufnimmt. Weder gehört er nur der empirischen, noch nur der intelligiblen Sphäre an. Weder ist er nur ein Glaubensbegriff noch nur ein religiöser Begriff: Umkehr, Metanoia. Zum Volk Gottes, zur Kirche, zu Israel gehört, wer umkehrt. Umkehr ist das, was die biblischen Autoren selbst in der letzten Stufe der Schuldvertiefung dem Menschen noch zumuten. Selbst wenn all seine Fähigkeiten für korrumpiert gehalten werden, umkehren kann er immer noch, und sei es im letzten Augenblick des Verbrechers am Kreuz.

Mögliche Autonomie
Es ist aber nicht einfach ein Symbolbegriff, der Freiheit und Verantwortung aufhöbe, weil alles vom Glauben erwartet wird. Er stiftet Freiheit, nicht im Sinn einer absoluten ethischen Autonomie. Aber im Sinn einer ethischen Autonomie, wie sie dem Menschen möglich ist:  Als Befreiung zur Tatversöhnung zwischen Sein und Sollen unter der Voraussetzung, dass sich beides überhaupt versöhnen lässt. Die Vertrauenshaltung des Glaubens sagt das als Geschenk Gottes aus. Die Welt ist kein Chaos, sondern da ist ein Gott, ein lebendiger Gott.

Die Einheit der Lebenswelt beschränkt sich nicht auf den physikalischen Bereich, wo sie in Form einer „universellen Weltformel“ ausgesagt wird (die gesuchte Vereinigung aller bekannten Energieformen, nachdem durch Einstein schon die Bereiche Energie und Materie auf die Formel «E= m x c 2» zurückgeführt werden konnten), auch die notwendigen Lebensintuitionen von Vertrauen und Verantwortung sind dort aufgehoben. Leben ist möglich; und alles, was Leben ermöglicht, wird vertrauensvoll in Gott gesetzt.

 

Aus Notizen 1988
Foto von pw

Wo steht die Kirche? Kirche als religiöse Instanz scheint heute kaum noch vorhanden, in einer anderen Form begegnet sie an allen Enden. Die Hoffnungen sind aus der Religion ausgewandert, die Versprechungen erfolgen nicht mehr im Namen eines Gottes, die Sehnsucht bindet sich an Gehalte dieser Welt, die aber doch mit religiöser Kraft aufgeladen werden. Das kann als Fortschritts-Versprechen erfolgen, wenn das Handeln in dieser Welt optimistisch eingeschätzt wird. Weiterlesen

Der Gedanke der «Erbsünde» – heute hat man schon vor dem Wort einen Horror -half damals, den Konflikt zu überwinden zwischen dem Glauben an einen guten Gott, der lebensnotwendig war, und der gegenteiligen Erfahrung eines Lebens, das einen mit Leid und Unrecht konfrontierte. Und es lag nicht am guten Willen, die Menschen hatten das Gefühl, in etwas verstrickt zu sein, was sie lähmte und Dinge tun liess, die sie nicht wollten. So erlebten sie sich selbst dabei, wie sie beim besten Willen das Falsche taten, was das Leben belastete und verstörte.

Es war, als ob man auf eine abschüssige Bahn geraten war, bei aller Anstrengung, den geraden Weg zu gehen. Es rutschte alles ab und es gewann an Fahrt. So antiquiert sich das alles anhört, ein Zeitgenosse kann das wohl nachvollziehen, wenn er an die Klimazerstörung denkt, an das Artensterben. Da ist etwas ins Rutschen geraten. Und von morgens bis abends, als Angehöriger der «westlichen Welt», erlebt man sich als Profiteur einer Weltwirtschaftsordnung, die zulasten von anderen Menschen und Kontinenten geht, und man kann nicht aussteigen. Weiterlesen

Der Kirche brechen die Mitglieder weg. An vielen Orten ist nur noch ein Drittel der Bevölkerung reformiert. Altgewohnte Arbeitsformen werden hier schwer. Es gibt zu wenig reformierte Familien am Ort für einen Familien-Gottesdienst. Am einfachsten geht es noch in der Schule. Da sind alle vereint. Weiterlesen

Heute hatte ich Lust, wieder mal die «Bekenntnisse» von Augustinus hervorzuholen und darin zu lesen. „Was soll all dies Reden, Gott? Kann denn ein Mensch Worte finden, die Deiner würdig wären? Aber wehe denen, die von Dir schweigen.“ Es ist paradox: Von Gott reden ist nicht möglich. Es erreicht ihn nicht. Von ihm schweigen ist aber auch nicht möglich. Auch das heisst, sein Leben zu verfehlen, wenn man es für sich halten wollte! Weiterlesen

Ab und zu steige ich ins vierte Untergeschoss hinab. Hier im «Bauch von Zürich» lagern die theologischen Zeitschriften aus aller Herren Länder. Was mir hier auffällt, wo alle Religionen vorhanden sind: wie weit es mir wird bei den katholischen Zeitschriften und wie eng bei den reformierten. Weiterlesen

Die Geschichte vom Menschen, der von einem Wal verschluckt wurde und bis zum Grund des Meeres reiste, ist fiktiv. Es sind aber reale Erfahrungen, die hier zu einem Mythos verdichtet werden. Auch wer heute von der Erzählung gepackt wird, fühlt sich erinnert an eigene Erlebnisse von Überwältigt-Werden, von Dunkelheit und von Suchwegen im Ungewissen. Das Folgende ist ein Auszug aus meinem Büchlein «Im Innern des Wals. Was Jona sah und erlebte als er zum Grund des Meeres reiste, edition winterwork 2021. Das Büchlein folgt verschiedenen Erlebnissen «Im Bauch des Wals», das Nachwort, aus dem hier zitiert wird, versucht, es zu verstehen.

Peter Winiger

 

Falsches Aha!

Immer wieder erlebe ich als Erwachsener, wie ich etwas tue, was ich nicht will. Und was ich will, das tue ich nicht. Der Widerstand, der kommt nicht erst am Schluss dazu, der mischt schon von an Anfang mit. Schon die Wahrnehmung ist geprägt. Sie zeigt mir die Wirklichkeit nach dem Muster frühkindlicher Erfahrungen. Und die Antwort darauf ist schon beigemischt. So hatte ich als Erwachsener seltsame Aha-Erlebnisse: Wenn etwas ganz aussichtlos erschien, dachte ich, ich sei endlich am Boden der Wirklichkeit angelangt.

 

Ist es das, was wir erwartet haben, oder kommt noch etwas Grösseres?

Erdbeben, Tsunami, Kernschmelze, Super-GAU – eine Katastrophe zieht die andere nach sich. Ist das das grosse Dunkle, das wir vor uns sahen und vor dem wir uns immer gefürchtet haben oder kommt noch etwas Grösseres?

Das traumatische Erleben ist nicht nur «schräg», nicht nur eine private Spinnerei – es ist von Erfahrungen geprägt, auch wenn die Reaktionsweisen, die es bei den Menschen auslöst, oft dysfunktional sind. In grösserer Sicht ist die Falsch-Nehmung eben doch eine Wahr-Nehmung – es gab das Ereignis wirklich, das das Wahrnehmen verbog und das ganze Leben auf eine falsche Bahn brachte.

Da wurde das Vertrauen verletzt. So muss das in allen Situationen zum Vorschein kommen, die Vertrauen verlangen: in den Beziehungen, die ein Mensch eingeht, in den Begegnungen am Arbeitsplatz. Es entsteht ein Mensch, der nicht vertrauen, d.h. glauben kann, denn Glauben ist Vertrauen. So zeigt es sich hier am reinsten, ob ein Mensch vertrauen kann: im Glauben, ob er dieses Risiko eingehen kann.

 

Die Wende zu Gott in der Lebensmitte

Die Frage der Religion muss auftauchen, wo vom Leben und vom Tod die Rede ist. Sie hängt nicht am Kinderglauben, die Frage kann sich immer wieder neu stellen. Insofern haben jene Kirchen nicht alles verspielt, die die Tradition abbrechen liessen. Und die Verächter, die die Gläubigen für ihre Kindlichkeit verlachen, sind nur nie verzweifelt genug gewesen in ihrem Leben.

Hiob ist kein Kinderbuch. Er rechtet mit Gott. Er braucht Gott, um ein Gegenüber zu haben, wo er seine Verzweiflung hintragen kann – und seine Intuition, dass es doch gerecht zugehen müsste im Leben und Zusammenleben.

 

Grossmutter

Ein «Trauma» ist selten das Leiden eines einzelnen. So wie die Erfahrung von vielen geteilt wird, wenn die historischen Umstände betrachtet werden, so geht sie in die Tiefe der Zeit: Ein Trauma kann über die Generationen weitergegeben werden.

Der traumatisch Verletzte scheint wie unter einem Bann zu stehen, sein Verhalten läuft wie in einer Kreisbahn, so dass immer wieder dieselben Konstellationen auftauchen. Diese Bannkraft wirkt auch über die Generationenfolge, so dass immer wieder ähnliche Schicksale auftauchen.

So entstehen die grossen seelsorgerlichen Fragen, die Familienfragen, wo getrunken wird, wo Gewalt ausgeübt wird – oder wo Menschen «ins Wasser gehen». Und es kann wie ein «Auftrag der Ahnen» empfunden werden, endlich mal die Frage zu stellen: ob diese Welt verlässlich ist oder nur ein schwarzes Loch. Das ist die Frage nach Gott.

 

Glaube entsteht im Gehen

Vertrauen ist kein kognitiver Akt, es kommt nicht einfach durch ein «Aha» zustande. Vertrauen, vor allem wenn in diesem Vertrauen ein Weg eingeschlagen wird, wenn eine Handlung erfolgt, die durch nichts als Vertrauen gerechtfertigt wird, ist ein existenzielles Risiko. Denn oft stehen dieser Entscheidung viele Gründe und Motive entgegen, es ist nicht lebensklug, hier zu vertrauen, die Klugheit würde Sicherheit verlangen. Und es mobilisiert schlicht Angst, wenn die bekannten und verlässlichen Geländer losgelassen werden und ein Weg ins Ungewisse eingeschlagen wird. Es gibt aber Akte im Leben von dieser Art, die weder ökonomisch versichert noch sozial abgestützt werden können. Wo der einzelne allein steht und «jetzt», in diesem Moment eine Entscheidung fällen muss.

Da ist «Gott» keine theoretische Frage, es ist die Vertrauensfrage schlechthin. Und auch das psychologische Wissen, wie Vertrauen entsteht, wie es verletzt oder geheilt wird, hilft nicht weiter. Denn hier ist der Betroffene nicht Beobachter im eigenen Leben. Die Zeit der «Es-gibt- und es-hat-Sätze» ist vorbei. («Es gibt Gott» oder «Es gibt keinen Gott». Auch der Atheismus hilft nicht weiter.) Der Schritt ist jetzt fällig und er muss ihn gehen. Das unterscheidet ein gelebtes Leben von einer Theorie über das Leben oder von einer Erzählung über das Leben, die immer von einem anderen Standpunkt aus erfolgen, vorher, nachher oder darüber, aber nie vom Ort der Entscheidung aus. Und der gleicht dem Ort des Seiltänzers oben auf dem Seil, das nur ein Vorwärts kennt.

Was wir jetzt tun, verrät etwas über uns. Wie wir uns auf dem Weg verhalten, darin zeigen wir, wer wir sind. Mit jedem Schritt vertrauen wir uns Gott an, so machen wir mit jedem Schritt Erfahrungen mit ihm. So geschieht auf dem Weg eine doppelte Auslegung: wer wir sind und wer er ist.

Der Weg ist ein Risiko, und er sucht das Risiko. Der Glaubensweg scheint davon angezogen. Wir wollen nicht nur ein bisschen Vertrauen im Leben, wir wollen das ganze Leben vom Vertrauen her gestalten und erfahren. Es ergibt sich damit fast zwangsläufig, dass wir in alle möglichen Ängste hineingehen, dass der Glaubensweg da hineinführen muss. Denn dort, wo es früher hiess «ich fürchte mich» soll es in Zukunft heissen «ich vertraue». Ich gehe vorwärts, auf die Menschen zu, die mich erwarten, auf die Aufgabe, die vor mir steht.

 

Wie weiss ich denn, dass mir das Leben gelingen wird?

Wenn ich wüsste, dass mein Leben gelingt, wie ganz anders könnte ich es leben! Ohne Angst und in Freude. Und die Probleme, die alles in Frage stellen, wären keine Probleme mehr, es wären Aufgaben auf dem Weg. Schade, weiss ich es immer nur hinterher, ob es gelungen ist. Muss ich also bis zum «Jüngsten Gericht» warten, bis ich es weiss? Stehe ich immer in Zweifel? Soll ich es da nicht lieber gleich fahren lassen, da es doch aussichtslos ist?

So fragte schon Thomas a Kempis: „Ich kenne einen Freund; der war von Angst ergriffen und schwebte lange zwischen Furcht und Hoffnung. Eines Tages, da ihn der Kummer halb aufgezehrt hatte, warf er sich, aus dem Herzen betend, in der Kirche vor dem Altar nieder und grübelte bei sich: Oh, wenn ich gewiss wüsste, dass ich im Guten bis ans Ende verharre! Da hörte er die göttliche Antwort in seinem Innersten: „und wenn du das wüsstest, was wolltest du dann tun? Tue jetzt, was du dann tun wolltest, und du wirst sicher zum Ziele kommen.“ Dieses Gotteswort tröstete und stärkte ihn, dass er sich ganz dem Willen seines Herrn hingeben konnte, und alle Angst war dahin.“

Wie weiss ich denn, ob mein Leben gelingt? – Ich weiss es heute schon, wie Wissen davon überhaupt möglich ist: im Glauben. Also kann ich vorwärts gehen, auf die Menschen zu und in die Situation hinein.

(Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi. Stuttgart 1967. S. 52.)

 

Nicht vom Glauben her, auf den Glauben hin

Den Glauben, den man zum Leben braucht, habe ich noch nicht. Das Vertrauen, mit dem es mir gelingt, davon bin ich noch weit entfernt. Ich bin erst auf dem Weg. Aber schon auf dem Weg gibt mir der Glaube etwas, mit dem ich ihn finden und bestehen kann: Wenn ich die Frage, die vor mir auftaucht, auch nicht vom Glauben her beantworten kann, ich kann sie auf den Glauben hin betrachten. Ich kann sie ins Gebet nehmen, sie anschauen im Licht des Evangeliums. So kann ich den Schritt tun.

So öffnet sich zwischen mir und dem Ziel auch kein Abgrund mehr. Ich bin nicht einfach schlecht und ungenügend (die Symptome stehen schon bereit, mit denen man mein Scheitern beschreiben kann). Ja, ich scheitere, und das mit Notwendigkeit. Ich kann das Ziel des Lebens gar nicht aus eigener Kraft erreichen. Die Vollendung erfolgt aus derselben Kraft, die den Anfang geschaffen hat. So kann ich meinen Standort annehmen, muss ihn nicht kleinreden und schlecht machen. So kann ich in mir Platz nehmen. Das Leben beginnt.

So habe ich endlich die Kraft gefunden, mit der ich in alle Angst hineingehen kann. So kann ich alles nochmals ansehen, mich mit allem versöhnen. Das bin ich. Und da ist Gott, mit ihm finde ich den Weg.

 

Wenn es Gott wirklich gäbe?

Wahrheit zeigt sich für mich, wenn ich mich vor Gott stelle. Das klärt die Situation, enthüllt sie, zieht den Schleier weg.

Es hat Folgen für das Erkennen: Es zerreisst die Projizierungen, zeigt auch den Menschen in seiner Vollgestalt, wie er nur im Gegenüber Gottes sichtbar wird, das macht die Liebe leicht; es legt die Impulse frei: auf den Menschen zuzugehen; es zeigt die Wege; es ersetzt die Angst-Projektionen durch Erkenntnis-Bilder der Liebe und setzt so einen Wirkkreis in Gang, der dem Teufelskreis der Angst entgegengesetzt ist.

Und es hat Folgen für das Tun: Ich kann das Richtige auch tun, die Blendwirkung der Angst wird aufgehoben, so dass ich sehen kann, wo vorher nur eine weisse Wand war, und ich kann hineingehen, wo vorher nur etwas Schreckliches war, was mich von sich weggetrieben hat.

 

Gebet

„Gott, ich weiss, dass Du da bist!
Ich höre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Schweigen!
Ich sehe dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Dunkel!
Ich spüre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alle Beweise meiner Hand, die ins Leere tastet.

Ich weiss es einfach, und damit weiss ich was „Wissen“ ist.

„Wissen“ ist einzig und allein diese Gewissheit, mit der ich Dich weiss. Alles andere ist nur Panik, Illusion, falsche Beweise. Mein Stolpern beweist nichts, meine Hände stolpern wie die Beine, die Augen irren wie die Hände…

Lieber Gott, führe mich, hier meine Hand. Ich bitte – ich weiss, du wirst mir geben.
Ich klopfe an – Du machst auf.

Du bist, ich bin.

 

Grösste Not und grösste Freude

Das Schlimmst-Mögliche, so die schreckliche Ahnung, wird vielleicht von der Angst selber herbeigeführt! So wären wir selber die Übeltäter in unserem Leben. Und wir brauchen die Menschen um uns herum nur zur Staffage, um unser eigenes Drama immer und immer wieder aufzuführen.

Jeder wird im Laufe seines Lebens eingeholt vom tiefsten Punkt seiner Verletztheit. Es kann nicht anders sein, die Heilung muss zum tiefsten Punkt gehen. Vertrauen, wenn es ein Leben anleiten will, muss Antwort wissen gerade auf diese Fragen, die am meisten in Verzweiflung stürzen. Glaube ist nicht Glaube, wenn er nicht durchgehalten wird bis in die schmerzhaften inneren Dialoge hinein, die wir dauernd in uns wiederkäuen.

 

In Blaubarts Zimmer

Irgendwann geht der Weg bis ins Innerste. Dort wird auch das Äussere verständlich. Die Rätsel klären sich. Erst im Innersten kehrt die Bewegung um. Wenn ich das Innerste aufgesucht habe, bin ich fähig und bereit, mich nach aussen umzuwenden. Sonst sitzt es mir als Angst im Nacken. Im Innersten aber, wo die Angst am dichtesten scheint, kehrt Ruhe ein. Im Innersten klären sich auch die Rätsel der Familien-Geschichte.

Der Weg des Nachgehens, des Aufsuchens, des Wiederholen-Müssens aber auch des Heilens, geht bis zum Schlimmst-Möglichen, die Bewegung geht bis zum Innersten. Da ist die Schatzkammer – und das Blaubart-Zimmer der Familien-Geschichte. Hier werden Schicksale geprägt und Lebensläufe entschieden. Hier eintreten ist wie eintreten in eine andere Wirklichkeit. Sie ist mit nichts anderem zu vergleichen.

 

Die Zukunft der Kinder

Unsere Kinder werden die Welt nicht mehr so erleben, wie wir das noch durften. Das hat mir lange am meisten zu schaffen gemacht. Es macht mir Angst, in die Zukunft zu gehen und die Kinder auf diesem Weg allein lassen zu müssen. Wer behütet sie?

Auch der Tod hat sein Gesicht verändert. Alles ist unbekannt und unerprobt. Wer könnte hier voran gehen, wer hat das schon erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?

 

Notwendig

Tatsache ist, wir können gar nicht weniger erwarten. Kranke hoffen auf Gesundheit, Ausgestossene, dass sie wieder aufgenommen werden. Wir erwarten, dass am nächsten Morgen die Sonne aufgeht. Es gibt Erwartungen, die sind lebensnotwendig: dass die Welt Bestand hat, dass der Weg der Menschheit sich nicht im Dunkeln verliert, dass es für das eigene Leben ein Ankommen gibt. Die Erwartungen der Menschen sind absolut, sie richten sich aufs Ganze. Wir können gar nicht anders.

 

Hinausgehen

Petrus sitzt im Boot. Er ist mit den anderen Jüngern hinausgefahren. Der See ist stürmisch. Einmal, als die Wellen ins Boot schlagen, fürchtet er um sein Leben. Aber das Boot gibt ihm Schutz, hier fühlt er sich einigermassen sicher.

Aber jetzt sieht er, wie Jesus auf den Wellen wandelt – ungeschützt, ganz ausgesetzt. Mitten im Sturm. Es hat eine ungeheure Leichtigkeit. Es ist nicht Sicherheit, es ist Vertrauen. Er stützt sich auf nichts, was ein Mensch machen kann, auf nichts, was zu dieser Welt gehört.

Es gibt keine Bedingung in der Welt, die zuerst erfüllt sein müsste, damit er so leben kann, wie er sich das vorstellt. Er lebt bedingungslos und frei. Er hat sein Leben auf Gott geworfen, dieser trägt die Welt. Er hat sein Leben ihm anvertraut.

Petrus sieht Jesus auf dem Wasser gehen, und er begreift mit einem Mal, dass er sein Leben falsch verstanden hat. Es geht nicht darum, sicher im Schiff zu sitzen. So verliert er gerade, was er retten will. Es geht darum, das zu verwirklichen, was gemeint ist und was auch ihm zugesagt ist.

Und jetzt will auch Petrus den Schritt wagen.

Er ruft Christus an: „Herr, bist Du es, so heisse mich zu Dir auf das Wasser kommen!“ „Komm!“ sagt Jesus und Petrus steigt aus dem Boot. Und er geht.

Das Wasser trägt.

 

Von nahem gesehen
Die Geschichte hat einen kleinen Nachspann. Als Petrus ausgestiegen ist, sieht er die Wellen von nah. Hier draussen macht der Sturm einen Höllenlärm.
Da fürchtet er sich.

Er fürchtet um sein Leben, um seinen guten Ruf, sein dieses und jenes, wovor wir uns immer fürchten im Leben. Plötzlich wird es ihm nicht mehr geheuer, da draussen.

Er möchte sich absichern, schaut sich nach dem Schiff um, um wieder einzusteigen.
Da beginnt er zu sinken.

Er hat den Schritt getan, er hat erlebt, wie es ist, als freier Christenmensch zu leben. Aber „immer“ gelingt es nicht. Es gibt Rückfälle. Darum endet diese Geschichte mit dem ängstlichen, dem zweifelnden Petrus.

Christus sagt wohl: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ Aber damit verurteilt er ihn nicht, damit will er uns sagen: Ihr dürft noch viel mehr glauben, ihr dürft viel mehr Vertrauen haben, als ihr denkt!

Als Christus sieht, dass Petrus sinkt, geht er ihm entgegen und hilft ihm. „Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus und ergriff ihn.“ (Mt 14, 22 ff)

 

Im Bauch des Wals, der Weg dieses Büchleins

Man kann die Religion aufsuchen bei den Glücksmomenten, die sie begleitet: wenn ein Kind geboren wird, wenn zwei heiraten… In den vorliegenden Texten scheint die Religion etwas Dunkles, jedenfalls verbunden mit Dunklem. Das ist heute nicht verwunderlich, wo Religion fast nur noch in Zusammenhang mit kirchlichen Fehlleistungen thematisiert wird. Und doch ist hier etwas anderes gemeint.

Es geht um Leid, um die grossen Umwälzungen, um Kriege und Krisen, wo Menschen traumatisiert werden. In der Art, wie Traumata erlebt und ausgedrückt werden (angefangen bei der frühkirchlichen Passions-Geschichte von Verfolgung und Kreuzigung) finden sich religiöse Bilder. Sie helfen, der Verletzung Ausdruck zu geben, und sie begleiten auf einem Weg der Heilung.

Glaube wird hier nicht begriffen als System von Sätzen, sondern als Haltung des Vertrauens, das elementar nötig ist, um das Leben als einzelner oder als Gemeinschaft zu führen. Wird das Vertrauen verletzt, hindert das die Integration der Menschen in sich selbst und in die Gemeinschaft. Der Weg zur Heilung muss die Verletzung aufsuchen. So ist der religiöse Weg, wie er hier beschrieben wird, ein Weg ins Dunkle. Ein Bild dafür gibt der Weg von Jona, der sich einschifft, in einen Sturm gerät, über Bord geht und von einem Wal verschluckt wird.

Die Reise des Jona im Bauch des Wals bis zum Grund des Meeres geht durch die Krisen der Historie, durch das Trauma der Menschen, die verletzt werden, und dabei helfen die Bilder der Mythen und des Glaubens. Drama, Trauma und Traum der Religion gehören zusammen. Das wollte ich mit diesem Büchlein zeigen.

Peter Winiger

 

Die Texte stammen aus dem Nachwort zum Büchlein «Im Innern des Wals. Was Jonas sah und erlebte, als er zum Grund des Meeres reiste.» Von Peter Winiger, 2021 edition winterwork, Borsdorf.

Bild: Hortus Deliciarum. Der Prophet Jonas wird vom Fisch bei Ninive ausgespien.

Ich sah gestern im Fernsehen einen Film von 1962 – ich war damals 13 Jahre alt. Ich erinnere mich an diesen und andere solche Filme. Sie standen noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges und handeln von Doppelagenten. Das war damals neu und aufregend: Weiterlesen

Die heissen Tage haben begonnen. In Deutschland ist Starkregen angesagt. Ich will etwas über Wirklichkeit scheiben. Wer ist dazu berufen? Vielleicht der, der den Impuls empfindet, ein Fenster aufzureissen, damit man atmen kann. Die Alternativlosigkeit der geltenden Wirklichkeits-Behauptung erstickt einen. Danke Du da vorn, danke, dass Du das Fenster aufmachst! Weiterlesen

In der Post liegt ein Brief mit Trauerrand. Ich erschrecke. Wer kann das sein? Ich gehe im Kopf die Namen durch. Nach dem Öffnen aufatmen, es ist eine Danksagung, die Beerdigung war vor zwei Wochen. Weiterlesen