Wie kommt die Theologie zu ihren Erkenntnissen? Wie die Kirche zu ihren Glaubens-Entscheidungen? Was antworten Katholiken und Reformierte auf diese Frage? Weiterlesen
Wir sind aus Italien zurück, einen Tag später als geplant wegen des Streiks der Eisenbahner. Ich bin froh, dass wenigstens die Reise geklappt hat und die Kontrolleure uns mit dem alten Billet durchgewinkt haben. Dennoch standen wir zwei Stunden auf der Strecke und wussten nicht, wann es weitergeht. Auf der Fahrt nach Norden wurde das Wetter unfreundlich. Der Wetterdienst warnte vor «extremer Kälte». Wir hörten von einem Busunglück auf einer Strecke, die auch von unseren Kindern befahren wird.
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Spott und Hohn – und deren Kehrseite Scham und Schande – gehören wesentlich zur Passion. Im Alten Testament klagen die Psalmen über den Spott («Versengt wie Gras und verdorrt ist mein Herz. Den ganzen Tag verhöhnten mich meine Feinde.» Ps 102). Die Propheten werden verhöhnt, die Armen, ja das ganze Volk erleidet den Spott der Feinde. Im Neuen Testament wird es zu einer Kreuzwegstation, die in der kirchlichen Musik und Malerei intensiv bedacht wird. So kommt es zu einer Umkehr der Werte. Was Inbegriff der Schande ist, wird gewürdigt. Spott und Hohn werden geradezu geheiligt, weil sie als Leidensweg das Heil hervorbringen. Weiterlesen
Heute Morgen hab ich mir den Text zur Markuspassion angehört. In Erinnerung geblieben ist mir die Frage Jesu: «Simon, schläfst du?» (Mk 14,37). Ich will sie mit mir in den Tag nehmen. Ich fühlte mich ertappt. Die Frage trifft vieles, das mich ausmacht und mein Leben. Christus schwitzt Blut und ich schlafe. Die Menschen leiden bis ins Extrem und ich schlafe. Ich will schlafen. Ich schlafe nicht den Schlaf des Gerechten, ich stopfe mir die Augen und Ohren zu. Ich fühle mich überfordert von dem, was zu tun wäre, wenn ich wach wäre, wen ich hören würde, wenn ich sehen würde, wenn ich empfinden würde. So aber kann ich sagen, ich hätte geschlafen. Ich habe es nicht gewusst. Weiterlesen
Die «Offene Gesellschaft» steht wieder auf Transparenten. Sie wird skandiert in Demonstrationen gegen rechtsradikale Parteien und Bewegungen. Sie bildet den Inbegriff des «Westens» und seiner Werte im Abwehrkampf gegen autokratische Regimes und geopolitische Konkurrenten. Aber was sind seine Werte und wie werden sie verteidigt?
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Ich habe gestern die Baruch-Apokalypse gelesen. Da wird erst deutlich, was die Vorstellung von einem Schatz beinhaltet: Die Geräte des zerstörten Tempels werden in der Erde vergraben. Das ist nicht nur ein Tempelschatz, das sind nicht nur Becher aus Gold und Silber. Sie sind ein Unterpfand, dass es einen neuen Tempel geben wird, eine neue Heilszeit. Diese Apokalypse ist ein Beispiel für eine „Geschichtssschreibung von unten“.
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Dass Krieg und Gewalt zu traumatisierenden Verletzungen führen, ja das ganze Generationen dadurch geprägt werden, tritt heute wieder vermehrt ins Bewusstsein. Das Gedenken an Auschwitz zeigt, dass der Umgang mit historischen Traumata ein Erbe und eine Aufgabe für Generationen darstellt. Manche Verletzungen wurden geschichtsprägend. Sie beeinflussten die Geschichte einer Nation oder wurden sogar als Kern der Staatswerdung erinnert. Zwei der grössten historischen Traumata, die die Weltgeschichte beeinflusst haben, werden in der Bibel erinnert, mit all den Versuchen, damit umzugehen und den heilenden Kern darin freizulegen. Sie stehen im Zentrum des ersten und zweiten Testamentes. Weiterlesen
Wie kann Friede werden untear Menschen, die seit Generationen unter Konflikten leiden?
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Wie lässt sich angesichts der Privatisierung der Religion und des Pluralismus von Entwürfen das «Allgemeinverbindliche“ des Glaubens heute zur Geltung bringen, ohne dadurch wieder in alte Zwangsformen von Amtskirche, Dogmatismus oder Moralismus zurückzufallen? Weiterlesen
Manche Nationen haben ein sachliches Verhältnis zu ihrem Siedlungsort, zu ihrer Staatlichkeit, zu ihrem Territorium. An anderen Orten ist die Geschichte mit so viel Auf und Ab, Erfolg und Leid, verbunden, dass die Verbindung schicksalshaft erscheint. Oft wird das Verhältnis religiös gesehen, das Land erscheint als Gottesgabe, das Volk als Verheissungsträger. Das Christentum, im Römischen Reich gross geworden, spricht von einem universalen Reich Gottes. In solchen Begriffen verbinden sich religiöse und weltliche Gehalte. Das gilt es zu verstehen.
Was ist Israel, was ist die Kirche?
Im Theologiestudium begegnet mir immer wieder die Rede vom Gottesvolk, vom Reich Gottes und vom Gelobten Land. In der «Kirchengeschichte» und in der «Geschichte Israels» wird erzählt, wie es diesen Grössen in dieser Welt ergeht. Dabei taucht eine Schwierigkeit auf: Kirche, Volk Gottes, Israel sind in der biblischen Verwendung Ganzheitsaussagen. Sie lassen sich nicht einfach in Begriffen der empirischen Welt abbilden. Sonst landet das Gespräch in Sackgassen.
Sackgassen der Diskussion
In der Bibel ist „Israel“ ein theologischer Begriff. Eine historische Engführung in der „Geschichte Israels“ muss in dieselbe Sackgasse führen wie die „Leben-Jesu-Forschung“ in der Theologie-Geschichte. Viele Autoren plagen sich mit der Vor- und Frühgeschichte Israels: „Wo beginnt jene Grösse, die als „Israel“ anzusprechen ist?“ Es beginnt mit dem Glaubens-Verhältnis, es beginnt mit dem Verhältnis von Gott und seinem Volk, mit dem Akt des Bekenntnisses, es beginnt einmal und immer wieder neu. In der „Geschichte“ ist dafür kein Anfang auszumachen, genauso wenig, wie die Leben-Jesu-Forschung in der Geschichte einen Anfang der Einheit Jesus-Christus ausmachen kann.
Historisch findet man allenfalls Spuren eines historischen Jesus, aber als „Jesus, der Christus“ lebt er nur in Bekenntnis, im „Kerygma“, und also in Bekenntnistexten. Ebenso kann der kerygmatische Charakter des Israel-Verhältnisses nicht historisch unterlaufen werden – ausser in einer Geschichts-Theologie, in welcher „Geschichte“ als direkte Offenbarung Gottes aufgefasst wird. Dort fallen historische und theologische Wahrheit zusammen; der Glaube kann sich „historisch“ seiner selbst vergewissern. Theologie und Geschichte sind aufeinander zugeordnet. Nach dem Bruch dieser Einheit nach dem Zweiten Weltkrieg (das geschah schon früher, wurde aber erst dann breit rezipiert) ist das nicht mehr möglich. Jetzt noch historisch nach einer Vor- oder Frühgeschichte Israels zu fragen (und dabei jene theologische Grösse zu meinen) ist methodisch nicht möglich und erkenntnistheoretisch unsinnig.)
Inhaltsverzeichnis
Wer ist „Israel“?
In der hebräischen Bibel wird Israel schon in den Vätern präfiguriert. An sie gehen die Verheissungen und über sie an ihre Nachkommen. Über die Volks- und Nachkommens-Verheissung sind die Patriarchen mit den folgenden Geschlechtern verbunden. Genealogie dient als Band, ähnlich wie die apostolische Sukzession im Katholizismus.
Ist das mehr als ein Bild? Die Menschheit und also das empirisch erscheinende Volk Gottes besteht zum grössten Teil aus Toten: denen die vorher gelebt haben und denen die noch folgen. Es ist ein über-empirischer Ganzheitsbegriff, der mit der empirischen Grösse der heute und hier lebenden Menschen nicht abgedeckt werden kann. Also muss der Partner Gottes in der Volk-Gottes-Verheissung auch über-empirisch umschrieben werden, z.B. eben in Form einer Patriarchen-Gestalt: eines Stammvaters eines Volkes, aus dessen «Samen» die kommenden Geschlechter hervorgehen.
Der Rest und das Ganze
(Eindrücklich für diese Frage ist die „Rest“-Vorstellung bei Jesaja. Nach dem Untergang des Nord- und Südreichs bleibt ein Rest, der jetzt das Volk Gottes verkörpert. Erst fällt nur das Nordreich Israel. Juda sagt: Wir sind übriggeblieben! Also waren wir fast wie Sodom. Es gab noch einen Rest von Gerechten, daher gibt es einen Rest von Geretteten. Dann fällt auch Südreich. Ergo: Wir sind ganz wie Sodom, es gab keinen Rest von Gerechten und Geretteten. Die Restvorstellung wandelt sich: Soll es denn wirklich sein, dass Gott die Menschheit ganz aufgegeben hätte? Das hat er ja auch nach der Sintflut nicht getan, er hat einen Rest bewahrt, aus dem wie aus einer Arche ein neues Volk Gottes hervorging.
Es entsteht also ein Rest-Bild im Sinn einer Arché, eines „principiums“, eines keimhaften Restes. Bei Jesaia in Naturbildern: der Baumstumpf – obwohl der Baum ganz abgeschnitten ist, kann wie durch ein Wunder aus dem Stumpf ein neuer Sprössling emporwachsen. Oder das Bild des Samens. Der Wald ist abgebrannt, aber aus den in der Erde ruhenden Samen sprosst neuer Wald. Oder das Bild des Kindes. Es ist im Mutterschoss noch verborgen, aber aus ihm sprosst ein neues Volk. Das verbindet sich mit der Hoffnung, dass Israel, als Volk Gottes, unter einem neuen Davididen neu erstehen wird. Das Kind aus dem Geschlecht Davids ist schon da. Das «Ganze» des neuen Gottesvolkes entsteht wie das Wachsen eines Kindes: der Friedefürst und sein Volk.
Das zweite Testament formuliert aus diesen Motiven eine Kindheits-Geschichte Jesu: er ist der keimhafte Rest, aus dem das Ganze kommt, er ist der kindliche Davidide, aus dem das Gottesreich neu ersteht.)
Ethnische Engführung
Aufgrund der Väter-Geschichten kann man das Volk Israel also genealogisch umschreiben. Gegen eine ethnisch definierte Engführung eines solchen genealogischen Verständnisses, wie es in der Diaspora, fast notwendig, entstehen muss, hilft eine Besinnung auf den überempirischen Charakter des Gottes-Volkes, was die genealogische Redeweise als Gleichnis erkennen lässt.
Aber auch bei den Vätern ist Genealogie ohnehin nicht das einzige Band. Schon dort wird Zugehörigkeit durch einen Bekenntnis-Akt gestiftet, die Beschneidung. Denn Zugehörigkeit erfolgt nicht qua physischer Beschaffenheit, sie erfordert eine Antwort des Menschen, sie wächst ihm nicht zu wie die nationale Zugehörigkeit. Auch das Volk Gotts ist eben eine überempirische Grösse, die nicht ein-eindeutig in empirische Grössen abgebildet werden kann. Deshalb deckt sich der Kreis der Beschnittenen schon bei den Vätern nicht mit dem Kreis der genealogisch zu den Patriarchen Gehörigen: Abraham beschneidet auch die Fremden, die bei ihm sind, die genealogisch nicht Zugehörigen.
Positivistische Engführung
Nach der Reichsgründung gibt es nun eine empirische Grösse, die sich „Israel“ nennt, das Nordreich. (Die Autoren, die sich aufmachen, eine „Geschichte Israels“ zu schreiben, atmen auf: endlich ein fester Anhaltspunkt. Wenn schon Vor- und Frühgeschichte zweifelhaft sind, hier kann die Darstellung endlich auf festem Boden einsetzen. Denkste! Das ist eine positivistische Engführung, welche empirische und überempirische Grössen identifiziert.)
Insofern wir alle in empirischen Verhältnisse leben, sind wir alle auf den Versuch verwiesen, das Reich Gottes schon hier zum Ausdruck zu bringen. Wenn also eine Reichsgründung, eine Staatenbildung gelingt (wie im modernen Israel), muss das nicht zur Versuchung werden, beide Ebenen zu vermischen? So kann bei positivistischer Engführung eine nationale Definition der Grösse Israel (als Verheissungsträger) entstehen (so wie man halt zur „Kirche“ gehört, wenn man in sie hineingeboren ist). Das muss ins Abseits führen.
Prophetische Kritik
Ohnehin, jede historische Verwirklichung überhistorischer Grössen steht bleibend in der Differenz: Das im Modus der Verheissung Gegebene und im Glauben Angeeignete ist immer kultur-schöpferisch, es tendiert dazu, empirischen Ausdruck zu finden. Aber es ist immer auch kultur-kritisch; es geht über jeden Versuch hinaus, der immer nur vorläufig sein kann.
Die Differenz zwischen den empirischen und intelligiblen Gehalten im Gottesvolk-Begriff ruft die prophetische Kritik hervor: das Reich Gottes ist nicht „da“, es ist verborgen. Das Recht ist nicht am Verhalten der Menschen einfach ablesbar. Wenn wir vom Gesetz wissen, dann kontrafaktisch, weil das Gewissen uns daran mahnt, weil die Gebote es uns vor Augen stellen. Gott ist allenfalls im Gebot „da“, aber noch nicht in seiner Reichsherrschaft. Das Recht wird aber «offenbar» im Gericht. Im Urteil und in der Rechtfertigung wird offenbar, wer und was recht bzw. unrecht ist.
Eine genealogische oder nationale Definition wird hier aufgesprengt: zum Volk Gottes gehört nicht einfach, wer zur Nachkommenschaft der Patriarchen gehört oder wer zur nationalen Grösse Israel gehört. (Wo ist sie denn geblieben, diese nationale Grösse? Von den Assyrern zerstört. – Sollten die Assyrer stärker sein als Gott, sollte Gott kein Volk mehr haben, nur weil es den Assyrern so gefällt? Das sei ferne! Hier offenbart sich Gott, im Gericht, das sich der Assyrer als Mittel bedient. Damit wird aber auch das Volk Gottes neu definiert).
Die Propheten sprechen von einem “Buch“, in das die Zugehörigen des Gottes-Volkes eingetragen werden. Das Buch ist noch verborgen, nur Gott kennt es, aber im Gericht wird es für alle offenbar. (Die Zugehörigkeit wird „am Ende“ offenbar. Die Eschatologie wird beigezogen um das Ineinander von Ganzheit und sinnlicher Wirklichkeit in der Geschichte zu umschreiben.)
Ethische Engführung
Wird das Volk Gottes hier zu einer ethischen Grösse? Nützt es gar nichts mehr, über die Genealogie an den Verheissungen teilzuhaben? Dass die Ganzheit als „Volk Gottes“ nicht über eine ethische Verhaltenszumutung an die Menschen verwirklicht werden kann, wussten auch die Propheten. Sie haben es bitter erfahren. Denn das Volk antwortet nicht auf den Umkehrruf, es ist verstockt (und als die Katastrophen immer weitergehen, heisst es: Gott selbst hat sie verstockt, bis das Gericht zu Ende ist. Dann ist die Schuld abgebüsst. Dann kommt ein neuer Anfang: Dann gilt wieder die Verheissung: Wer die «Richtigkeit» einhält, wird Erfolg haben, wer dagegen verstösst, wird untergehen. Diese Konzeption gerät aber in die Krise, bis zur Schuldvertiefung, bis zur Erkenntnis: der Mensch kann das Gesetz gar nicht halten. Er kann aus eigener Kraft Sein und Sollen nicht versöhnen. Wenn diese nicht schon in Gott zusammenstimmen, gibt es kein Heil und keine Ganzheit.
Aus der Klage gegen den Schöpfer geht Gott in der Theodizee als Sieger hervor. Gott hat die Welt gut geschaffen, aber der Mensch ist aus eigener Schuld in diese Unfähigkeit gefallen. Die Güte Gottes als Schöpfer und Erhalter zeigt sich jetzt aber in seiner Neuen Schöpfung, in seinem Erlösungswerk, in welchen Motiven und Traditionen das auch immer ausgesagt wird: er schafft einen «neuen Menschen», der sich nicht in dem unvereinbaren Dualismus von Gebot und Herz zerreibt, sondern dem das Gesetz direkt ins Herz geschrieben ist. Er führt uns «aus der Sklaverei» und erlöst uns wie seinerzeit in Ägypten. Er wird aus dem «Rest», der der Ausrottung entgangen ist, ein «neues Volk Gottes» erstehen lassen. Er sendet einen «Herrscher aus dem Geschlecht Davids» …)
Das Tun des Nichttuns
So wie die Propheten alte, vorläufige Gottes-Volk-Vorstellungen, die in eine Krise geraten waren, aufheben und neue formulieren, so wird in ihrer Tradition die weitere Erfahrung im Sinn einer Schuldvertiefung fortgeschrieben. Dieser läuft aber eine Fortschreibung der Verheissungen parallel. Die von Gott seinem Volk zugesagte Ganzheit überwindet auch diese historisch neu erfahrenen Brüche und Schuldmöglichkeiten des Menschen. Das Reich Gottes kann nicht durch Gebots-Frömmigkeit errichtet werden. Es ist ein gnadenhaftes Geschenk Gottes, wobei die Freiheit des Menschen aber nicht einfach aufgehoben wird. Diese „Dialektik“ oder das Spannungsverhältnis von Gottes-Gabe und Gottes-Forderung, von Glaube und Verantwortung, von Religion und Ethik, wird im Dekalog mit seinen beiden Tafelhälften ausgesagt, vor allem im Sabbat-Gebot, das in jener Zeit ins Zentrum rückt.
Es gebietet ein Nicht-Tun. Das Tun des Menschen, das zur Gerechtigkeit führt, ist das Gedenken, dass das Heil von Gott kommt. Erst so wird er frei aus der Lähmung der blossen Ethik, die aus innerer Notwendigkeit hypertroph werden muss (der Mensch ist nun mal nicht das Subjekt der Geschichte, das seine Existenzgrundlagen selber in Händen hält. Er findet sich vor, hat sich nicht selbst geschaffen…).
Umkehr
So gewinnt der Umkehrruf einen neuen Gehalt. Er ist nicht nur ethische Umkehr, sondern, wie es der Name sagt: Umkehr zu Gott, in dem Sein und Sollen bereits zusammenstimmen, ohne dass das dem Menschen aber als quasi ontologischer Besitz einfach zukommt. Umkehr ist weder ein ethischer Akt allein, eine Tatvermittlung von Sein und Sollen durch den Menschen, noch ein symbolischer Akt allein: die Ganzheitsrepräsentation, das im Glauben erfahrene Zusammenstimmen von Sein und Sollen bereits in dieser empirischen Welt, wo beides real noch auseinanderklafft.
Umkehr ist ein Begriff auf der Scheide zwischen Ethik und Religion, von Verantworten und Glauben. Im zweiten Testament heisst es «Metanoia»: Es ist ein metanoetischer Akt, wo immer der Übergang von intelligiblem Glauben in empirisches Tun gegeben ist (Ethik), wo es sich aber darin nicht erschöpft, denn aus der Enge der empirischen Grenzen ist umgekehrt immer der Übergang zur Ganzheit möglich.
Das Ganze in einem Augenblick
So kann Jesus am Kreuz dem Verbrecher neben sich noch in dessen letztem Lebens-Augenblick das Heil zusagen. «Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein.» Hier hat das Ganze in einem Augenblick Platz, sei es als glaubend erfahrene Heilsrepräsentation, sei es Befreiung aus der Lähmung blosser Ethik zur Tatwerdung.
Zusammenfassung
Auch wenn der heutige nicht-jüdische Synagogen-Besucher den Eindruck hat, dass der Begriff «Volk Israel» hier mit einer ethisch definierten Grösse gleichgesetzt wird (was aus der historischen Situation erklärbar ist), die hebräische Bibel hat viel umfassendere Antworten darauf parat. Es geht um dieselben Fragen, wie sie sich die christliche Kirche seit je stellen musste und auch heute stellen muss. Es geht um Heilszugehörigkeit, um das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch, um die Ganzheit.
„Volk Gottes“, „Kirche“ und „Israel“ stehen im Spannungsfeld sich wechselseitig bedingender Grössen: Weder können sie als empirisch auffindbare Grössen in ihrem vollen Bedeutungs-Gehalt ausgesagt werden, noch leben sie allein in bloss intelligiblen Gehalten. Wie der Begriff der „Menschheit“ selbst gehören sie beiden Bereichen an, in wechselseitiger Beziehung. Sie müssen empirisch konkret und zeitlich werden, gehen in der „Verwirklichung“ aber nicht auf (sie ver-wirken sich nicht). Insofern stiften sie empirische «Wirklichkeit“ und stehen dieser in all ihren Ausprägungen auch kritisch gegenüber.
Wenn sie nicht einfach empirisch feststellbar und umgrenzbar sind, so gelingt es doch auch nicht, sie nur ethisch zu definieren: „wer das und das tut, der gehört dazu!“, weil die Grenzen des Menschen das verhindern. Er ist nicht das Subjekt der letztendlichen Versöhnung von Sein und Sollen. Und doch, wenn es eine solche Versöhnung nicht gäbe, höbe sich Ethik in Absurdität auf und Leben wäre vollends unmöglich. Das Zusammenstimmen von Sein und Sollen in einer Ganzheit kann deshalb auch symbolisch in den Bedingungen der empirisch begrenzten Lebenswelt repräsentiert werden. Es wird im Glauben ergriffen, so dass sich der Lebensvollzug vertrauensvoll darauf verlassen kann, Verantwortung wird wieder möglich. Neben dem Spannungsfeld empirisch-intelligibler Gehalte steht das Gottes-Volk also auch im Spannungsfeld von Glauben und Verantworten, Ethik und Religion.
Umkehr als vermittelnde Grösse
Die Einheit all dieser Spannungen liegt nun in einem Begriff, der selber die Polarität in sich aufnimmt. Weder gehört er nur der empirischen, noch nur der intelligiblen Sphäre an. Weder ist er nur ein Glaubensbegriff noch nur ein religiöser Begriff: Umkehr, Metanoia. Zum Volk Gottes, zur Kirche, zu Israel gehört, wer umkehrt. Umkehr ist das, was die biblischen Autoren selbst in der letzten Stufe der Schuldvertiefung dem Menschen noch zumuten. Selbst wenn all seine Fähigkeiten für korrumpiert gehalten werden, umkehren kann er immer noch, und sei es im letzten Augenblick des Verbrechers am Kreuz.
Mögliche Autonomie
Es ist aber nicht einfach ein Symbolbegriff, der Freiheit und Verantwortung aufhöbe, weil alles vom Glauben erwartet wird. Er stiftet Freiheit, nicht im Sinn einer absoluten ethischen Autonomie. Aber im Sinn einer ethischen Autonomie, wie sie dem Menschen möglich ist: Als Befreiung zur Tatversöhnung zwischen Sein und Sollen unter der Voraussetzung, dass sich beides überhaupt versöhnen lässt. Die Vertrauenshaltung des Glaubens sagt das als Geschenk Gottes aus. Die Welt ist kein Chaos, sondern da ist ein Gott, ein lebendiger Gott.
Die Einheit der Lebenswelt beschränkt sich nicht auf den physikalischen Bereich, wo sie in Form einer „universellen Weltformel“ ausgesagt wird (die gesuchte Vereinigung aller bekannten Energieformen, nachdem durch Einstein schon die Bereiche Energie und Materie auf die Formel «E= m x c 2» zurückgeführt werden konnten), auch die notwendigen Lebensintuitionen von Vertrauen und Verantwortung sind dort aufgehoben. Leben ist möglich; und alles, was Leben ermöglicht, wird vertrauensvoll in Gott gesetzt.
Aus Notizen 1988
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Der Gedanke der «Erbsünde» – heute hat man schon vor dem Wort einen Horror -half damals, den Konflikt zu überwinden zwischen dem Glauben an einen guten Gott, der lebensnotwendig war, und der gegenteiligen Erfahrung eines Lebens, das einen mit Leid und Unrecht konfrontierte. Und es lag nicht am guten Willen, die Menschen hatten das Gefühl, in etwas verstrickt zu sein, was sie lähmte und Dinge tun liess, die sie nicht wollten. So erlebten sie sich selbst dabei, wie sie beim besten Willen das Falsche taten, was das Leben belastete und verstörte.
Es war, als ob man auf eine abschüssige Bahn geraten war, bei aller Anstrengung, den geraden Weg zu gehen. Es rutschte alles ab und es gewann an Fahrt. So antiquiert sich das alles anhört, ein Zeitgenosse kann das wohl nachvollziehen, wenn er an die Klimazerstörung denkt, an das Artensterben. Da ist etwas ins Rutschen geraten. Und von morgens bis abends, als Angehöriger der «westlichen Welt», erlebt man sich als Profiteur einer Weltwirtschaftsordnung, die zulasten von anderen Menschen und Kontinenten geht, und man kann nicht aussteigen. Weiterlesen
Einleitung
«Immer schneller und radikaler wird das öffentliche Leben in der Schweiz eingeschränkt», schreibt die NZZ. «Die Börse reagiert mit Panik auf die Entwicklungen der Corona-Krise.» Geht die Entwicklung nur noch bergab?
Im Gespräch lässt jemand das Wort «apokalyptisch» fallen. Als ich jung war, hatten meine Eltern ein Bild an der Wand: „Die apokalyptischen Reiter“. Ich verband es mit den Schrecken, die sie durchgemacht hatten und die nur in dunklen Gerüchten auf mich gekommen waren: der zweite Weltkrieg, Bombardierung, die Gräuel der Nazizeit …
Kein Untergangs-Gerede
Heute redet man von «Apokalypse» im Sinn von Weltuntergang. Sieht man die Bibel an, so ist das ein Missverständnis. Dort geht es nicht um Weltuntergang, auch wenn dieser dort angesprochen wird, sondern um Rettung. Es geht nicht um Angstmachen, sondern um Ermutigung.
Das Wort Apokalypse meint „das Geoffenbarte“. Es gibt in der Antike viele Schriften zur Apokalypse. Im Neuen Testament findet sie sich in den Evangelien und in der „Offenbarung“ nach Johannes.
Trotz der schweren Zeit
Entstanden ist sie in einer Zeit der Not und der Verfolgung. «Wo ist Gott?», fragen die Menschen. «Warum hilft er nicht? Warum verzögert sich seine Hilfe?» Der Seher Johannes schaut in die Zukunft und sieht: Gott kommt, im Himmel ist der Kampf schon entbrannt (der Chaos-Drache wird gestürzt). Bald wird sein Eingreifen hier auf der Erde spürbar. Gott steht auf, er richtet seine Herrschaft auf.
So kann der Seher die Menschen trösten. Sie verzweifeln nicht an ihrem Weg, sie können wieder vertrauen: Gott hat es in der Hand, mein Leben, mein Schicksal und was um mich geschieht. Bald wird man es sehen.
Gegen den Zynismus
In diesem Vertrauen müssen wir nicht unsere besten Intuitionen verraten und zynisch werden. Wir müssen uns nicht selber helfen, weil es in dieser Welt kein Recht mehr gibt und nur der Stärkere überlebt. Wir können am Glauben festhalten: dass es Gerechtigkeit gibt und Barmherzigkeit, dass Unrecht nicht ungestraft bleibt, dass die Opfer Recht erhalten. Und die Welt wird nicht einfach untergehen. Auch das ist eine Intuition, die wir täglich brauchen, gegen die Ängste einer aufgewühlten Zeit.
Da ist ein Schöpfer, der sie in der Hand hält. Er ist die Quelle des Lebens. Er steht zu allem, was er geschaffen hat. Er stand am Anfang. Und er begleitet uns auf unserm Weg.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 1
Ein Globus fällt aus der Halterung 2
Katastrophen-Angst und Katastrophen-Lust 3
Die Normalitäts-Illusion 4
Die Geschichte kehrt zurück 5
Erweckung 6
Zuschauen wie die Bibel denkt 7
Die Apokalypse als «Schatten» des Evangeliums? 7
Eine Theologie der Geschichte 9
Der Jubel der Gerechtfertigten 10
Ein Globus fällt aus der Halterung
„Der Globus fällt aus der Halterung – mit diesem Bild hat der „Tages-Anzeiger“ an Sylvester Rückschau auf das vergangene Jahr gehalten. So will die Zeitung unsere Zeit auf den Punkt bringen: Die Welt hat ihre Achse verloren, das, was ihr Halt gibt, die Mitte, um die sich alles dreht.“
1. Januar 2002
Ein neues Millennium
Wie ein Fanal steht am Anfang des Millenniums der Anschlag von „Nine Eleven“. Als ob der Terror dem neuen Jahrtausend seinen Stempel aufdrücken wollte. Aber es war nicht der Terror allein. Ökologie und Ökonomie produzierten immer neue Schreckensmeldungen. In der Schweiz ist das Jahr 2001 als eigentliches „Katastrophenjahr“ in die Geschichte eingegangen.
„Wann hört das endlich auf?“, fragten sich viele Schweizer nach dem Absturz einer Crossair-Maschine bei Bassersdorf. Seit dem September häufen sich die Katastrophen-Meldungen. Auch Bundespräsident Moritz Leuenberger sprach von einem „schwarzen Herbst“ und erinnerte an die Terroranschläge in den USA, das Attentat in Zug, den Unfall im Gotthard-Tunnel und den Niedergang der Swissair.“
„1992 haben rund 1700 Wissenschaftler aus der ganzen Welt, darunter die meisten der Nobelpreisträger, eine „Warnung an die Menschheit“ verfasst: „Viele unserer gegenwärtigen Verhaltensweisen stellen ein ernsthaftes Risiko dar für die Zukunft, die wir für die menschliche Gesellschaft wünschen, aber auch für die Pflanzen- und Tierwelt. Und ohne Änderung können sie die lebende Welt so beeinflussen, dass diese das Leben nicht mehr tragen kann – in der Form, wie wir es kennen.“
Aus Notizen zum Jahr 2001
Katastrophen-Angst und Katastrophen-Lust
Überschwemmungen, Tierseuchen, Klimawandel, Ozonloch… – kaum ein Tag, an dem die Medien heute nicht von einer „Katastrophe“ zu berichten wissen. Die Gefährdung des Lebens ist zu einem grossen Thema unserer Zeit geworden. Hollywood hat die neue Gattung des „Katastrophenfilms“ geschaffen, und kürzlich brachte sogar das Kinder-Fernsehen einen Trickfilm, in dem ein Bärchen die Welt retten musste, weil die Zeiger der Weltzeituhr auf „fünf vor zwölf“ standen.
Katastrophen-Angst…
Seit den 70er Jahren wird es uns zunehmend bewusst, dass unsere Welt endlich und die Erde verletzlich ist. Nach dem Buch „Die Grenzen des Wachstums“ sprach man oft vom „Raumschiff Erde“ und verglich unseren Planeten mit einer „Arche Noah“, in der das Leben zwar behütet, aber auch gefährdet ist. In den 80er Jahren schufen Waldsterbe-Debatte, Unglücksfälle wie Tschernobyl und die Entdeckung von Ozonloch und Klima-Wandel ein eigentliches Katastrophen-Bewusstsein.
Die Soziologen sprachen von „Risiko-Gesellschaft“. Die Gesellschaft sei aus einem Zeitalter der Not in ein Zeitalter der Angst übergetreten. Nicht mehr die wirtschaftlich zu bekämpfende Not des Daseins stehe heute im Zentrum, sondern die Gefährdung der Lebensgrundlagen.
Auch technik-bedingte Unglücksfälle alarmierten immer wieder die Bevölkerung. Die Abdankungs-Gottesdienste für die Opfer von Flugzeugabstürzen oder Zugs-Kollisionen wurden zu medialen Grossereignissen, wo eine ganze Gesellschaft ihre Erschütterung, ihre Trauer und ihr Mitgefühl ausdrücken konnte. Die Gesellschaft fühlte sich als ganze mitbetroffen, weil die Krisenanfälligkeit zugenommen hatte und jeder sich damit konfrontiert sah. (Wie die Rückversicherungs-Gesellschaften berichten, haben sich die Katastrophen-Schäden zwischen 1970 und 1992 verzehnfacht).
… und Katastrophen-Lust
Neben einer „Katastrophen-Angst“ lässt sich aber auch eine Art „Lust an der Katastrophe“ beobachten. Die fast täglichen Berichte über Gefährdungen, Unglücksfälle und Übergriffe können auch eine übertriebene Selbstwahrnehmung als „Opfer“ erzeugen. Opfer sein ist zwar mit Ohnmacht verbunden, hat teilweise aber auch eine eigene Gratifikation bei sich, weil man Verantwortung abgeben kann, sich als „unschuldig“ fühlt.
An die Grenzen der Angst zu gehen, hat ebenfalls etwas Anziehendes an sich, weil diese Angst dort angesehen und bearbeitet werden kann. Es ist ein kreativer Prozess, der hilft, sich aus Lähmungen zu befreien und vorwärts zu gehen. So gibt es ein ganzes Genre von Hollywood-Filmen, die „den Mann“ zeigen, wie er auf dem Höhepunkt seiner Karriere „alles“ verliert: Stelle, Ansehen, Frau, Familie.
Es ist eine individuelle Katastrophe, Inbegriff der Ängste im Alltag vieler Männer. Aber das mal ausgemalt vor sich zu haben und zu sehen: das Ende ist oft nicht nur Endpunkt, sondern auch Ausgangspunkt von etwas neuem, das kann die Angst beruhigen und hat therapeutische Wirkung. Analoges gilt für kollektive Katastrophen-Ängste.
Eine andere Art Lust an der Katastrophe feiert diese als Vollstreckerin einer höheren Weisheit. Für viele Menschen haben die weltweiten Probleme heute ein derartiges Ausmass erreicht, dass einfach keine Partei, keine Regierung und kein System mehr sichtbar ist, dem man es zutraut, das Ganze noch in den Griff zu kriegen. So gibt es ein heimliches Einverständnis mit der Katastrophe, weil man hofft, dass die heute wirkenden Kräfte an ihre Grenzen stossen und von dort her eine Korrektur erfahren.
Das ist letztlich die Frage nach dem Subjekt, welches „das Ganze“ in Händen hält. Und das ist eine religiöse Frage. Die Faszination durch die Katastrophe hat damit zu tun, dass wir an der Grenze „dem Ganzen“ begegnen. Heute sei die Menschheit erstmals in der Lage, sich selbst auszulöschen, heisst es manchmal etwas pathetisch. In der Religions-Geschichte finden sich aber sehr frühe Beispiele für diese Vorstellung. Schon bei den ältesten Religionen finden sich Erzählungen von einem durch Menschen verschuldeten Untergang der Welt, weil dort, an der äussersten Grenze, die Kraft sichtbar wird, die alles trägt. Und in der Begegnung mit dieser Kraft können wir zur Ruhe finden – und zu einem neuen Verhalten. (…)
11. Juni 2001
Die Normalitäts-Illusion
Normalität, Alltag – das sind Begriffe, die die Gewissheit verkörpern, dass alles immer so weiter gehen werde, wie wir es gewohnt sind. Und wenn ein Problem auftaucht, so können wir es isolieren und bekämpfen. „Alltag“, da gilt die Formel „ceteris paribus“ – alles Übrige bleibt sich gleich. Zwar ist eine Frage da, aber alles andere läuft weiter. Darum können wir das eine identifizieren als „Problem“.
Die heutigen „Probleme“ haben aber die Tendenz, dass sie sich verzweigen, dass sie exponentiell wachsen wie die illegalen Glücksspiele im Schneeballsystem. Und wie dort werden nur wenige reich, die andern zahlen. Es treten Kipp-Punkte ein, wo das System in einen anderen Zustand wechselt und der alte Zustand ist nicht mehr wiederherzustellen. Da ist das Problem kein Einzelfall mehr, der sich abhebt vor einer überwältigenden Menge von Bedingungen, die gleich bleiben. Da ist es umgekehrt. Das Beharrende wird zum Einzelfall und alles andere verändert sich.
20. Juli 2012
Spinne ich?
Die Propheten sind die beruhigendste Lektüre in dieser Zeit. Sie nehmen die Unruhe auf, sie lügen nicht wie die ewig gut gelaunten Stimmen in den Medien, wie der ewig positiv gestimmte Konsum-Ton am Fernsehen.
So kann ich mich beruhigen bei ihrem Alarm. Wenigstens spinne ich nicht, denke ich, andere sehen es auch. Ich lebe nicht in einer Wahnwelt, es ist wirklich etwas los in der Welt. Aber wenn ich dann wieder an die Arbeit gehe, wenn ich ansehe, was die Kirche beschäftigt, dann denke ich wieder, ich spinne.
21. Juli 2012
Die Geschichte kehrt zurück
Ich mache Pläne für meine Pensionierung. Das sieht so aus, als ob ich alles selber ordnen könnte. Aber über meine private Zeit gestülpt ist wie eine Glasglocke die übergeordnete Zeit: In der Schweiz ist jetzt Ferienzeit. Viele sind weggefahren, es gab die üblichen Staus auf der Gotthardroute. Und zu dieser sozialen Zeit kommt jetzt wieder die historische Zeit.
Die Geschichte kehrt zurück. Wir hatten sie lange vergessen. Wir dachten, sie sei für uns mit dem Datum „1945“ (Ende des 2. Weltkriegs) oder „1989“ (Zusammenbruch der UdSSR und Ende des Kalten Kriegs) zu Ende gegangen. Aber sie ist wieder da, sie stört die sozial verordnete Ferienzeit, in der die Welt eigentlich still zu stehen hat, damit man Urlaub machen, die Zeitung vergessen, das Handy abstellen und sich ganz jener anderen Welt überlassen darf – bevor man dann wieder zurückkehrt, die Zeitungen überfliegt (es war nichts los) und die Postberge sichtet. Dann holt man bei den Nachbarn den Schlüssel zurück und dankt ihnen mit einem Mitbringsel für das Giessen der Blumen während der Abwesenheit. Mit der sozialen Zeit möchten wir die Zeit aufheben, sie in einen Zyklus von berechenbaren Wiederholungen zwingen. Es soll nichts Neues mehr geben, nur die rhythmisch wiederkehrenden Aufgaben, für die wir die Lösungen schon im Computer haben. Wir können sie abrufen aus dem Speicher unseren Gewohnheiten.
Aber jetzt ist etwas Neues geschehen. Die Geplänkel um die Arrondierung von Russland, das sich von der EU eingekreist fühlt, haben zu einem ernsten Zwischenfall geführt. (…) „Aus Versehen“ haben sie ein Zivilflugzeug abgeschossen, das die Ukraine überflog. Die Welt wurde aufgerüttelt. Und wieder ist sie ein Stück chaotischer geworden. Die Menschen reagieren zunehmend mit dem Gefühl von Überforderung. Es braucht nur noch zwei, drei andere Nachrichten, so werfen wir die Hände hoch, wie die alten Israeliten am “Tag des Herrn“, wenn ein Unglück nach dem andern über ihnen hereinbricht, in der typischen Kaskade von Unglücksfällen, die die Propheten beschreiben:
«Weh denen, die des Herrn Tag herbeisehnen! Was soll er euch? Denn des Herrn Tag ist Finsternis und nicht Licht. Gleich als wenn jemand vor dem Löwen flöhe, und ein Bär begegnete ihm; und er käme in ein Haus und lehnte sich mit der Hand an die Wand, und eine Schlange stäche ihn.” (Amos 5, 18f).
24. Juli 2014
Erweckung
Der Super-GAU in Fukushima ist verhindert, dank der improvisierten Wasserkanonen. Es werden Stromleitungen zu den AKWs gebaut. Ob das normale Kühlsystem wieder in Betrieb gesetzt werden kann, ist offen.
In den nächsten Tagen wird „Japan“ auf den Titelseiten und Aufmachern der Medien wieder verdrängt von Libyen, wo der Krieg eskaliert, wo der Aufbruch in der arabischen Welt in einem Krieg zu ersticken droht.
Den einen war es zu schnell, dass man die Katastrophe in Japan gleich mit politischen Forderungen verband, etwa zur Änderung der Energiepolitik, zur ökologischen Umkehr. Dass man das Unglück ausschlachtet für parteipolitische Interessen. (Werden die Grünen die nächsten Wahlen gewinnen?) Andere erinnern sich an Tschernobyl vor 25 Jahren und sagen: Nach einem solchen Ereignis öffnet sich ein Zeitfenster von höchstens fünf Jahren, wo die Menschen für solche Fragen sensibel sind, wo es möglich ist, den Pfad dieser Zivilisation umzustellen. Danach geht das Interesse wieder verloren. Man kehrt zum alten zurück.
Japan
War es das, was wir erwartet haben – oder kommt noch etwas?
Bei mir löste es auch eine Deblockierung aus, es erinnerte von den Folgen her an eine „Erweckung“, dass ich endlich tun und machen konnte, statt immer zu warten:
War es das, was wir erwartet haben – oder kommt noch etwas?
Auch in der Kultur gibt es so etwas wie ein Erweckungs-Erlebnis: ein Deblockieren. Die Menschen ermächtigen sich. Es bilden sich neue Koalitionen und Gruppierungen, die Menschen öffnen sich füreinander. Ich finde Anschluss an meine „Souveränität“, aus dem ich mein Leben entscheide, ich schaue nicht mehr links und rechts, frage nicht mehr, darf ich und soll ich?
Eine solche Krise hat auch eine befreiende Kraft. Viele Menschen ermächtigen sich. Sozial definierte und verteilte Kompetenzen, wer reden darf, wer Öffentlichkeit beanspruchen darf, wer zurückstehen muss, wessen Rede etwas gilt, noch bevor er den Mund aufmacht, wessen Rede nichts gilt (man weiss es, bevor er noch ein Wort gesagt hat) – solche Regeln treten ausser Kraft. Eine Zeit lang ist vieles möglich, bis sich neue Dominanzen herausbilden, neue Sprachregeln etablieren, bis neue Herren und neue Knechte definiert sind.
20. März 2011
Zuschauen wie die Bibel denkt
Die Toten stehen auf oder der Engel der Geschichte
Wie umgehen mit Erfahrungen von Zerstörung, Gewalt und Unrecht, die den Menschen traumatisieren und aus seiner gewohnten Bahn werfen? Diese Frage stellte sich nicht nur im neuen Millennium mit dem Terrorismus und der Infragestellung des Lebens durch die Klimaveränderung. Vor dieser Frage standen auch die antiken Hochkulturen, die Krieg und Krise in vielfacher Form erlebten. Darum ist die Bibel nicht nur ein religiöses Buch, sondern auch ein Archiv der Menschheit, wo Verhaltensweisen und Modelle des Leben-Könnens seit der Antike aufbewahrt sind.
Das Alte Testament redet kaum von Auferstehung und Auffahrt, im Neuen Testament steht es im Zentrum. In zwischen-testamentlicher Zeit taucht es auf: in Apokalypsen, Weisheitsschriften, späten Psalmen. Das Thema begleitet das Werden der Bibel.
Man kann zusehen wie eine Religion denkt, wie viele Generationen ihre Erfahrungen vor Gott bringen. Und wir sehen, wie sie ihr Vertrauen zu Gott neu begreifen lernen.
So verändert sich auch ihre Auffassung von Wirklichkeit, immer mehr Erfahrungen werden vom Glauben durchdrungen. So finden sich schliesslich auch Antworten auf Erlebnisse, die uns schwer verstören, z.B. die Fragen:
• Wie ist es mit dem Unrecht, das auf der Erde keinen Richter findet?
• Wie ist es mit all den Toten der Kriege, die immer wieder die Erde verwüsten und Elend verbreiten?
• Wie ist es mit all den Armen und Unterdrückten – bleiben sie für immer auf der Verliererseite?
• Gibt es also kein Recht auf der Erde? Ist alles nur blindes Schicksal oder Zufall oder folgt die Welt einfach dem Recht des Stärkeren?
5. Mai 2002
Die Apokalypse als «Schatten» des Evangeliums?
Bergpredigt und Apokalypse scheinen verschiedenen Welten anzugehören. Der Kontrast fällt sofort auf. Und das wird der Kirche oft zum Vorwurf gemacht: Sie vertritt eine Lehre voller Sanftheit, aber die Offenbarung steckt voller Gewalt. Da wird getötet, in die Hölle gestürzt, ins Feuer geworfen, da sind grausame Strafen.
Man könnte sagen: Die Apokalypse ist so etwas wie der „Schatten“ der Bergpredigt. Das helle Licht der Gewaltlosigkeit wirft einen grossen Schatten: all die Gewalttätigkeit in der Offenbarung.
Rächt euch nicht selbst
Beim genaueren Hinsehen wird aber deutlich: Es ist kein Gegensatz. Schon in den vorangehenden Büchern wird gesagt: «Rächt euch nicht selbst, werft es auf Gott. Er wird richten.» Das genau zeigt die Apokalypse. Erst so wird es möglich, auf Rache zu verzichten. Das Unrecht ist geschehen, das darf man nicht verleugnen. Aber man übergibt die Strafe Gott. Er kann es aufklären. Er kann richten. Denn er ist auch der Schöpfer, der seine Geschöpfe liebt. Er kennt Barmherzigkeit.
Unbarmherziges Recht, barmherzige Rechtlosigkeit
Nur Gott ist in der Lage, beidem gerecht zu werden: dem Recht und der Barmherzigkeit. Wenn Menschen wirklich gerecht sein wollen, wird es oft unbarmherzig. Wenn Menschen barmherzig sein wollen, wird das Unrecht oft unter den Tisch gewischt. Beides braucht seinen Ort. Die Apokalypse sagt: Der Gekreuzigte kommt wieder, das Opfer sitzt zu Gericht. Er weiss zu richten. Er weiss aber auch, wie es tut, wenn man verfolgt wird. So kennt er auch die Barmherzigkeit.
Paulus sagt: „Rächt euch nicht selbst, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“ (Römer 12,19) Das macht die Apokalypse im Grossen. Der seelsorgerliche Rat wird zu einem geschichts-philosophischem Ausblick, beides wirkt psycho-hygienisch.
Die Bibel auf der Couch
So kann man die Apokalypse auf die psychologische „Couch“ legen. Das Hell-Dunkel fällt auf, die Entsprechung, aber es ist mehr. Die Gewalttätigkeit, die eine normale Reaktion auf Gewalterfahrung ist, wird wahrgenommen. Sie wird nicht verdrängt (so dass sie mit noch mehr Gewalt durchbricht), sie wird „übergeben“.
Damit wird der Weg der Vernunft frei gemacht: Revanche und Rache verewigen die Konflikte. Für Frieden brauche es Akte des Gewalt-Verzichts und der Vergebung. Ein Zwischenschritt ist, das Leiden Gott als Richter zu übergeben und zu vergegenwärtigen, wie er richtet.
So könnte man die Apokalypse des Johannes die „Psychotherapie der frühen Kirche“ nennen. Und es ist keine billige Religionskritik. Der Schatten wird zugelassen, weil ein Umgang damit gefunden ist. Und der heisst: Nicht verdrängen, nicht immer nur lieb sein. Dem Zorn Raum geben, dem leidenschaftlichen Ruf nach Gerechtigkeit. Der Gewaltverzicht, das Unterordnen, das die-Welt-stehen-lassen findet eine Kompensation in dem Ruf nach seiner Rückkehr, im Vertrauen, dass Christus als Richter wiederkehrt, dass er in Herrlichkeit regiert.
So kann alles ihm übergeben werden. Und die Leidenden, Verfolgten ersticken nicht mehr an ihrer verschluckten Wut. Sie bekommen keine Magen-Geschwüre mehr von ihrer zurückgehaltenen Pflicht, ihre Lieben zu verteidigen, Unrecht zu rächen, für das Wahre und Rechte einzustehen mit ihrem Leben.
So kann das erste wieder in sein Recht eintreten. Es ist nicht widerlegt durch den Geschichtsverlauf. Der sanfte Jesus, der nicht zur Waffe greifen wollte, er hatte recht, denn jeder, der zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. So ist kein Friede zu finden in dieser Welt.
Aus Notizen 2013
Eine Theologie der Geschichte
Versöhnung für die Opfer der Geschichte
Dritter Tag der Ausgangssperre. Draussen ist Frühling, die Blüten schiessen heraus, als ob die Büsche explodieren wollten. Die Regierung hat ältere Menschen wegen der Pandemie aufgefordert, das Haus nur für Einkäufe oder dringende Arztbesuche zu verlassen.
Ich beschäftige mich mit Apokalypse. Ist das eine Beschäftigung für eine solche Zeit?
Aber es geht nicht um Angstbilder, im Gegenteil. Apokalyptik ist eine antike Geschichts-Theorie, die nach der Versöhnung fragt – nicht nur im individuellen Massstab, sondern geschichtlich.
Da geht es um die Unterjochung von ganzen Völkern, um Vertreibung, Völkermord, Exilierung. Und da auch die grossen Reiche untergehen und von andern, noch grösseren aufgefressen werden (Assyrien, Babylonien, Perser, Griechen, Römer…) – was bestimmt Aufstieg und Niedergang der Reiche?
Kann man die Intuition auf Gerechtigkeit damit in Verbindung bringen? Gibt es Gerechtigkeit nicht nur im Kramladen, wo es um rechte Bezahlung geht, gibt es das auch, wenn man ein ganzes Leben anschaut, das Leben eines Volkes? Gibt es Gerechtigkeit für die Unterjochten?
Die Apokalyptik ist der spannende Versuch, all diese Fragen zu beantworten.
18. März 2020
Ein Pfui-Thema
Die grossen Kirchen haben die Apokalypse den Freikirchen und Sekten überlassen, aber die Kirche muss wieder lernen, apokalyptisch zu reden: um die Angst der Menschen aufzunehmen und um Gott grösser zu denken als die Angst. Hollywood hat die Bilder, die von der «Hochkultur» nicht mehr bearbeitet werden, aufgegriffen, von wo sie zahlreiche populäre Untergangs-Phantasien alimentieren.
Die Distanz der Kirche zur Apokalyptik erklärt sich aus ihrer Rolle in der Geschichte, weil sie immer wieder messianische Bewegungen inspiriert hat. In grossen Notzeiten schien das «Ende» überhaupt nahegerückt, jetzt «musste» Gott einfach eingreifen. Christus musste zurückkehren und zugunsten seines Volkes eingreifen, wie er es in der Apokalypse versprochen hat.
Nur noch ein Märchen
Einen ironischen Nachklang auf diese politische Apokalyptik findet man noch in Heines Gedicht «Deutschland, ein Wintermärchen». Der Dichter kehrt über den Rhein nach Deutschland zurück. Der Aufbruch der liberalen Revolution in Frankreich ist in Deutschland abgewehrt, die revolutionären Ausbrüche von 1848 stehen noch aus. Im Traum begegnet er Kaiser Friedrich Barbarossa, der nach einer Legende im Kyffhäuser begraben liegt.
Wenn die Not am allergrössten ist, wird der Kaiser zurückkommen, so erwarten die Menschen in dieser Legende, um seinem Volk beizustehen. Dann wird er die Übeltäter bestrafen und Recht und Frieden schaffen. Heine zitiert die Legende, um sie zu brechen: In Frankreich hat das Volk seinen König guillotiniert. Das Volk hat sich selber zum «historischen Subjekt» gemacht, das Recht und Freiheit erkämpft. Es braucht keinen mittelalterlichen Kaiser mehr und keine religiöse Hinterwelt, denn jetzt wird der Tisch im Diesseits gedeckt. Und Recht, das wird schon hier erlebt, nicht erst in einem Jenseits.
Das revolutionäre Subjekt
Dass die Apokalyptik ein Versprechen für die Geschichte bereit hält, ist durch die Jahrhunderte immer wieder in Erinnerung gerufen worden durch chiliastische Bewegungen. Diese übersprangen auch leicht die Hürde der Säkularisierung. Ihre Bilder von Endzeit und Vollendung konnten sich auch in nicht-kirchliche Ideologien kleiden.
Wenn Heine auf die Französische Revolution verweist, die den Jenseits-Trost unnötig mache, weil der Mensch sein Schicksal jetzt selber in die Hand nehme, so ist die Revolution schon bald zu einem Haupttreiber von Geschichts-Ideologien geworden, die ihre Herkunft aus der Geschichts-Theologie nicht verbergen können, so deutlich in den Schriften des Marxismus. Auch anti-christliche Bewegungen wie der Nationalsozialismus sahen ein letztes Geschichtssziel vor sich, dem sie alles unterordneten. Sie riefen das «tausendjährige Reich» aus.
Verständlich, wenn man bald lieber die Hände liess von solchen Gedankengängen. Apokalyptik hat es als Theologie mit dem Absoluten zu tun. Wo ein Staat, eine Partei ,sich anheischig macht, dieses absolute Ziel im Diesseits zu erreichen, schlägt das Absolute in Totalitarismus um.
Der Jubel der Gerechtfertigten
Apokalypse und jüngstes Gericht
Der Jubel der Gerechtfertigten, den man in der Apokalypse hört, der ist bereits im ersten Testament zu finden. Lange haben sie gewartet, gelitten und „eingesteckt“. Alles haben sie Gott anvertraut, damit er endlich „aufsteht“ und sich als Richter erweist, dass er eingreift und Recht schafft.
In den Siegesliedern ist dieser Ton zu finden. Anders geht die Welt nicht auf.
Ohne Gerechtigkeit bleibt sie eine Räuberhöhle und ein Hohn auf Gott. Aber jetzt geschieht es, „endlich“, und sei es in einem letzten Moment, der schon nicht mehr zur Geschichte zählt, der mathematisch einem Grenzbegriff gleicht, der aber doch den ganzen Definitionsbereich prägt: Es ist vielleicht erst im „jüngsten Gericht“.
Aber das wirkt nach vorne und hinten. Die Welt wird erlöst, auch bezüglich von Recht und Unrecht, von Leid und Demütigung und falschem Triumph. Gott rückt es wieder zurecht. So kann man aushalten, notfalls ein ganzes Leben lang, notfalls, ohne dass man auch nur ein Quantum davon erlebt, von dieser Gerechtigkeit. Aber die Gewissheit, dass sie kommt, lässt die Leidenden aushalten, es hält die Balance.
Das Reich Gottes hat (in der leidvollen Erfahrung der Zeit, in der hier gesprochen wird) keine „Brückenköpfe“ mehr auf dieser Seite des Lebens. Der Brückenkopf ist fast nur virtuell: in der Gewissheit des Glaubens, die ausstrahlt in die Hoffnung. Sie verlieht die Fähigkeit, zu vergeben, die Kraft, immer wieder aufzustehen und weiter zu gehen. Sie nährt die Kraft, den Menschen zu begegnen und nicht zu verbittern, sie verleiht die Geborgenheit einer „neuen Unschuld“, so verletzt und entstellt die Gesichter auch sind durch das erlittene Unrecht. Aber sie müssen die Welt nicht in Brand stecken, diese Menschen, sie müssen das höllische Feuer, das sie erleiden, nicht nach aussen tragen. Denn sie vertrauen auf einen Gott, der – trotz allem – das Recht in der Hand hält. Und der aufsteht zum Gericht.
Brutalität in der Bibel?
Und so kann man auch die „brutalen Szenen“ würdigen in diesen Texten. Es ist nichts gegen die Filme, die jeden Tag im TV laufen und die auf einer sozialtherapeutischen Ebene am selben Problem arbeiten: an der Erfahrung von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft.
Es ist die Genugtuung der Opfer, die gelitten haben und die gerade nicht zur Rache greifen, die gerade nicht Amok laufen, die gerade nicht eine gewalttätige Revolution anzetteln, die gerade nicht einen Wind säen, der nur zu einem Sturm werden kann und mehr Uebel erzeugen als er lösen soll…
Es sind die Menschen, die alles vor Gott getragen haben, all ihr Leiden, all ihre Demütigung und Bloss-Stellung, all ihre Zurücksetzung, den ganzen Betrug, die Falschheit und Lüge, der sie ausgesetzt sind.
„Gott steht auf, seine Feinde zerstieben;
die ihn hassen, fliehen vor seinem Angesicht.
Sie verfliegen wie Rauch verfliegt;
wie Wachs am Feuer zerfliesst,
so vergehen die Frevler vor Gottes Angesicht.
Die Gerechten aber freuen sich und jubeln vor Gott;
sie jauchzen in heller Freude.“ (Aus dem Ps 68)
15. Juli 2013
Foto: Pieter Bruegel the Elder – The Tower of Babel
Die Geschichte vom Menschen, der von einem Wal verschluckt wurde und bis zum Grund des Meeres reiste, ist fiktiv. Es sind aber reale Erfahrungen, die hier zu einem Mythos verdichtet werden. Auch wer heute von der Erzählung gepackt wird, fühlt sich erinnert an eigene Erlebnisse von Überwältigt-Werden, von Dunkelheit und von Suchwegen im Ungewissen. Das Folgende ist ein Auszug aus meinem Büchlein «Im Innern des Wals. Was Jona sah und erlebte als er zum Grund des Meeres reiste, edition winterwork 2021. Das Büchlein folgt verschiedenen Erlebnissen «Im Bauch des Wals», das Nachwort, aus dem hier zitiert wird, versucht, es zu verstehen.
Peter Winiger
Falsches Aha!
Immer wieder erlebe ich als Erwachsener, wie ich etwas tue, was ich nicht will. Und was ich will, das tue ich nicht. Der Widerstand, der kommt nicht erst am Schluss dazu, der mischt schon von an Anfang mit. Schon die Wahrnehmung ist geprägt. Sie zeigt mir die Wirklichkeit nach dem Muster frühkindlicher Erfahrungen. Und die Antwort darauf ist schon beigemischt. So hatte ich als Erwachsener seltsame Aha-Erlebnisse: Wenn etwas ganz aussichtlos erschien, dachte ich, ich sei endlich am Boden der Wirklichkeit angelangt.
Ist es das, was wir erwartet haben, oder kommt noch etwas Grösseres?
Erdbeben, Tsunami, Kernschmelze, Super-GAU – eine Katastrophe zieht die andere nach sich. Ist das das grosse Dunkle, das wir vor uns sahen und vor dem wir uns immer gefürchtet haben oder kommt noch etwas Grösseres?
Das traumatische Erleben ist nicht nur «schräg», nicht nur eine private Spinnerei – es ist von Erfahrungen geprägt, auch wenn die Reaktionsweisen, die es bei den Menschen auslöst, oft dysfunktional sind. In grösserer Sicht ist die Falsch-Nehmung eben doch eine Wahr-Nehmung – es gab das Ereignis wirklich, das das Wahrnehmen verbog und das ganze Leben auf eine falsche Bahn brachte.
Da wurde das Vertrauen verletzt. So muss das in allen Situationen zum Vorschein kommen, die Vertrauen verlangen: in den Beziehungen, die ein Mensch eingeht, in den Begegnungen am Arbeitsplatz. Es entsteht ein Mensch, der nicht vertrauen, d.h. glauben kann, denn Glauben ist Vertrauen. So zeigt es sich hier am reinsten, ob ein Mensch vertrauen kann: im Glauben, ob er dieses Risiko eingehen kann.
Die Wende zu Gott in der Lebensmitte
Die Frage der Religion muss auftauchen, wo vom Leben und vom Tod die Rede ist. Sie hängt nicht am Kinderglauben, die Frage kann sich immer wieder neu stellen. Insofern haben jene Kirchen nicht alles verspielt, die die Tradition abbrechen liessen. Und die Verächter, die die Gläubigen für ihre Kindlichkeit verlachen, sind nur nie verzweifelt genug gewesen in ihrem Leben.
Hiob ist kein Kinderbuch. Er rechtet mit Gott. Er braucht Gott, um ein Gegenüber zu haben, wo er seine Verzweiflung hintragen kann – und seine Intuition, dass es doch gerecht zugehen müsste im Leben und Zusammenleben.
Grossmutter
Ein «Trauma» ist selten das Leiden eines einzelnen. So wie die Erfahrung von vielen geteilt wird, wenn die historischen Umstände betrachtet werden, so geht sie in die Tiefe der Zeit: Ein Trauma kann über die Generationen weitergegeben werden.
Der traumatisch Verletzte scheint wie unter einem Bann zu stehen, sein Verhalten läuft wie in einer Kreisbahn, so dass immer wieder dieselben Konstellationen auftauchen. Diese Bannkraft wirkt auch über die Generationenfolge, so dass immer wieder ähnliche Schicksale auftauchen.
So entstehen die grossen seelsorgerlichen Fragen, die Familienfragen, wo getrunken wird, wo Gewalt ausgeübt wird – oder wo Menschen «ins Wasser gehen». Und es kann wie ein «Auftrag der Ahnen» empfunden werden, endlich mal die Frage zu stellen: ob diese Welt verlässlich ist oder nur ein schwarzes Loch. Das ist die Frage nach Gott.
Glaube entsteht im Gehen
Vertrauen ist kein kognitiver Akt, es kommt nicht einfach durch ein «Aha» zustande. Vertrauen, vor allem wenn in diesem Vertrauen ein Weg eingeschlagen wird, wenn eine Handlung erfolgt, die durch nichts als Vertrauen gerechtfertigt wird, ist ein existenzielles Risiko. Denn oft stehen dieser Entscheidung viele Gründe und Motive entgegen, es ist nicht lebensklug, hier zu vertrauen, die Klugheit würde Sicherheit verlangen. Und es mobilisiert schlicht Angst, wenn die bekannten und verlässlichen Geländer losgelassen werden und ein Weg ins Ungewisse eingeschlagen wird. Es gibt aber Akte im Leben von dieser Art, die weder ökonomisch versichert noch sozial abgestützt werden können. Wo der einzelne allein steht und «jetzt», in diesem Moment eine Entscheidung fällen muss.
Da ist «Gott» keine theoretische Frage, es ist die Vertrauensfrage schlechthin. Und auch das psychologische Wissen, wie Vertrauen entsteht, wie es verletzt oder geheilt wird, hilft nicht weiter. Denn hier ist der Betroffene nicht Beobachter im eigenen Leben. Die Zeit der «Es-gibt- und es-hat-Sätze» ist vorbei. («Es gibt Gott» oder «Es gibt keinen Gott». Auch der Atheismus hilft nicht weiter.) Der Schritt ist jetzt fällig und er muss ihn gehen. Das unterscheidet ein gelebtes Leben von einer Theorie über das Leben oder von einer Erzählung über das Leben, die immer von einem anderen Standpunkt aus erfolgen, vorher, nachher oder darüber, aber nie vom Ort der Entscheidung aus. Und der gleicht dem Ort des Seiltänzers oben auf dem Seil, das nur ein Vorwärts kennt.
Was wir jetzt tun, verrät etwas über uns. Wie wir uns auf dem Weg verhalten, darin zeigen wir, wer wir sind. Mit jedem Schritt vertrauen wir uns Gott an, so machen wir mit jedem Schritt Erfahrungen mit ihm. So geschieht auf dem Weg eine doppelte Auslegung: wer wir sind und wer er ist.
Der Weg ist ein Risiko, und er sucht das Risiko. Der Glaubensweg scheint davon angezogen. Wir wollen nicht nur ein bisschen Vertrauen im Leben, wir wollen das ganze Leben vom Vertrauen her gestalten und erfahren. Es ergibt sich damit fast zwangsläufig, dass wir in alle möglichen Ängste hineingehen, dass der Glaubensweg da hineinführen muss. Denn dort, wo es früher hiess «ich fürchte mich» soll es in Zukunft heissen «ich vertraue». Ich gehe vorwärts, auf die Menschen zu, die mich erwarten, auf die Aufgabe, die vor mir steht.
Wie weiss ich denn, dass mir das Leben gelingen wird?
Wenn ich wüsste, dass mein Leben gelingt, wie ganz anders könnte ich es leben! Ohne Angst und in Freude. Und die Probleme, die alles in Frage stellen, wären keine Probleme mehr, es wären Aufgaben auf dem Weg. Schade, weiss ich es immer nur hinterher, ob es gelungen ist. Muss ich also bis zum «Jüngsten Gericht» warten, bis ich es weiss? Stehe ich immer in Zweifel? Soll ich es da nicht lieber gleich fahren lassen, da es doch aussichtslos ist?
So fragte schon Thomas a Kempis: „Ich kenne einen Freund; der war von Angst ergriffen und schwebte lange zwischen Furcht und Hoffnung. Eines Tages, da ihn der Kummer halb aufgezehrt hatte, warf er sich, aus dem Herzen betend, in der Kirche vor dem Altar nieder und grübelte bei sich: Oh, wenn ich gewiss wüsste, dass ich im Guten bis ans Ende verharre! Da hörte er die göttliche Antwort in seinem Innersten: „und wenn du das wüsstest, was wolltest du dann tun? Tue jetzt, was du dann tun wolltest, und du wirst sicher zum Ziele kommen.“ Dieses Gotteswort tröstete und stärkte ihn, dass er sich ganz dem Willen seines Herrn hingeben konnte, und alle Angst war dahin.“
Wie weiss ich denn, ob mein Leben gelingt? – Ich weiss es heute schon, wie Wissen davon überhaupt möglich ist: im Glauben. Also kann ich vorwärts gehen, auf die Menschen zu und in die Situation hinein.
(Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi. Stuttgart 1967. S. 52.)
Nicht vom Glauben her, auf den Glauben hin
Den Glauben, den man zum Leben braucht, habe ich noch nicht. Das Vertrauen, mit dem es mir gelingt, davon bin ich noch weit entfernt. Ich bin erst auf dem Weg. Aber schon auf dem Weg gibt mir der Glaube etwas, mit dem ich ihn finden und bestehen kann: Wenn ich die Frage, die vor mir auftaucht, auch nicht vom Glauben her beantworten kann, ich kann sie auf den Glauben hin betrachten. Ich kann sie ins Gebet nehmen, sie anschauen im Licht des Evangeliums. So kann ich den Schritt tun.
So öffnet sich zwischen mir und dem Ziel auch kein Abgrund mehr. Ich bin nicht einfach schlecht und ungenügend (die Symptome stehen schon bereit, mit denen man mein Scheitern beschreiben kann). Ja, ich scheitere, und das mit Notwendigkeit. Ich kann das Ziel des Lebens gar nicht aus eigener Kraft erreichen. Die Vollendung erfolgt aus derselben Kraft, die den Anfang geschaffen hat. So kann ich meinen Standort annehmen, muss ihn nicht kleinreden und schlecht machen. So kann ich in mir Platz nehmen. Das Leben beginnt.
So habe ich endlich die Kraft gefunden, mit der ich in alle Angst hineingehen kann. So kann ich alles nochmals ansehen, mich mit allem versöhnen. Das bin ich. Und da ist Gott, mit ihm finde ich den Weg.
Wenn es Gott wirklich gäbe?
Wahrheit zeigt sich für mich, wenn ich mich vor Gott stelle. Das klärt die Situation, enthüllt sie, zieht den Schleier weg.
Es hat Folgen für das Erkennen: Es zerreisst die Projizierungen, zeigt auch den Menschen in seiner Vollgestalt, wie er nur im Gegenüber Gottes sichtbar wird, das macht die Liebe leicht; es legt die Impulse frei: auf den Menschen zuzugehen; es zeigt die Wege; es ersetzt die Angst-Projektionen durch Erkenntnis-Bilder der Liebe und setzt so einen Wirkkreis in Gang, der dem Teufelskreis der Angst entgegengesetzt ist.
Und es hat Folgen für das Tun: Ich kann das Richtige auch tun, die Blendwirkung der Angst wird aufgehoben, so dass ich sehen kann, wo vorher nur eine weisse Wand war, und ich kann hineingehen, wo vorher nur etwas Schreckliches war, was mich von sich weggetrieben hat.
Gebet
„Gott, ich weiss, dass Du da bist!
Ich höre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Schweigen!
Ich sehe dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Dunkel!
Ich spüre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alle Beweise meiner Hand, die ins Leere tastet.
Ich weiss es einfach, und damit weiss ich was „Wissen“ ist.
„Wissen“ ist einzig und allein diese Gewissheit, mit der ich Dich weiss. Alles andere ist nur Panik, Illusion, falsche Beweise. Mein Stolpern beweist nichts, meine Hände stolpern wie die Beine, die Augen irren wie die Hände…
Lieber Gott, führe mich, hier meine Hand. Ich bitte – ich weiss, du wirst mir geben.
Ich klopfe an – Du machst auf.
Du bist, ich bin.
Grösste Not und grösste Freude
Das Schlimmst-Mögliche, so die schreckliche Ahnung, wird vielleicht von der Angst selber herbeigeführt! So wären wir selber die Übeltäter in unserem Leben. Und wir brauchen die Menschen um uns herum nur zur Staffage, um unser eigenes Drama immer und immer wieder aufzuführen.
Jeder wird im Laufe seines Lebens eingeholt vom tiefsten Punkt seiner Verletztheit. Es kann nicht anders sein, die Heilung muss zum tiefsten Punkt gehen. Vertrauen, wenn es ein Leben anleiten will, muss Antwort wissen gerade auf diese Fragen, die am meisten in Verzweiflung stürzen. Glaube ist nicht Glaube, wenn er nicht durchgehalten wird bis in die schmerzhaften inneren Dialoge hinein, die wir dauernd in uns wiederkäuen.
In Blaubarts Zimmer
Irgendwann geht der Weg bis ins Innerste. Dort wird auch das Äussere verständlich. Die Rätsel klären sich. Erst im Innersten kehrt die Bewegung um. Wenn ich das Innerste aufgesucht habe, bin ich fähig und bereit, mich nach aussen umzuwenden. Sonst sitzt es mir als Angst im Nacken. Im Innersten aber, wo die Angst am dichtesten scheint, kehrt Ruhe ein. Im Innersten klären sich auch die Rätsel der Familien-Geschichte.
Der Weg des Nachgehens, des Aufsuchens, des Wiederholen-Müssens aber auch des Heilens, geht bis zum Schlimmst-Möglichen, die Bewegung geht bis zum Innersten. Da ist die Schatzkammer – und das Blaubart-Zimmer der Familien-Geschichte. Hier werden Schicksale geprägt und Lebensläufe entschieden. Hier eintreten ist wie eintreten in eine andere Wirklichkeit. Sie ist mit nichts anderem zu vergleichen.
Die Zukunft der Kinder
Unsere Kinder werden die Welt nicht mehr so erleben, wie wir das noch durften. Das hat mir lange am meisten zu schaffen gemacht. Es macht mir Angst, in die Zukunft zu gehen und die Kinder auf diesem Weg allein lassen zu müssen. Wer behütet sie?
Auch der Tod hat sein Gesicht verändert. Alles ist unbekannt und unerprobt. Wer könnte hier voran gehen, wer hat das schon erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?
Notwendig
Tatsache ist, wir können gar nicht weniger erwarten. Kranke hoffen auf Gesundheit, Ausgestossene, dass sie wieder aufgenommen werden. Wir erwarten, dass am nächsten Morgen die Sonne aufgeht. Es gibt Erwartungen, die sind lebensnotwendig: dass die Welt Bestand hat, dass der Weg der Menschheit sich nicht im Dunkeln verliert, dass es für das eigene Leben ein Ankommen gibt. Die Erwartungen der Menschen sind absolut, sie richten sich aufs Ganze. Wir können gar nicht anders.
Hinausgehen
Petrus sitzt im Boot. Er ist mit den anderen Jüngern hinausgefahren. Der See ist stürmisch. Einmal, als die Wellen ins Boot schlagen, fürchtet er um sein Leben. Aber das Boot gibt ihm Schutz, hier fühlt er sich einigermassen sicher.
Aber jetzt sieht er, wie Jesus auf den Wellen wandelt – ungeschützt, ganz ausgesetzt. Mitten im Sturm. Es hat eine ungeheure Leichtigkeit. Es ist nicht Sicherheit, es ist Vertrauen. Er stützt sich auf nichts, was ein Mensch machen kann, auf nichts, was zu dieser Welt gehört.
Es gibt keine Bedingung in der Welt, die zuerst erfüllt sein müsste, damit er so leben kann, wie er sich das vorstellt. Er lebt bedingungslos und frei. Er hat sein Leben auf Gott geworfen, dieser trägt die Welt. Er hat sein Leben ihm anvertraut.
Petrus sieht Jesus auf dem Wasser gehen, und er begreift mit einem Mal, dass er sein Leben falsch verstanden hat. Es geht nicht darum, sicher im Schiff zu sitzen. So verliert er gerade, was er retten will. Es geht darum, das zu verwirklichen, was gemeint ist und was auch ihm zugesagt ist.
Und jetzt will auch Petrus den Schritt wagen.
Er ruft Christus an: „Herr, bist Du es, so heisse mich zu Dir auf das Wasser kommen!“ „Komm!“ sagt Jesus und Petrus steigt aus dem Boot. Und er geht.
Das Wasser trägt.
Von nahem gesehen
Die Geschichte hat einen kleinen Nachspann. Als Petrus ausgestiegen ist, sieht er die Wellen von nah. Hier draussen macht der Sturm einen Höllenlärm.
Da fürchtet er sich.
Er fürchtet um sein Leben, um seinen guten Ruf, sein dieses und jenes, wovor wir uns immer fürchten im Leben. Plötzlich wird es ihm nicht mehr geheuer, da draussen.
Er möchte sich absichern, schaut sich nach dem Schiff um, um wieder einzusteigen.
Da beginnt er zu sinken.
Er hat den Schritt getan, er hat erlebt, wie es ist, als freier Christenmensch zu leben. Aber „immer“ gelingt es nicht. Es gibt Rückfälle. Darum endet diese Geschichte mit dem ängstlichen, dem zweifelnden Petrus.
Christus sagt wohl: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ Aber damit verurteilt er ihn nicht, damit will er uns sagen: Ihr dürft noch viel mehr glauben, ihr dürft viel mehr Vertrauen haben, als ihr denkt!
Als Christus sieht, dass Petrus sinkt, geht er ihm entgegen und hilft ihm. „Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus und ergriff ihn.“ (Mt 14, 22 ff)
Im Bauch des Wals, der Weg dieses Büchleins
Man kann die Religion aufsuchen bei den Glücksmomenten, die sie begleitet: wenn ein Kind geboren wird, wenn zwei heiraten… In den vorliegenden Texten scheint die Religion etwas Dunkles, jedenfalls verbunden mit Dunklem. Das ist heute nicht verwunderlich, wo Religion fast nur noch in Zusammenhang mit kirchlichen Fehlleistungen thematisiert wird. Und doch ist hier etwas anderes gemeint.
Es geht um Leid, um die grossen Umwälzungen, um Kriege und Krisen, wo Menschen traumatisiert werden. In der Art, wie Traumata erlebt und ausgedrückt werden (angefangen bei der frühkirchlichen Passions-Geschichte von Verfolgung und Kreuzigung) finden sich religiöse Bilder. Sie helfen, der Verletzung Ausdruck zu geben, und sie begleiten auf einem Weg der Heilung.
Glaube wird hier nicht begriffen als System von Sätzen, sondern als Haltung des Vertrauens, das elementar nötig ist, um das Leben als einzelner oder als Gemeinschaft zu führen. Wird das Vertrauen verletzt, hindert das die Integration der Menschen in sich selbst und in die Gemeinschaft. Der Weg zur Heilung muss die Verletzung aufsuchen. So ist der religiöse Weg, wie er hier beschrieben wird, ein Weg ins Dunkle. Ein Bild dafür gibt der Weg von Jona, der sich einschifft, in einen Sturm gerät, über Bord geht und von einem Wal verschluckt wird.
Die Reise des Jona im Bauch des Wals bis zum Grund des Meeres geht durch die Krisen der Historie, durch das Trauma der Menschen, die verletzt werden, und dabei helfen die Bilder der Mythen und des Glaubens. Drama, Trauma und Traum der Religion gehören zusammen. Das wollte ich mit diesem Büchlein zeigen.
Peter Winiger
Die Texte stammen aus dem Nachwort zum Büchlein «Im Innern des Wals. Was Jonas sah und erlebte, als er zum Grund des Meeres reiste.» Von Peter Winiger, 2021 edition winterwork, Borsdorf.
Bild: Hortus Deliciarum. Der Prophet Jonas wird vom Fisch bei Ninive ausgespien.
Die heissen Tage haben begonnen. In Deutschland ist Starkregen angesagt. Ich will etwas über Wirklichkeit scheiben. Wer ist dazu berufen? Vielleicht der, der den Impuls empfindet, ein Fenster aufzureissen, damit man atmen kann. Die Alternativlosigkeit der geltenden Wirklichkeits-Behauptung erstickt einen. Danke Du da vorn, danke, dass Du das Fenster aufmachst! Weiterlesen
Die Zeitung berichtet über ein «Taufritual» an einer belgischen Eliteschule. Hier begegnen sich die Aufstiegshoffnungen von Aussenstehenden und Zugewanderten und die Bemühungen der Elite, unter sich zu bleiben und ihre Position zu verteidigen. Weiterlesen
Was ist eine «Katastrophe»? In welche psychische Landschaft treten wir da ein? Was begegnet uns? Und wie begegnen wir den «Monstern» und «Ungeheuern», die auf diesem Wege lauern. Gibt es vielleicht auch freundliche Gestalten? Das Streiflicht «Katastrophe» bringt einige Texte aus 30 Jahren, die sich damit beschäftigen: von «Fukushima» zu «Tschernobyl», vom «Artensterben» zum «Waldsterben», von der «Flüchtlings-Krise» zum «Ozon-Loch» – und jeder dieser Begriffe hatte damals das Potential, Panik zu wecken wie heute. Mancher dieser Schreckbegriffe steht für einen Wendepunkt, den die Entwicklung seither eingeschlagen hat. Das ist der Titel dieses Streiflichts: Katastrophen und Wendepunkte, weil eine ruhige, vertrauensvolle Reaktion den Weg in die Zukunft weist. Weiterlesen
«Transformation» scheint das neue Zauberwort. Dass es «so nicht weitergehen» könne in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, scheint vielen klar, aber woher die Änderung? Früher sprach man von «Reformen», zu Zeiten auch von «Revolution», später ging es um eine «Änderung des zivilisatorischen Entwicklungspfades». Weiterlesen
«Vor Monaten hat sich etwas Neues in mein Gebetsleben eingeschlichen, unmerklich, von den Rändern her.» (So beginnt eine Notiz aus dem Jahr 1990, als ich nach dem Glauben suchte.) «Schon früher hatte ich manchmal, als paradoxe Gedankenspielerei, den Satz ausgesprochen: „Wenn wir ernst nähmen, wovon wir immer sprechen: Gott – dass es ihn wirklich gäbe …!“
Dann rutschte der Satz in mein Gebet. Und ich versuchte mir vorzustellen, dass dieser Gott, von dem ich immer redete, zu dem ich selbstverständlich immer betete, wirklich lebte! –
Es war eine Sensation wie ein Erdbeben: Eine Kruste brach auf, vom Magen her sprudelte etwas auf und überschwemmte mich, es ging durch alle Glieder…
Es war ein Gefühl ungeheurer Freiheit. Wenn Gott lebt und der Welt gegenübersteht, so lebe auch ich und stehe der Welt gegenüber! Dann bin ich frei – in meiner Fülle festgestellt, und gerade dadurch frei, mich ins Einzelne zu verlieren!»
Es war eine Ahnung von Freiheit, von der Möglichkeit, mich aus der Deckung aufzurichten, hinter der ich mich vor dem Leben verschanzt hatte.
Aber was hinderte mich, diese Freiheit zu ergreifen?
Ich lese am 2. August 1990:
Warum ich Gott nicht lebendig denken kann
«Warum bin ich immer blockiert? Warum komme ich nie zu einer Handlung? Im Halbschlaf hatte ich ein „Aha-Erlebnis“: Es sind nicht einzelne Widerstände, die ich nach und nach abbauen könnte, sodass ich immer näher zur Handlungsfähigkeit gelangte. Meine Widerstände zielen auf das Handeln selbst.
Durch eine Tat würde ich sichtbar, ich würde mich offenbaren, Profil zeigen. Ich wäre definierbar, müsste den Schutz der Unerkennbarkeit verlassen, den Bunker und den Unterstand, den Graben, das Bombenloch, in dem es nur Schlammpfützen gibt. Da möchte man nicht wohnen, aber es ist immer noch besser als „hinaus“ zu müssen, wo die Kugeln pfeifen, wo sich Visiere auf jeden richten, der sich zeigt.»
Es ist die Begegnung mit früh geprägten Ängsten, die verhindern, dass ich mich in der «Gegenwart» einfinde. Ich bin immer auf der Flucht, aber das wird jetzt vom Glauben herausgefordert. Das Leben, das ganz gelebt werden will, nimmt den Glauben zu Hilfe, um aus diesen kindlichen Traumata auszuwandern wie das alte Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten.
Ich lese in einer Notiz vom 31. August 1987:
Die Welt schmilzt auf einen Punkt
«Ich habe diese Ehrlichkeit und diese Abenteuersituation kennengelernt: alles in Frage stellen, alles aufgeben und fahren lassen, ganz hinab tauchen in das, was mir Angst macht, mich umdrehen und dem, was mich blendet, direkt ins Auge sehen. Das Davonrennen aufgeben, mich auf dem Absatz umdrehen, mich stellen.
Alles zittert, alles ist präsent, alles ist Gegenwart, die Welt schmilzt auf einen Punkt zusammen. Den Atem einzuziehen ist ein Ereignis. Es ist die Faszination der Kipp-Punkte: Am Kipp-Punkt wird das Ganze sichtbar. Es ist ein religiöser Moment, insofern als Religion die Teilhabe an der Ganzheit vermittelt.
Am Kipp-Punkt
Es ist das «Thrilling», diese kristallene Echtheit des Lebens am Nullpunkt, wenn es umzukippen droht, wenn das Scheitern in greifbarer Nähe ist. Schon tauchen die ersten Selbstvorwürfe auf, und plötzlich – das Elend des Misserfolgs streckt schon seine Hand aus und will bestätigen „es ist gescheitert“ – plötzlich tut sich eine neue Perspektive auf.
Der Punkt des „Nichts“, an dem das „Alles“ sichtbar wird: Das ist die Lebens-Verantwortung, die Position des Menschen, der sich bewusst ist, dass er ein Leben hat und dass er es zum Gelingen oder Misslingen bringen kann, und dass der erste und wichtigste Schritt zum Misslingen darin besteht, vor seinen Ängsten davon zu laufen, sich in die Unfreiheit der zwanghaften Angstabwehr-Mechanismen hinein zu begeben.
Das verpasste Leben
Ist man da erst mal drin, so laufen im Handumdrehen Jahrzehnte ab. Und kaum hat man Zeit gehabt, sich mal umzugucken, ist man alt geworden, bezieht eine Rente und hat Angst davor, zu entdecken, dass man sein Leben nicht genutzt hat, dass man 30 Jahre lang vor einer Angst davon gerannt ist, einer Angst, die – hätte man sich ihr gestellt – das Leben umgewühlt hätte, das Ganze gebracht hätte, das Gelingen, das Glück, das Dasein, die schneidend reine Atemluft.
Das ist die Höhenluft freier Entscheidung, der Schwindel der Freiheit, aber auch die Tiefe des Vertrauens, das Abstossen aller Angst und Unfreiheit, die die Sicherheits-Mechanismen gegen die Angst in uns aufrichten. Das vertrauensvolle Sich-Fallenlassen-Können, rückwärts in die Tiefe, mit der berauschenden, überwältigenden Gewissheit, AUFGEFANGEN zu werden!
Grenzwanderer
Diese Grenze, wo alles ins Gegenteil umschlägt, lässt sich überall finden. Alles oder nichts, Leben oder Tod, Absurdität oder Sinn, das Ganze oder das Fremde und das Verlorensein: Das findet sich in dem Moment, wo wir aufhören, von unseren Lebensängsten davon zu laufen, wo wir uns umdrehen und dem blendenden Licht ins Auge sehen. Das findet sich in dem Moment, wo wir alles kündigen und das Risiko des bürgerlichen Versagens auf uns nehmen, des Verdikts, ein Versager zu sein, im Alter arm und unversorgt dahinvegetieren zu müssen. Das findet sich im Spiel, wenn alles auf der Kippe steht, das morgige Essen, die ausstehende Miete, der Rausschmiss.
Das findet sich auf der Grenze der Identität, wo die Integration sich als voreilig und vorläufig erweist, mit zu viel Opfern erkauft. Zu vieles wurde über diese Grenze in den Abgrund hinuntergeworfen, geopfert, was notwendig zum Leben wäre. Die Grenze ist aufzukündigen, man wird zum Grenzwanderer: Was ist das dort auf der anderen Seite? Alles trägt dort ein negatives Etikett, alles ist „verworfen“, „unerlaubt“ und „eklig“. Und trotzdem ist es gleichzeitig so anziehend, Leidenschaft erregend: Aggression, Durchsetzen, Lust, Rhythmus, Pulsieren, Wühlen, sich eingraben, sich ausgraben, Nein sagen, Ja sagen.»
Es war die Zeit, man hört es den Sätzen an, als ich von Charles Bukowski fasziniert war, weil er sich radikal seinem Leben stellte.
Wie kann ich das im Glauben leben?
Ich lese die Notiz vom 20. Oktober 1988:
Nicht vom Glauben her, auf den Glauben hin
Es heisst, im Vertrauen auf Gott in die Angst hineinzugehen, aus der Unfreiheit in die Freiheit (das Kreuz auf sich nehmen, wie die religiöse Sprache formuliert), so dass die höchste Unfreiheit in höchste Freiheit umschlägt: im „Ja“ sagen, zu sich und der Situation.
Das Kreuz ist der Ort, wo die Unfreiheit in Freiheit umschlägt. So dass der Augenblick die Fülle wird, der Bruch die Ganzheit; dass die Lebenslust wieder beginnt, aus dem Bauch empor zu sprudeln; dass die Kreativität anhebt, wie beim Anblick einer Klaviatur, eines weissen Blattes Papier, einer leeren Bühne, die auf den ersten Auftritt wartet.
Wahrhaftig
So kann Glaube auch aussehen, so kann er entstehen, so kann er wahrhaftig sein und wahrhaftiger, weil er meiner Situation Rechnung trägt.
Ich habe mich vom Scheitern und der Selbstablehnung so anstecken lassen, dass ich nicht mehr wagte, auch diese Infragestellung auf den Glauben hin zu leben, als Infragestellung, die zum Glauben gehört, als Ausdruck meiner Situation vor Gott.
Ich habe wieder begonnen, in psychologischen Kriterien zu denken, habe meinen Charakter beklagt, meine Lähmung, die innere Dynamik meiner Psyche, die mich versagen lässt.
Wagnis
Ich kann nicht vom Glauben her leben aber auf den Glauben hin. Den Glauben, den man als Ressource für das Leben abrufen könnte, habe ich nicht, ich kann ihn auch nicht aus mir erzeugen. Ich kann die Situation aber auf Gott hin leben. Ich kann sie ins Gebet nehmen, die Situation anschauen, wie sie im Licht des Evangeliums aussieht und dann voll Vertrauen auf die Situation zugehen. Dabei wachsen mir Kompetenzen zu, ich mache Schritte, als ob ich jenes Vertrauen schon hätte, das ich mir erst wünsche.»
Natürlich geht das nicht ohne Rückschläge.
Ich lese in der Notiz vom 26. März 1990:
Geh aus deinem Vaterhaus!
«Meine Verwirrung zeigt, dass ich mich einem neuralgischen Punkt nähere: Ich will Dinge versuchen, die ich nach verletzenden Versagens-Erfahrungen jahrzehntelang umgangen habe. Jetzt könnte ich in meine Ängste hineingehen, Grenzen abbauen, neue Freiheitsbereiche erobern.
Andererseits mobilisiert das eine (für Aussenstehende völlig unproportionale) Versagens-Angst. Sie wundern sich über das Verhalten eines erwachsenen Mannes, der sich so gar nichts zuzutrauen scheint. Doch in mir ist alles Zittern und wie „Gelée“. „Nur weg von hier…!“ Vorderhand tue ich weder das eine noch das andere. Das ist der Ort der Verwirrung und Ungewissheit!
Gehen
Ich muss mich an das Seil binden, das ich selber geknüpft habe: meine Einsichten, wie ich das Leben zum Gelingen bringen kann, obwohl ich täglich mein Scheitern erlebe – im Vertrauen, im Hier und Jetzt. Gott lebt, hier und jetzt. (Ich muss es mir in der Angst vorsagen wie eine Formel; bis ich mich hineinfinde). Ich kann auf ihn vertrauen und das tun, was ich als richtig erkannt habe.
Das ist der heilige Augenblick und der Ort, an dem Gott erscheint. Die Angst will alles in ein fahles Licht tauchen, aber das Licht seiner Gegenwart ist heller. Hier ist Heil; kein Wenn und Aber. Hier ist alles in Gelingen getaucht. Meine Angst will, was mich bedroht, auf das Gegenüber projizieren. Aber Gott will in ihm erscheinen, er löst alle Angst.
Gott blickt auf mich – in seinem Blick wird alles heil, in seinem Blick wird die Welt, wie sie von ihm gedacht ist. In ihm kommt sie in sich selber an. Das ist Ankunft, Advent, Epiphanie. „Ich wusste nicht, dass dieser Ort heilig ist“. „Das ist heiliger Boden, zieh deine Schuhe aus“. „Hier ist das Haus des Herrn“ – hier die Himmelsleiter, auf der Engel auf- und niedersteigen. Eine tiefe Ruhe breitet sich aus.»
Der Glaube versteht sich nicht selbstverständlich. Ich habe die Wahl, wie ich mich und meine Situation verstehen will.
Ich lese in der Notiz vom 8. Juli 1991:
Wie will ich mich verstehen?
«Es gibt im Glauben offenbar eine Phase, wo alle anderen Lösungen nicht mehr überzeugen, wo der Glaube aber auch noch nicht gefestigt ist, so dass die Befindlichkeit unvermittelt in die Extreme umschlägt und zwischen Vertrauen und blanker Verzweiflung hin und her schwankt.
So kann es geschehen, dass ich innerhalb eines Tages einerseits meinen Weg wie selbstverständlich in der „Kirche“ sehe, dann handkehrum alles für verstiegen halte.
Wie soll ich mich verstehen? – Ich habe die Wahl.
Letztlich überzeugt mich nur der Glaube. Zu den alten Versuchen, mich autonom zu denken, mein Leben selber zu verantworten kann ich nicht zurück.
Als ob Er durch meine Landschaft ginge
Und das Selbstverstehen im Glauben funktioniert nur in der Liebesmystik: Es geht nicht, mich als „Subjekt“ zu denken, das glaubt und Jesus nachfolgt. Als Christ und Bürger, der sonntags geputzt und gekämmt zur Kirche geht – die Kinder sind in der Sonntagsschule…
Ich werde ein „lch“ erst, wenn Gott mich anspricht, wenn er „Du“ sagt, wenn er meinen Namen nennt. Oder wenn er sich erweichen lässt, wenn ich mich verzweifelt an ihn hefte – ich kann nicht mehr zurück, mit diesem Kniefall habe ich allen Stolz abgelegt. Wenn er mich von sich stösst, bin ich zutiefst verletzt und verachtet. Doch so berichten die Evangelien nicht von Gott.
„Evangelisch erleben“: sein Erleben sehen, als ob Er da wäre, als ob er durch meine Landschaft ginge, als ob ich bei jenen wäre, die ihn umstehen. Nur so ist beides möglich:
Die Evidenz, die allein aus der Begegnung mit dem eigenen Trauma fliesst. („Ja, so ist es!“ – In aller Verzweiflung gibt es so etwas wie ein Heimatgefühl, ein Wiedererkennen – dieses Land kenne ich, in dieser Landschaft kenne ich jeden Stein!)
Und vertrauen, still werden, ruhig werden, anhalten können – weil Er da ist, der Inbegriff der Wirklichkeit, wo es letztentscheidend um Wahrheit geht, um Gerechtigkeit, um Schönheit, um Liebe, um Ankommen und Hinausgehen.
Zwei Wahrheiten
So ringen zwei Evidenzen miteinander: die Evidenz des Kreuzes, der traumatischen Verletzung. Und die Evidenz der Auferstehung, des Lebens. Und sie können miteinander reden, es ist nicht ein aneinander vorbei reden wie bei den appellativen Ermahnungen, ob diese nun im Namen der Moral, der Ethik oder der Psychologie ergehen: „Ich sollte…“ – Aber ich bin nun mal nicht so, dass ich könnte, was ich sollte… Hier ist einer, der beides durchwandert, Kreuz und Auferstehung, der erst ganz hinabsteigt, bevor er nach oben lockt, der begleitet, nicht fordert.»
Ich kann dem Weg folgen oder nicht,
ich lese in der Notiz vom 25. Januar 2007:
Eine Weg-Wahrheit
«Da spricht Thomas zu ihm: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen? Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen.“ (Joh 14,4f)
Er sagt:
Ich bin die Wahrheit.
Aber nicht abstrakt, sondern als Weg.
Wer sein Leben einsetzt und diesen Weg geht, der findet Wahrheit (auch für sein Leben). Und er findet über den Weg, den Jesus Christus gegangen ist, zum Vater.
So gibt es keine abstrakte Entscheidung über die Wahrheit der Bibel vom Schreibtisch aus. Man findet sie nur auf dem Weg, auf dem man sein Leben einsetzt.
Das kann man bleiben lassen. Wer es aber tut, der findet Leben, Wahrheit, Gott.
Die Wahrheit der Bibel ist eine Weg-Wahrheit. Nicht eine Schreibtisch-Wahrheit.
Die Bibel spricht sich über diese Dinge aus, wenn sie von Pfingsten handelt:
Pfingsten
Glaube hat etwas Existenzielles. Es geht darum, sein Leben jetzt zu ergreifen und sich in dem anzunehmen, was die eigene Situation ausmacht. Es geht um die Aufgabe, die Herausforderung, das Hinaustreten jetzt in diesem Augenblick. Diese Erfahrung des Glaubens hat im Kirchenjahr ein eigenes Fest. Es gehört zu Pfingsten.
Pfingsten lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt des Glaubens: auf den Ereignis-Charakter, auf den Menschen, der diesen Glauben hegt und der in einer bestimmten Situation steht, mit dem ganzen existenziellen Ernst des Lebens. Dabei hilft ihm das Gebet: So kann er sich gleichzeitig machen, sich am Ort einfinden, ganz gegenwärtig werden. So findet er sich «ganz» ein in der Situation und mobilisiert alle Kräfte, die er zu ihrer Bewältigung braucht.
Dann gilt es, diese Situation zu ergreifen, ehe das Zeitfenster vorbei ist. Das Gebet öffnet ein Fenster, es macht die Türe auf zum Tempel. Der Beter stellt sich vor Gott. Das Gebet ist ein Gottesdienst «in nuce.» Er unterbricht den Alltag, gibt ihm Kraft und Orientierung, aber man kann darin nicht verweilen. Der Weg geht hinaus. So ist Pfingsten nicht nur ein Fest im Kirchenjahr. Es unterscheidet sich von Weihnachten oder Ostern nicht nur darin, dass ein anderer Moment im Leben Jesu betrachtet wird. Dieser andere Moment hat auch eine ganz andere Zugangsweise. Er zeigt den Glauben in einer anderen Herausforderung.
Mit seiner Zuspitzung auf den Augenblick der Bewährung bekommt er existenzielle Tiefe. Auch das Leben, das sich diesem Glauben anvertraut, wird «zugespitzt», auf den Moment ausgerichtet. Es verdichtet sich in Aufmerksamkeit und Konzentration und sammelt alle Kräfte, damit der entscheidende Schritt «jetzt» getan werden kann.
Denn um Entscheidung geht es. Das Leben, in einer Pfingstsituation, plätschert nicht in seinen Gewohnheiten dahin, es ist herausgefordert. Hier ist ein Wegkreuz, hier scheiden sich die Wege, hier ent-scheidet sich, wo ein Mensch gehen will und mit welcher Kraft er seinen Weg fortsetzen kann.
Die biblische Situation an Pfingsten gibt es vor: Die Jünger sind allein, Jesus ist gestorben. Im «Geist» ist er ihnen gegenwärtig. Er tröstet sie, aber er fordert sie auch heraus. Er befreit sie aus dem Versteck, in das sie sich nach Kreuzigung und Verfolgung zurückgezogen haben. Er bringt die Erstarrung in Bewegung, löst die traumatischen Ängste und den Bann, den diese über sie geworfen haben.
Jesus schickt die Jünger hinaus, er gibt ihnen eine Aufgabe und sagt ihnen eine Hilfe zu: Ich werde bei euch sein. Ihr seht mich nicht mehr, aber habt Vertrauen. Vertraut auf die unsichtbare Gegenwart Gottes. So werdet ihr alles meistern, was euch auf dem Weg begegnet.
Pfingsten ist Berufung und Sendung, Begabung und Segnung. Es ist die Zusage eines Bundes, der den Schritt in die Zukunft erleichtert. Es ist ein unsichtbarer Bund mit einem unsichtbaren Partner, von aussen ist da gar nichts zu sehen. Da ist nur ein Mensch, allein, der seinem Weg folgt, aber innerlich weiss er sich getragen und geführt. Und wenn ihm auch vieles nicht gelingt, so lässt er nicht davon. Er findet immer wieder Hilfe und Orientierung, indem er sich vor den stellt, der ihm seinen Bund zugesagt hat.
Es ist das Bild eines «erwachsenen» Menschen, wenn man die Pfingstgeschichte psychologisch lesen will. Er ergreift sein Leben und nimmt die Verantwortung an. Jesus, nachdem er in den Himmel enthoben wird, wiederholt an Pfingsten die Zusage, die Jakob nach dem Traum seiner Himmelsleiter empfangen hat: «Siehe, ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.» (Gen 28,15)
Auf manche mag das kindlich wirken, diese Zusage der Geborgenheit für einen erwachsenen Mann. Aber es ist diese Zusage, die ein Erwachsener in sich trägt, die ihn befähigt, den Weg zu gehen, so dass er allein auftritt. Dass er den Moment ergreift, den Ort füllt, an den er gestellt ist. Damit an diesem Ort und zu dieser Zeit gesagt und getan wird, was gesagt und getan werden muss.
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Inhaltsverzeichnis
Religion als Kultivieren urwüchsiger Impulse. 4
Die Mitte. Der Berg. Die Quelle. 5
Wie es begann
Die Frage nach Religion und Glauben kehrte Mitte 30 in mein Leben zurück. Bisher hatte ich mich für ungläubig gehalten. Jetzt ertappte ich mich beim Beten: Ich betete für meine Frau, die beruflich viel mit dem Auto unterwegs war. – Wie konnte ich beten, wenn ich nicht an Gott glaubte?! – Und wenn da etwas in mir war, das glaubte, wie konnte ich das nicht zur Kenntnis nehmen? So kehrte die Frage nach Gott in mein Leben zurück. Und ich begriff: Es war jetzt keine philosophische Frage mehr wie mit 15. Es war eine Frage des Vertrauens. Glaube, so lernte ich später, wird im Neuen Testament mit „pistis“ bezeichnet. Das meint wörtlich eine Vertrauens-Haltung.
Wie stehe ich am Morgen auf?
Die Frage der Religion, die erst nur am Rande aufgetaucht war, rückte immer mehr ins Zentrum. Bald ging es nicht nur darum, ob ich an einen Gott glaube. Es ging auch darum, wie ich am Morgen aufstehe, welche Haltung sich in mir breit macht, bevor ich auch nur einen ersten Gedanken gefasst habe. Ich war kein unbeschriebenes Blatt; bevor ich selber mein Leben zu buchstabieren begann, waren gewisse Texte da schon eingetragen. Ich war nicht frei zu gehen, wohin ich wollte.
Im Rückblick sah ich, dass ich immer wieder durch dieselben Pfade stolperte und immer wieder in dieselben Löcher fiel. Ich war nicht frei in meinem Verhalten. Da gab es Mechanismen, die sich schon einklinkten und die Regie übernahmen, bevor ich mich auch nur gefragt hatte, was ich denn eigentlich tun wollte. Ich folgte vorgegebenen Ablaufsmustern, die schon meine Wahrnehmung steuerten. Und das hatte zu tun mit Angst, Sicherheitsbedürfnis und Vertrauen.
Eine Frage von Liebe und Arbeit
An diesem Punkt spürte ich: Die Frage nach dem Glauben, das ist für mich nichts Äusserliches. Da geht es nicht nur um den Hut, den ich heute trage, sondern um den ganzen Anzug und auch um das, was drin steckt. Denn ob ich vertrauen kann oder nicht – das ist auch die Frage, die mich in meinen Beziehungen beschäftigt und in meinem Verhalten am Arbeitsplatz. Im „Glauben“ wurde diese Frage nur in reiner Form gestellt. Aber es waren dieselben Themen, die mich jeden Tag beschäftigten.
Archäologie
Glauben und Religion hatte ich früher weit von mir weggeschoben. Jetzt durchfuhr es mich: „Das bin ja ich!“ Und von diesem Moment an war der „Glaube“ im Zentrum von all dem angelangt, was mich beschäftigte im Leben. Es war eine neue Formulierung für all die Fragen, die mich seit jeher umgetrieben hatten. Sie erschienen im Gewand eines uralten Wortes, das wie ein Relikt einer alten Kultur aus dem Wüstensand aufragt und von Archäologen ausgegraben wird. Und ich konnte ihm einen Sinn abgewinnen. Ich war neugierig, wie denn die alten Antworten auf meine Fragen passen würden. Dem wollte ich nachgehen.
Nina-Nina
Eine meiner ältesten Erinnerungen ist das „Nina-Nina-Machen“. So nannte es meine Mutter. Offenbar wälzte ich mich als kleines Kind im Bett hin und her, wenn ich aufwachte und mich alleine fand. Die Mutter war in jener Zeit viel im Geschäft. „Machst Du Nina-Nina?“ fragte sie mich, wenn sie kam. Und dann war alles wieder gut. Meine Mutter war da. Und das, was gewesen war, hatte einen Namen bekommen.
Später im Leben erinnerte ich mich daran. Ich wiegte mich nicht mehr im Bett, aber das Gefühl kam mir bekannt vor: dass ich den Kontakt zu mir selber verloren hatte, dass ich wie aus meinem Körper gefallen war. Es war ein Stück von Ekstase. Die wiederum hatte ihre eigene Schönheit. Es war ein wie ein anderer Bewusstseins-Zustand. Mal konnte ich von oben auf mich heruntersehen, wie ich als Kind am Tisch sass und Schul-Aufgaben machte. Mal floh ich in diesen Zustand, wenn ich es im gewöhnlichen Leben nicht mehr aushielt. Ich floh in das Grenzgebiet, befahl meinen Räubern und war dort König.
Schönheit
Es war reine Schönheit. Glück ist etwas für das normale Leben, das stellt sich ein, wenn Wünsche sich erfüllen. Schönheit ist anders. Das denkende und wollende „Ich“, das im Streben nach Glück ganz lebendig wird, löst sich hier auf. Es geht über ins „andere“. Es verschmilzt mit dem Betrachteten. Und alles ist „schön“. Die Dinge verlieren ihre Preisschilder, die sie für das handelnde Bewusstsein haben, da gibt es kein gut und kein schlecht mehr, kein höher und tiefer. Da ist nichts Hässliches mehr. Gerade in den hässlichsten Ecken, wo das Verlassenheitsgefühl am grössten ist, ist es am schönsten. Man muss nur durch das Tor gehen.
Damals hat mich die Schönheit überfallen. Es war der halb-krankhafte Eskapismus eines Kindes, das nie ganz im Körper Platz genommen hat. Es war ein „Aus sich hinausfallen“, aber auch ein Hineingehen in ein Reich der Schönheit. Doch ich verbot es mir, immer wieder, definitiv im Alter um die 25. Ich legte die Gedichte beiseite, die ich geschrieben hatte. Ich verpflichtete mich auf einen Weg „unten“ auf dem Boden. Ich misstraute mir und allem, was ich liebte und was ich gut kannte. So wollte immer auf das zugehen, was mir nicht lag. Ich wollte mir immer das auferlegen, was ich von mir aus nie gesucht hätte. Weil ich spürte, dass der Weg da hindurch führen musste.
Die versunkene Kathedrale
Die Erinnerungen sind undeutlich. Es ist, als ob man durch das Wasser hinabsehen wollte auf den Grund. Von hinten her betrachtet, von dem her, was ich später gelernt habe im Leben, waren das Anfänge von Religion. Aber es war urwüchsig, ohne Gestaltung. Es kam ohne dass man es gerufen hatte. Es ergriff einen und trug einen fort.
Verfallene Ruinen! Sollte da ein Schatz verborgen sein? Auf dem Meeresgrund sind Rundbogen zu sehen – sollten sie zu jener Kathedralen gehören, die nach einer Sage auf dem Grund zu sehen ist, die Kirche einer versunkenen Stadt?
Kann es einen Sinn haben, dass Kinder aus sich selbst herausfallen zu unfreiwilligen „Seelenreisen“?
Kommt dieses Abdriften in die Kontemplation naturwüchsig und wie ein Überfall über die Menschen, oder lässt es sich kultivieren? Gibt es einen erlaubten Umgang damit, der den einzelnen nicht schädigt und die Gemeinschaft fördert?
Das Heben versunkener Schätze
Lassen sich diese Erlebnisse des Kleinkindes reinigen und pflegen? Gibt es aus dem Hinausfallen eine Wiederkehr? – Viele Fragen stellen sich. Es ist die Frage nach einer möglichen Religion.
Kann das Kind eine Mitte finden? Muss der Rausch der Ekstase verboten bleiben oder hat das Schöne ein Heimatrecht in einem recht geführten Leben? Gibt es aus der Flucht eine instruierte Wiederkehr? Ist Ekstase nur Rausch, oder hat sie eine Botschaft? Im Symptom steckt eine ganze Welt mit Himmel und Hölle. Aber lässt sich das mit andern teilen? Ist das ein Weg zum Glauben?
Jähzorn
Leichter zu erkennen sind versunkene Güter, wenn sie sich ins Gegenteil verkehrt haben. So ist es beim Fluchen und beim Jähzorn.
Jähzorn ist ein Schicksal, das durch Familiengeschichten geht wie Trinken oder „ins Wasser gehen“ (wie man früher sagte). Wer davon betroffen ist, sucht Hilfe nicht nur für sich. Er kann es wie einen „Auftrag der Ahnen“ empfinden: dass das endlich zu Ende geht und nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden muss.
Jähzorn gehörte auch zu unserer Familie. Er war ein Muster, das wir gelernt hatten. Wenn etwas uns sehr beschäftigte, konnten wir nicht einfach davon reden, als ob wir ein Recht hätten, eine Meinung zu äussern oder Forderungen zu stellen. Aber wenn wir uns künstlich zornig machten, wenn wir uns innerlich hochschaukelten, dann konnten wir es zornig in den Raum werfen und Türe knallend hinausgehen. Jetzt hatten wir es gesagt! Jetzt sollten sie schauen! In dieser Form war es ein hilfreiches Muster.
Es gab aber auch den Jähzorn, der alle Rücksicht auffrass und bei dem man sich selber vergass. Diese Bilder haben sich in die Erinnerung eingegraben. Wenn ein Jähzorniger in der Wut einen Gegenstand zertrümmerte und scheinbar keine Grenzen mehr kannte – dann lernte man als Kind den Atem anhalten, sich tot stellen, sich verbergen und hoffen, dass der Blick an einem vorbei gehe. Gesehen zu werden hiess, Zielscheibe zu werden. So legte sich schon das Kind eine Tarnkappe zu und lernte, den Körper still zu stellen.
Fluchen
Der Jähzorn sieht mächtig aus und macht Kindern Angst. Gleichzeitig vermittelt er die Botschaft von grosser Ohnmacht. Und die Wut richtet sich gegen sich selber. Das ist vielleicht auch die geheime Befriedigung bei einem solchen Anfall: dass man gegen sich selber wüten kann, dass man das, was man am meisten liebt, vernichtet, weil man selber ja gar nichts wert ist. Man vernichtet es und heult dabei vor Kummer und Verzweiflung.
Bei solchen Zornattacken war auch das Fluchen nicht weit. „Gott …“ schrie ich als Kind und wünschte, dass Gott mich verdammen möge. Auch das ist ein Fund aus der Tiefe. Sollte das aus jener Kirche stammen? Was ist das ursprüngliche Bild, das sich so entstellt hat? Und lässt es sich wiederherstellen? Wie erlöst man ein Leben, das sich selber verflucht?
Religion als Kultivieren urwüchsiger Impulse
Aus sich herausfallen, Ekstase, die Flucht in Schönheit – was mir klar geworden ist über diese vorsprachlichen Lebensdeutungen: „Religion“ werden sie erst, wenn sie kultiviert werden. Dann können sie ihre Wildheit abstossen, ihre Brutalität und das traumatisierende Beiwerk und Blendwerk, das immer wie ein Theater abläuft, wenn ein Flashback erfolgt, wenn die alten Verletzungen wieder auftauchen und die alten hilflosen Abwehr-Versuche einer frühkindlichen Magie.
Als Kind schon habe ich gelernt, „aus dem Körper zu fliehen“. Hier wird das Schöne missbraucht. Kontemplation geschieht naturwüchsig, wie ein Angstabwehr-Mechanismus. Eine ähnliche Funktion haben Suizid-Gedanken, die eine letzte Ausweich-Möglichkeit vorgaukeln. Sie verhindern aber eine wirklich „Einwohnung“ ins Leben.
Religion so scheint es, hat einen bewussten Umgang mit diesen Dingen entwickelt, die bei mir unwillkürlich durchbrechen. Ist da ein Weg, auch diese im Körper verankerten Verhaltensweisen aufzubrechen?
Religion gibt Meditation – statt wilder Kontemplation, Begeisterung – statt wilder Ekstase. In ihr lebt die Sehnsucht nach „Mehr“ in den religiösen Bildern einer langen Tradition – statt in privaten Suchtwegen.
Sie kennt diese Erfahrungen: wie ich an einem „Ganzen“ teilhabe, wie ich mich in die „Mitte“ stellen kann, wie ich Freude erfahre im Gebet – statt diesem reaktiven Aus-der-Welt-Gleiten und Hinüber-Träumen.
Die Mitte. Der Berg. Die Quelle
Ich erinnere mich an ein Bild, das ich als kleiner Junge gemalt habe. Damals, ich weiss nicht, wie alt ich war, habe ich mir unter der Treppe, in jener vergessenen Besenkammer, einen Raum eingerichtet, wo ich malte, bastelte, schnitzte. Es war ein Refugium, herausgelöst aus dem Alltag.
Ich musste nur die Tür aufmachen und war in einem andern Land. Im Dunkel dieser Kammer – sie hatte nur ein kleines Licht – stiegen aus dem Dunkel der Ahnungen Bilder auf, Visionen, wo sich mein Leben verdichtete, wo meine Zukunft Bild-Form annahm, meine Herkunft mich begleitete wie ein Segen aus dem Ursprung, der in seinem Werk präsent ist, der mitläuft auf seinem Weg.
Auf dem Bild – ich habe es Jahre später gefunden und eine Kopie gemacht – sieht man ein Heerlager, viele Zelte im Kreis, in der Mitte ein Berg und darauf eine Burg. Der Berg ist gespalten, aus der Spalte fliesst ein Bach. Er gibt das Wasser für das Lager. Aus der Quelle fliesst es bis zu uns.
Der Weg – ein Glaubenstext
Von Gott her kommt uns jemand entgegen: Jesus Christus.
Im Gebet ist er wie ein „Du“, wir können mit ihm sprechen, jeden Tag:
am Morgen vor dem Aufstehen, am Abend, wenn wir den Tag abschliessen. Er ist da, er begleitet uns, ist mit uns auf dem Weg.
Und er geht uns voraus, er weiss den Weg und hilft uns.
So ist der Weg der Christen ein Nachfolgen. Nachfolgen ist eine besondere Art des Gehens. Es gleicht dem Wandern in den Bergen.
Wer Christus nachfolgt, der macht eigene Schritte, er geht seinen Lebensweg. Und doch kommt er dabei zu einem Ziel, das er aus eigener Kraft nie erreichen könnte. Denn Einer ist vorausgegangen, er hat den Weg gebahnt, er hat einen Weg aufgemacht, wo vorher keiner war.
Wer den Fuss in seine Spur legt und ihm nachfolgt, erreicht das Ziel.
Er geht aus eigener Kraft, und es ist doch nicht sein Verdienst: Es ist Gnade. Denn die Vollendung des Lebens ist das Werk Gottes, so wie der Ursprung des Lebens seine Tat ist. Das macht nicht der Mensch.
Auf seinem Weg finden wir ans Ziel.
Das Ziel unseres Lebens, das müssen wir nicht machen.
Das steht vor uns, wie der Berg am Horizont.
Mächtig steht er da, er verbindet Himmel und Erde.
Dort geht unser Weg.
Es ist ein Bild, es hilft davon reden: ein Bild, wie der Weg zum Himmel führt. Himmel – das ist dort, wo Gott sein Reich aufrichtet, wo es nach seinem Willen geht:
Die Menschen leben in Gerechtigkeit und Frieden.
Ohne Gerechtigkeit und Frieden können wir uns keine lebenswerte Welt vorstellen. Es ist notwendig, damit wir leben und gesund bleiben können.
Immer wieder erleben wir ein Stück dieses Himmels hier auf der Erde,
Immer wieder erleben wir ein Stück der Vollkommenheit.
Aber herstellen können wir es nicht. Wir sind auf dem Weg dazu.
Und der Weg gelingt uns nur, wenn wir jetzt schon von dem leben, was wir anstreben, wenn wir jetzt schon ein Stück von Gerechtigkeit und Frieden erfahren.
Das ist der Glaube. Er ist ein Stück vom Ziel, während wir noch auf dem Weg sind.
Wer glaubt ist wie ein Wanderer in der Natur.
Vor sich sieht er den Berg, er macht ihn nicht, er steht da, mächtig und wunderbar, wie eine Achse im Kosmos.
Wenn der Wanderer sich auf den Weg macht, tritt er in diese Landschaft ein.
Wer sich den Berg zum Ziel nimmt, der ist schon mit dem ersten Schritt in der Landschaft, die zu diesem Berg gehört:
Er lässt die Häuser und Strassen hinter sich, den Lärm
Er tritt in die Stille ein, Vögel singen, Blumen blühen am Weg.
Wer Augen hat dafür, der sieht das Grosse auch im Kleinen.
Er freute sich am Kleinsten. Es ist ja nicht klein.
Es ist von derselben Art wie der Berg, der da vorne in den Himmel ragt. Und vom Berg her kommt uns der Fluss entgegen.
Erst ist es nur eine Quelle, dann wird sie grösser. Sie bringt das Wasser bis zu uns, die wir noch auf dem Weg sind.
So können wir jetzt schon unseren Durst stillen, an dieser Quelle, auch wenn wir noch unterwegs sind.
Im Gebet, im Glauben, erfahren wir immer neue Kraft.
Wir können uns anschliessen an der Quelle.
So gehen wir unsern Weg.
Glauben vor dem Glauben
Glaube ist manchmal unter seinem Gegenteil verborgen. Manchmal wächst er aus kleinen Anfängen. Manchmal scheint er aus nichts zu entstehen.
Ein Mensch, nach seinem Glauben gefragt, erzählt vielleicht von einem Erlebnis aus der Zeit, bevor er den Glauben fand. Und es gehört für ihn zur Glaubensgeschichte. Aber es ist nicht mitteilbar. Der andere, der es hört, findet dadurch keinen Weg zu Gott. Da ist eine Leerstelle, die der Gläubige leicht füllen kann: für ihn ist es Gott, der hier eingegriffen hat. Dem Ungläubigen wird es unbehaglich. Denn er findet nichts in sich, dass er ein solches Wort nachsprechen könnte.
Es gibt eine seltsame Stelle im Brief des Apostels Paulus an die Römer. „Gott kommt unserer Schwachheit zu Hilfe. Wir wissen oft nicht wie wir beten sollen, aber der Geist selber tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“ (Römer 8, 27)
Da tritt Gott an die Stelle des Menschen und nimmt ihm sogar das Beten ab. Der Mensch, der Gott nicht kennt, kann ihn nicht anrufen. So tritt Gott an seine Stelle und betet für ihn und erfüllt ihm auch gleich seine Bitte.
Verdrehte Logik! Und doch wird die Stelle gern zitiert, weil sie eine Erfahrung trifft, die viele Gläubige gemacht haben. Wie soll man auch vom Glauben erzählen, den man hatte, bevor man ihn hatte – nach welcher Logik? Da ist Gott zuerst. Und er leiht dem Sprachlosen seine Sprache, er sieht, was er braucht und nicht sagen kann, weil er in seinem Leid versunken ist. Und er befreit ihn daraus – und erst mit vielen Jahren Abstand tritt dieses Ereignis im Bewusstsein hervor. Es nimmt einen wichtigen Platz ein.
Und gefragt, was denn das wichtigste war in seinem Glaubensleben, sagt der Gläubige vielleicht: Das war damals, als ich mich von Gott und Mensch verlassen fühlte. Ich habe nicht mal gebetet, denn ich kannte Gott nicht. Aber er hat mich gerettet und hat mir das Schönste geschenkt in meinem Leben, für das ich ihm noch heute jeden Tag danke.
Es war keine Quelle zum Glauben, es war kein Grund, um gläubig zu werden. Denn damals wusste er ja nichts davon. Aber später war das Erlebnis eine Quelle von täglichen Dankgebeten. Und so war es vielleicht doch eine Quelle des Glaubens, wenn auch noch versteckt unter dem Gegenteil. Die Freude war noch verborgen im Leiden und der Dank in der Not, die nicht zu bitten weiss.
Manche Menschen halten die Not für die Ursache des Glaubens, sagt Friedrich Hölderlin. Aber die Quelle des Glaubens liege in der Dankbarkeit.
So wäre Danken der Anfang des Glaubens.
Das Danken mag später kommen als der Glaube, aber es ist doch sein Anfang.
Foto: gildo cancelli, pexels
„Wie finde ich eine Glaubenssprache, die der Katastrophe in Tschernobyl gewachsen ist?“ Das war die Frage meiner Schlussarbeit nach dem Theologie-Studium 1992. Anfangs des Millenniums kamen viele verstörende Erlebnisse dazu: der Anschlag von Nine-Eleven, der Amok-Lauf im Zuger Parlament, das Grounding der Swissair, die Klima-Veränderung… Für mich war es auch privat eine schwierige Zeit. Das löste bei mir eine Suchbewegung aus, die sich vielleicht in die Frage kleiden liesse: Wie kann ich in all diesen Infragestellungen vertrauen, von Gott gehalten zu sein? Wie kann ich unsere Kinder in diese Zukunft hineingehen lassen, die so verstellt scheint? Weiterlesen
Aufbruch
Mach dich auf den Weg.
Such deine Ängste auf, dass sie dir nicht weiter in den Rücken fallen.
Schau dem ins Gesicht, was dir im Nacken sitzt. Und mach dich gefasst: Auch das Allerschlimmste, was du dir gar nicht vorstellen kannst, das „Loch“, das alles verschlingt, wo das Denken aufhört und die Panik anfängt – es sieht bei jedem anders aus – auch das wird dir begegnen.
Aber dort im Grenzgebiet, wo du die Kontrolle aufgibst, dort am Fluss, wo du spürst, dass du nur auf die andere Seite kommst, wenn du dich anvertraust, dort wird dir das begegnen, was du brauchst.
Und diese Zuversicht kannst du wie einen Segen mitnehmen, wenn du dich auf diesen Weg machst: „Ich finde, was ich brauche.“
Trauma und Passion
Trauma – das ist heute ein Grossthema. Die „posttraumatische Belastungsstörung“ PTBS beschreibt, was manche Menschen erleben, die eine angstbesetzte Verletzung erlitten haben. Ausgehend von der therapeutischen Arbeit mit Vietnamkriegs-Veteranen wurde das Konzept später auf andere psychische Schädigungen ausgeweitet. In den Medien gibt es heute einen wahren Boom von Trauma-Berichten und entsprechenden Hilfsangeboten. Zu einem Grossthema wurde das Trauma aber auch, weil die Zahl der Konflikte in der Welt zugenommen hat und weil der Ausblick mit den Spannungen zwischen den Machtblöcken und der Klimakrise nicht friedvoller erscheint.
Wer sich mit der Bibel beschäftigt und mit dem frühen Christentum, der wird Elemente des traumatischen Erlebens auch dort finden. Auch in der Antike gab es Krieg und Gewalt. „Passion“ ist zu einem Begriff der Spiritualität geworden. Der Gewalt-Charakter der damaligen Ereignisse ist fast vergessen worden. Wer aber die „Passion“ intensiv meditiert, stösst auf solche Zusammenhänge.
Ich habe als Pfarrer viele Jahre lang Karwochen-Andachten gehalten. Eine Gruppe von Menschen meditiert eine Woche lang die biblischen Ereignisse und verschränkt sie mit den eigenen biographischen Erlebnissen.
Über all die Jahre ist es mir plausibel geworden, dass „Trauma“ nicht nur eine Kategorie ist, um heutige psychische Abläufe zu verstehen, sondern auch, um Teile der Bibel besser zu verstehen.
Auch die Menschen der „Jesus-Bewegung“ haben eine grosse Verletzung erfahren. Auch die Früh-Kirche ist geprägt von Gewalt und Verfolgung. Auch sie kann verstanden werden als eine Gemeinschaft, die sich um ein Trauma schart, wo all die Prozesse ablaufen, die aus solchen Gemeinschaften bekannt sind: reaktiver Rückzug, Angst und Angstabwehr, ein Hinausgestossen-Werden aus einer Rationalität des Alltags in einen Zustand, in dem archetypische Bilder und atavistische Verhaltensweisen wiederbelebt werden, wie Totstellen, Atem anhalten, sich klein und unsichtbar machen (wollen)…
Ein kollektives Trauma, das Identität stiftet
Bei diesem Verständnis helfen mir historische Parallelen:
Marie-Janine Calic berichtet (in der NZZ vom 10. August 2018) über die Situation auf dem Balkan. „Überall in der Region wird Religion vermehrt als Identitätsmarker und Ausschlusskriterium benutzt. Srebrenica – der erste völkerrechtlich anerkannte Genozid auf europäischem Boden nach 1945 – wird als kollektives Trauma einer ganzen Nation verhandelt, das Identität stiftet. Dabei spielt nur noch eine ungeordnete Rolle, was dort genau stattgefunden hat und warum. Entscheidend ist, dass dieses Ereignis als Ursprungserzählung der bosnischen Nation erzählt und erinnert wird, und diese wird exklusiv als muslimisch definiert.“
Das ist interessant für die Bedeutung des Traumas und des „Trauma-Managements“ in der frühen Kirche. Es ist eine Analogie – so wie all die traumatischen Erfahrungen es sind, die es auch heute gibt, unabhängig von der grossen Geschichte.
Sie erzeugen eine Gleichgestimmtheit von Erlebnissen und Erfahrungen. Wer diesen Weg geht, kennt die „oberen“ und „unteren“ Wege, die Bilder der Psyche, die Trampelpfade des Überlebens. Er versteht die mythologischen Bilder samt Höllen- und Himmelfahrt, in denen die frühe Kirche spricht. Er versteht die Werte, die auf den Kopf gestellt sind (die Letzten werden die Ersten sein). Er versteht die Freude am Allerkleinsten, in dem sich das Allergrösste spiegelt. Er versteht das Wunder, das sich in der Stille ereignet, weil das Menschliche sich hier ausgetobt hat wie in den Gewaltorgien von Srebrenica. Und auf den Gräbern ist etwas anderes spürbar, was nicht von Menschen kommt.
Eine Sprache für Passion und Ostern
In Kreuzigung und Verfolgung ist die „Jesus-Gemeinde“ durch ein gemeinsames Trauma hindurchgegangen. Das bindet sie zusammen wie auch alle, die später so etwas erleben. Das gibt ihnen eine Sprache, die jeder versteht, der so etwas erlebt hat, und die niemand versteht, der es nicht erlebte.
Das Trauma ist eine gemeinsame Grundlage für das Verstehen und für das Zusammengehörigkeits-Gefühl über den Tod hinaus. Das Kreuz sei das Symbol der Urkirche, wurde gesagt. An diesem Zeichen erkannten sich die Zugehörigen und sie wurden von Aussenstehenden erkannt. Nicht weil es zwei Striche sind, die ein Kreuz bilden, sondern weil es eine Welt von Bedeutungen und Gefühlen ist, eine Erfahrung von Demütigung und Sterben, ein Gewahrwerden der innersten Gewissheiten, ein Aufblitzen von Freude. Ein Wiederfinden von Schönheit und Wahrheit. Ein neues Leben und eine neue Welt.
Der „innere Altar“
Aufschlussreich ist auch der Roman „Vier Bücher“ von Yan Lianke. Er schildert die grosse Hungersnot 1958 – 62 bei dem „grossen Sprung nach vorn“, den Mao Tse Tung damals befohlen hat, um den Westen in der Entwicklung einzuholen.
„Yan Lianke hat als Realist begonnen, vom Realismus hat er sich längst abgewandt. Damit kommt man der chinesischen Realität nicht bei, meint er. Deshalb wird sie in seinem neuen Roman fragmentiert und zerlegt.“ So heisst es in einer Besprechung des „Tages-Anzeigers“ vom 6. Januar 2018.
Hier zeigt sich der Wandel der Erlebnis- und Erzählweise bei der Verdichtung des Leidens, bis „magische“ und mythologische Bilder auftauchen, die allein imstande sind, die Intensität der Gefühle aufzunehmen (Wüste, Wasser, Höllenfahrt…) und den Betroffenen durch diese Erfahrungen zu geleiten.
Interessant ist auch der Punkt, wo der Autor daran ist, alles zu verraten, was ihm lieb und teuer ist. Die Entwertung, die er erlebt hat, infiziert alles. So lässt er sich selbst im Stich, kollaboriert mit dem Feind – bis er fast sich selbst verliert.
Die einzige Rettung ist, einen „inneren Altar“ zu errichten, einen Ort, der von aussen nicht zu finden und zu zerstören ist, wo er seine Wertschätzung pflegen kann, wo er an dem festhalten kann, was ihm wichtig ist und was den Sinn seines Lebens ausmacht. Und das zu retten heisst in diesem Fall, sich selbst zu retten.
So trägt er sich mit dem Plan zu einem „andern Buch“, das er zunächst nur für sich schreiben will. Das einzige worauf es ankommt: dass es „wahr“ sein soll, dass er dort sagen kann, was er denkt und fühlt und was ihm heilig ist.
Kindheits-Erlebnisse
Der Tod schickt seine Boten weit voraus. Schon in der frühsten Kindheit, schon bei der Geburt wird das Leben bedroht. Schon in der Wiege tauchen Verletzungen auf, die ein Leben prägen und für seine ganze Dauer begleiten können. Zu Leben und Tod gehört auch das „Trauma“.
Das ist eine Form von Verletzung, die auch schon die Heilung mobilisiert. Es ist ähnlich wie bei einer körperlichen Verletzung, wenn die weissen Blutkörperchen eine Infektion bekämpfen, wenn die Blutplättchen das Blut gerinnen lassen, damit die Wunde sich schliesst. So hat auch das Erleben seine Selbstheilungskräfte. So hat auch die Psyche ihre Wunden, zu denen ein ganzes Set von Reaktionen gehört. Diese sind offenbar gattungsgeschichtlich erworben und weitergegeben.
Im Erleben eines Menschen tauchen sie auf. Sie prägen die Wahrnehmung mit Bildern, sie lenken die Reaktion mit Abwehr-Mechanismen. Sie führen auf einen Weg des Wahrnehmens, Fühlens, Handelns, lang bevor Denken und bewusstes Tun einsetzen.
Und das erwachsen werdende Kind, wenn es sein Leben in die Hand nehmen will, stösst auf eine ganze Batterie von eingewachsenen Reaktionsweisen, die zugleich Wahrnehmung und Verhalten prägen. Das Terrain, das es mit seinem Handlungsbewusstsein einnehmen will, ist schon lange besetzt. Und dort finden sich Bilder, die es aus der Kindheit kennt, die sich ihm schon vorbewusst eingeprägt haben.
In Märchen hat man ihm davon erzählt. Und wenn es diesen nachgehen sollte, findet es die Motive schon in alten Mythen und Religionen. Doch hier verschwimmt alles im Geräusch des Uralten, mit dem heute esoterische Geschäfte gemacht werden.
Ein Suchweg beginnt
Wer seinem Leben folgt, findet es in sich selbst. Er macht, ohne dass er das wollte oder einmal für sich beschlossen hätte, einen Suchweg. Er geht durch Tunnels, kommt auf Plätze, wandert durch dunkle Wälder, findet auf eine Lichtung. Er schifft sich ein, gerät in Seenot, fällt über Bord. Das Wasser geht im bis zum Hals, es geht ihm über den Kopf. Er verliert den Boden unter den Füssen und geht unter.
Er tritt eine Reise an ihm Dunkeln. Hier werden Bilder hell, die in der normalen Welt nicht zu sehen sind. Sie leben in einem besonderen Gedächtnis. Jetzt ist ihre Zeit gekommen. Sie zeigen ihm Gestalten, führen ihn einen Weg.
Und plötzlich ist er wieder hinausgeworfen in eine helle Welt. Als ob er neu geboren wäre. Und er nimmt sein Leben wieder auf. Aber jetzt gelingt es ihm besser. Er kann brauchen, was er im Dunkeln erlebte. Es ist nützlich, was er lernte auf diesem Umweg, den er nie freiwillig auf sich genommen hätte, der ihm wie das Unsinnigste erschienen wäre, womit man sein Leben zubringen kann.
Sieh da, der Mensch!
Aus einer Karwochen-Meditation
Wenn Sie die Ereignisse der Karwoche in der Bibel verfolgen, so ist alles dicht gedrängt. Ein ungeheuer dramatisches Geschehen rollt da vor unseren Augen ab. In der Mitte steht der Satz: Sieh da, der Mensch! So sagt Pilatus, als er Christus dem Volk präsentiert.
Sieh da, der Mensch! – Es ist tatsächlich nichts weniger als eine Auslegung davon, was der Mensch ist, was sein Leben ausmacht, sein Verhängnis aber auch seine Rettung.
Die grossen Fragen
Hier werden die grossen Fragen des Lebens gestellt und beantwortet: Wer sind wir Menschen, die so viel Gutes und Schönes erreichen können, aber auch so viel Schlechtes? – Wir möchten so viel erreichen im Leben – was wird, wenn unsere Lebens-Pläne durchkreuzt werden? – Was ist der Sinn? – Gibt es Gerechtigkeit? – Ist das Recht immer mit den Siegern? – Was geschieht mit denen, die auf der Strecke bleiben? – Ist die Geschichte nur eine endlose Spur der Gewalt? – Worauf können wir hoffen?
Die grossen Fragen werden gestellt – aber nicht wie in einem philosophischen Buch beantwortet. Hier wird eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von Jesus Christus. Und wer sich einlässt auf diese Geschichte und auf seine eigene Geschichte, der findet für sich Antwort. –
In einem Psalm heisst es:
„Aus der Bedrängnis rief ich den Herrn an, und der Herr hat mich erhört und befreit. Der Herr ist für mich, ich fürchte mich nicht, was sollten mir die Menschen tun? Ich danke Dir, dass du mich erhört hast und mir zum Retter geworden bist.“ (Ps 118)
Wenn das Leben stillsteht
Was kann die Passion uns sagen? – Auch heute gibt es Passionen. Im Krieg, aber auch mitten im Frieden geschieht es, dass Menschen verletzt werden. Geht diese Verletzung tief, sprechen Psychologen von einem Trauma. Das ist eine Erfahrung, die sich dem Menschen regelrecht einbrennt.
Das Leben scheint stehen zu bleiben bei diesem Augenblick. Und es braucht im späteren Leben nur eine Erinnerung, so ist es wieder da: dieses Gefühl von Erstarrung, Ohnmacht und Lähmung. Und die Reaktion, die damals gelernt wurde, spult sich wieder ab. Die Menschen fühlen sich gefangen in einem ewig gleichen Ablauf.
Die Passionsgeschichte ist die Geschichte eines Menschen, einer Gemeinschaft, die durch ein solches Trauma hindurch gegangen ist – und die Heilung erfahren hat.
In der Kirche wird diese Geschichte immer wieder erzählt. Und immer wieder haben es Menschen als hilfreich empfunden, den Weg durch diese Geschichten mitzugehen. Wer sich darauf einlässt, wer sich aufmacht und Christus auf seiner Passion begleitet, der erlebt etwas. Sein eigener Weg kann sich klären auf diesem Weg.
Indem er die Not Christi betrachtet, findet er Ausdruck auch für die eigene Not. Er kann hinsehen, was geschehen ist. Er sieht ein Licht, dem er folgen kann. Er findet einen Weg, der zu einem neuen Leben führte. Darum erzählen Christen immer wieder die Passions-Geschichte, nicht weil sie Freude am Leiden hätten, sondern weil es im tiefsten Grund eine Heilungsgeschichte ist.
Die starken Gefühle
Man könnte die Passion auch beschreiben anhand der Gefühle, die in ihr auftreten.
Gefühle gibt es viele in der Passionsgeschichte: Da sind Enttäuschung, Angst, Bitterkeit, Empörung, Beschämung, Wut, Ohnmacht. – Nicht nur Jesus Christus ist betroffen, viele Menschen stehen an seinem Weg. Da sind Freunde und Gegner, und da ist Neid und Missgunst – aber auch verletzter Stolz und der Wunsch, es jemandem heimzuzahlen.
Es sind starke Gefühle, die da angesprochen werden. Sie gehören zum Leben, wie die schönen Gefühle. Aber von ihnen spricht man selten. Wenn wir so etwas empfinden, dann verstecken wir es. Wir lassen sie nicht zu. Und wenn uns doch etwas trifft von diesen Gefühlen, dann kann es uns aus der Bahn werfen. Angst oder Ohnmacht – wir „kauen“ oft tagelang darauf herum.
Gefühle wie verletzter Stolz oder Vorwürfe – das können wir ein halbes Leben mit uns herumtragen. Sie lassen uns keine Ruhe. Sie verletzten immer wieder aufs Neue, wenn sie aufsteigen. So kann ein Leben regelrecht verbittert werden. – Bis wir irgendwann zu Rande kommen damit. Dabei kann uns die Passion helfen.
Spott und Hohn
In der Passion wird der Leidensweg Jesu erzählt. Die Leute strömen zu ihm, er hat grossen Zulauf, aber da stehen mächtige Gegner gegen ihn auf. Sie suchen, wie sie ihm etwas anhängen können. Schliesslich bringen sie ihn unter einem Vorwand vor Gericht. Er wird verhaftet und eingesperrt. Seine Anhänger kriegen es mit der Angst zu tun. Er muss zusehen, wie immer mehr von ihm abfallen. Auch engste Freunde gehen. – Es wird einsam neben ihm.
Die Soldaten treiben ihren Spott. Sie verbinden ihm die Augen und spucken ihn an: „Weissage mir, wer es gewesen ist!“ Sie setzen ihm eine Dornenkrone auf und verneigen sich: „Heil dir, König der Juden!“ … Sie kennen die Geschichte. Ja, da sind starke Gefühle. Da ist die Wut der Verfolger. „Kreuzige ihn!“ rufen sie. – Eine solche Wut lässt sich gar nicht begreifen. Wie hat er das verdient? –
Da ist die Scham des Verfolgten. Vor allen Leuten wird er blossgestellt. Er wird verspottet und ausgelacht. Jeder kann ihm einen Tritt geben, der will. – Wer so vorgeführt wird, der möchte am liebsten im Boden versinken. So weiterzuleben, scheint ihm ganz unmöglich. Er glaubt, nie mehr den Kopf heben zu dürfen im Leben.
Wir begreifen das Gefühl der Ohnmacht, so ausgeliefert zu sein. Die Menschen um Jesus getrauen sich nicht, einzugreifen. Und die Ohnmacht stachelt ihrerseits die Wut an. Man möchte es den Gegnern heimzahlen.
Verknotet zu unlösbaren Konflikten
So läuft es oft in der Welt und auch heute. So werden Knoten geschürt, die nicht mehr aufgehen. Wut stösst auf Wut und Gewalt auf Gewalt. Es entstehen Konflikte, von denen man immer wieder in den Nachrichten hört. Kein Mensch sieht, wie ein Ausweg möglich sein soll. Ganze Konfliktgebiete gibt es auf der Erde, wo kein Friede einkehrt.
Hier in der Passion ist es anders. Hier ist es anders, weil Gott sich einmischt. Er gibt dem Opfer Recht. Er vergisst ihn nicht: ihn, der gedemütigt am Rand verscharrt wurde. Er hebt in ins Licht. Er macht es zu seiner Sache. Er hebt ihn zu sich empor. Und er setzt das Opfer zum Richter ein, so sagt es der Glaube. Er wird wieder kommen, am Ende der Zeit, und Gericht halten. Da kommt alles vor seinen Thron. Er sieht alles an, damit es Gerechtigkeit gibt – Gerechtigkeit in der Welt, Gerechtigkeit für jedes Leben.
Das verletzte Recht wird geheilt
Das ist der Glaube der Jünger. Das ist das Vertrauen von Ostern. Weil sie auf Gott vertrauen, nehmen sie es nicht in die eigene Hand.
Der Apostel Paulus sagt: Rächet euch nicht selbst, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein, spricht der Herr. Ich will vergelten. Darum lasse dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer 12, 19)
Darum, die Christen, wenn sie etwas haben, das sie beschäftigt, dann übergeben sie es Gott. Mein ist die Rache spricht der Herr. Sie übergeben ihm ihre Wut, dass er etwas daraus mache, ihre Enttäuschung, ihren Schrei, dass das nicht sein darf!, ihren Wunsch nach Vergeltung. Und sie erfahren im Glauben, dass Gott es aufnimmt. Er lässt Jesus nicht im Grab. Er bringt ihn ins Licht und zu Ehren. –
So zu glauben, das haben die Christen bei Jesus gelernt. Denn er hat selber so auf Gott vertraut und in diesem Vertrauen sein Leben angenommen. Als er verhaftet wird, greift ein Jünger nach dem Schwert. „Steck es zurück! Ruft er ihm zu: Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.“ (Mt 26,52) Er will das Unrecht nicht heimzahlen. Eines seiner letzten Wort am Kreuz ist: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,33)
Ein Weg
So hat er uns einen Weg geöffnet, wie wir mit Schuld umgehen können: Es ist die Vergebung. So hat er einen Türe aufgemacht, wie wir aus Sackgassen herausfinden: weil wir glauben dürfen, dass auch wir Vergebung finden. Und dass wir ganz und gar angenommen werden, selbst wenn wir uns verirrt haben und falsche Wege gegangen sind in unserer Passion.
Er zeigt uns, wie wir mit starken Gefühlen umgehen können, auch mit Scham und Blossstellung: im Vertrauen auf Gott, der sich niederbückt zu den Gedemütigten und sie aufrichtet, und der ihnen sagt: „Du bist teuer in meinen Augen und wertgeachtet, ich habe dich lieb!“ (Jes 43, 4)
Die Passionsgeschichte lehrt uns, auch in den schweren Zeiten unseres Lebens das Vertrauen auf Gott aufrecht zu erhalten.
Gott ist gerecht. An dieser Überzeugung dürfen wir festhalten. –
Gott ist gerecht – auch wenn wir manchmal verzweifeln möchten am Leben.
Gott ist gerecht – dieser Glaube gibt Kraft, den Weg zu gehen. Er lehrt uns eine gute Haltung, er leitet uns richtig an bei unseren Entscheidungen. Auch unser Leben kommt ans Ziel. Gott steht zu uns, er führt uns und begleitet uns. Es gibt eine Gerechtigkeit auch für uns und unser Leben.
Der Suchweg geht weiter
Wer seinem Leben folgt, der macht, ohne dass er das wollte oder einmal für sich beschlossen hätte, einen Suchweg. Er geht durch Tunnels, kommt auf Plätze, wandert durch dunkle Wälder, findet auf eine Lichtung. Er schifft sich ein, gerät in Seenot, fällt über Bord. Das Wasser geht im bis zum Hals, es geht ihm über den Kopf. Er verliert den Boden unter den Füssen und geht unter.
Er tritt eine Reise an ihm Dunkeln. Hier werden Bilder hell, die in der normalen Welt nicht zu sehen sind. Sie leben in einem besonderen Gedächtnis. Jetzt ist ihre Zeit gekommen. Sie zeigen ihm Gestalten, führen ihn einen Weg.
Und plötzlich ist er wieder hinausgeworfen in eine helle Welt. Als ober er neu geboren wäre. Und er nimmt sein Leben wieder auf. Aber jetzt gelingt es ihm besser. Er kann brauchen, was er im Dunkeln erlebte. Es ist nützlich, was er lernte auf diesem Umweg, den er nie freiwillig auf sich genommen hätte, der ihm wie das Unsinnigste erschienen wäre, womit man sein Leben zubringen kann.
Aber hier, in diesem Dunkel, in diesem Umweg, in dieser Reise durch den Nahbereich des Todes, in diesem Versinken im Strudel, gegen den alle Angst sich wehrt, hier hat er etwas gelernt, was alles Tun und Wollen ihn nicht lehren könnte. Er könnte es nicht steuern, aber es gibt einen Führer, den er auf diesem Weg mitnehmen kann: das ist das Vertrauen, damit er die Sicherheit loslassen kann. Die Sicherheit hält ihn fest, er will dann alles unter Kontrolle halten. Und ganz sicher will er nicht in das hineingehen, was ihm Angst macht. Aber gerade dort ist der Weg. Gerade dort hindurch muss er gehen.
Und dort, wo er ein Leben lang dachte, sei der Strudel, das Loch, in das er sicher nie mehr hineinfallen wollte – das war sein Lebensplan – dort zeigt sich ihm jetzt die Mitte. Und später, wenn er im Leben wieder einmal dahin gelangen möchte, ist dieser Ort nicht mehr umstellt mit feurigen Flammen und eisigen Kanälen. Jetzt ist eine Tür da, wo nie vorher eine Tür war. Jetzt kann er hindurchgehen. Und sie öffnet sich in einen Garten.
Und er kann eintreten in den Garten, in die Stille, und er erlebt sich im Einklang.
Wo das Loch war seiner frühesten kindlichen Verletzungen, ist jetzt eine Mitte, in der er sich einfinden kann. Wo Verhaltensweisen sein Leben bestimmten, das andere nur als pathologisch einstufen konnten, eröffnet sich neue Freiheit.
Er hat, was seine Psyche als Verletzung empfing, umgewandelt. Etwas ihn ihm hat geholfen, als ob die Psyche eine Selbstheilungskraft hätte. Er hat es kultiviert, was anfangs naturwüchsig in ihm ablief. Er hat zur Religion gefunden, zum Glauben.
Er hat Vertrauen gelernt, zu andern Menschen, zu sich selbst, zum Dasein. Er kann auf andere zugehen, kann die reaktiven Mechanismen abbauen. Es ist, als ob die Blume im Garten, die immer nur kümmerliche Blüten trieb, sich verwandelt hätte. Sie hat Farbe angenommen, sie reckt sich in die Höhe. Sie nimmt das Licht und die Wärme auf. Dann lässt sie die Blätter fallen und Samen erscheinen, die mit dem Wind über die Wiesen treiben.
Foto von Reza Nourbakhsh. Pexels
Mit dem Knie glauben
Kann man mit dem Knie glauben? – Die Frage scheint absurd. Umgekehrt ist es aber so, dass der Unglaube durchaus im Körper sitzt. „Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren“ sagt man, oder „die Angst sitzt mir im Nacken“. Das Herz setzt aus, die Glieder sind wie gelähmt.
Nicht glauben können, die Unfähigkeit zum Vertrauen, die Verzweiflung – das sitzt auch im Körper, in den Muskeln, die verspannt sind, im Atem, der stockt, das sitzt in den Knochen. Und von dort her prägt es immer wieder unsere Gefühle und unser Verhalten. So stellt sich wirklich die Frage: Kann ich mit dem Knie glauben lernen? Kann ich dem Nacken das Evangelium verkünden, dass die Angst dort loslässt?
Der Körper speichert Erfahrungen aus der Lebensgeschichte. Und er speichert auch die Reaktionen, die wir in bestimmten Momenten gefunden haben. So muss nur eine bestimmte Frage an uns herantreten, eine bestimmte Situation, und schon spulen diese Reaktions-Mechanismen ab. Und wir kommen zu spät, wenn wir bewusst darauf reagieren wollen. Die Situation ist schon entschieden.
Die Haltung beim Aufwachen
Das beginnt schon am morgen früh, wenn wir aufwachen. Im Kopf haben wir vielleicht schon lange zum Glauben gefunden, aber der Körper speichert noch die alten Erfahrungen. Und bevor wir bewusst den Tag anfangen, mit Bibellektüre, oder was zu unserem persönlichen spirituellen Leben gehört, steigen die alten Gefühle schon aus dem Körper auf und bestimmen die Haltung, wie wir in den Tag gehen.
Diese Gefühle sind von Mensch zu Mensch verschieden. Ein glücklicher Mensch wird mit Gefühlen der Bejahung aufwachen. Es gibt andere, die so etwas wie ein „Nein“ in sich tragen. Sie fühlen sich schon abgelehnt, bevor sie den Tag beginnen und dem ersten Menschen begegnen. Darum ist das auch ein sehr persönliches Thema: „Körper und Spiritualität“. Denn konkret wird es erst, wenn man sich der Realität seines Lebens stellt. Der Körper trägt in sich eine Erinnerung an die ganze Lebensgeschichte. Er erinnert uns mit seinen Empfindungen daran.
Den Keller aufräumen
Er mahnt uns damit auf eine unaufdringliche aber doch hartnäckige Art, unser Leben durchzuarbeiten. Denn wenn wir es nicht tun, stolpern wir immer wieder über die gleichen Erfahrungen. Es ist wie im Dunkeln durch einen Keller gehen: Wenn man den Keller nicht aufgeräumt hat, stösst man sich bei jedem Schritt.
Den Keller aufräumen, das Leben durcharbeiten – man könnte auch sagen: missionieren. Zwar ist unsre Landesgegend in der späten Antike durch das Christentum missioniert worden, aber manchmal denke ich, das Christentum ist noch nicht ganz bis zu mir gekommen. Mit dem Kopf habe ich es schon aufgenommen. Aber mit dem Körper noch nicht. Und es entsteht das Bild einer Mission, die auch durch den Körper geht. Damit ich später auch mit den Knie glauben kann und der Nacken mir nicht immer wieder Streiche spielt. Dass der Körper mit seinen Erfahrungen mich unterstützt im Glauben, statt mich immer wieder auf andere Bahnen zu bringen.
«Christus kam nur bis Eboli».
So heisst ein Buch, das beschreibt, wie das Evangelium nach Italien kam, aber es hat noch nicht alle Provinzen erlöst, so dass die Menschen dort immer noch in Dunkelheit und Verzweiflung leben. Auch bei mir gibt es noch heidnische Gebiete. Mit dem Kopf habe ich schon vom Evangelium gehört. Aber mit dem Knie bin ich noch ein Heide.
(Aus einem Workshop, das ich an einem Pfarr-Kapitel 2008 halten durfte)
Der Körper als Freund und Gegenspieler
Manchmal können wir uns so verhalten, wie wir möchten, manchmal nicht. Und es scheint wie vertrackt, dass wir beim besten Willen nicht können, wie wir möchten. Wer einige Jahre mit sich unterwegs ist, kommt sich selber auf die Spur. Offenbar gibt es Muster, die immer wieder ablaufen und die aus früher Kindheit stammen. Es ist nicht leicht, diese umzuprägen. Offenbar sind es Fehlanpassungen an eine Kindheitswelt, und sie lassen uns immer noch so reagieren, als ob wir in jener Zeit lebten. Wenn wir diese Charakterprägungen umprägen könnten, würden sie uns helfen, statt uns zu behindern.
Der Körper als Gegenspieler
Der Körper verfügt über Reaktionsweisen, die in früher Kindheit gelernt werden. Z.B. versucht ein Mensch bei einer verletzenden Erfahrung den Schmerz abzuwenden, er versteift die Muskeln, atmet flach. Es erinnert an einen Totstellreflex.
Das wird zu einem Angstabwehr-Verhalten, das später selbsttätig abläuft und sich bei einem bestimmten Reiz reaktiv einklinkt. Die bewusste Verhaltenssteuerung kommt hier immer schon zu spät.
Das macht das Demütigende solcher Erfahrungen aus, dass man sich als unfrei erlebt, ohnmächtig, wie ausgeliefert an ein dunkles Schicksal, das aber nicht über einem lauert, sondern das man wie einen Kern in sich selber trägt. Und man hat das Gefühl, dass man im Leben immer wieder in dieselbe Falle trampelt. Man möchte an seinem Leben verzweifeln, ob man es noch zu einem guten Ende bringt.
Der Körper als Helfer
Auf der anderen Seite gibt es Erfahrungen, in denen der Körper sich nicht als Gegenspieler zeigt, sondern als Helfer, weil er auch die Gefühle aus «guten Zeiten» wiederbeleben kann.
Für mich war es eine Aufbruch-Zeit, als ich im ersten Studium für eine Zeitung zu arbeiten begann. Viele Dinge haben sich damals geordnet: Endlich stellte sich etwas Erfolg ein. Ich verdiente etwas Geld, konnte unabhängig werden von den Eltern. Das tat meiner Selbstachtung gut, ich konnte eine Beziehung eingehen.
An diese Zeit habe ich mich später erinnert, in einer Phase grosser Demütigungen. Aber die Erinnerung weckte nicht Bedauern, was ich verloren hatte. Die Erinnerung weckte die Empfindungen in mir aufs Neue, so dass ich wirklich besser auftreten konnte auf der Strasse. Ich hatte ein besseres Auftreten vor den Menschen. Ich konnte mich besser achten, als ich es eben noch tat.
Nicht nur die Gefühle wurden also wiederbelebt, auch die Haltung, die ich damals im Leben empfand, konnte ich wieder neu aktivieren und als Quelle für die Bewältigung meines Alltags in dieser Zeit anzapfen.
Die meisten Menschen kennen das aus ihrem Leben. Und die meisten Pfarrer nutzen das auch in der Altersarbeit: dass man mit den Menschen zu bestimmten biographischen Erfahrungen zurückgeht, wie zu einer Quelle, und dort an der Tankstelle die Energie zapft, die sie heute brauchen für ihren Weg.
Der Körper hat ein eigenes Gedächtnis.
Dieses ist mitbeteiligt an der Art, wie wir Situationen wahrnehmen und wie wir reagieren. Es bestimmt, wie wir uns selber als Person empfinden und wie wir in die Welt hinausschauen: So kann aus dem Totstellreflex, mit dem wir eine traumatische Erfahrung überstanden haben, ein Gefühl von Lähmung, Ohnmacht und Depression aufsteigen. Und aus der Erinnerung an eine glückliche Phase fliessen uns Quellen zu, von denen wir gar nichts wussten.
Sakramente
Damit wäre auch schon ein Programm skizziert: Es ist die Frage, wie wir negative Prägungen aufheben oder um-modeln können. Und wie wir vermehrt solche Tankstellen in uns verankern.
Damit ist auch die Frage der Sakramente angesprochen. Diese können uns auf dem Glaubensweg helfen, weil sie eine sinnliche Dimension enthalten. Alles Sinnliche, das eine Erfahrung begleitet, hilft, das Erfahrene im Körpergedächtnis abzuspeichern. Hier wird also das Körpergedächtnis als Hilfe eingesetzt. Es kann später wieder angezapft werden wie eine Quelle. Mit der Erinnerung werden auch die Haltungen wieder verfügbar und die Handlungsweisen, die diese erschliessen.
(Diese sinnliche Dimension des Sakraments wurde früher bewusst eingesetzt, um das Körper-Gedächtnis im Sinn des Glaubens zu prägen. – Wenn in der Antike ein Adept in einen Kult eingeführt wurde, so wurde die Initiation so gestaltet, dass sie sich der Erfahrung möglichst einprägte. Der neue Glaubensgenosse wurde durch gewissermassen „geimpft“. Das half ihm später auf dem praktischen Lebensweg, gemäss seinem Glauben auch zu leben.)
(Aus einem Workshop, das ich an einem Pfarr-Kapitel 2008 halten durfte)
Können Gedanken praktisch werden?
Dass wir im Glauben, in der praktischen Frömmigkeit, nicht am Körper vorbei kommen, das ist nichts Neues. Die Glaubenspraxis hat hier vieles aufgenommen, was in der Therapiebewegung der letzten Jahrzehnte erarbeitet wurde.
Schon bald nach Freud gab es Therapeuten, die seine Analyse als „Rede-Kur“ verstanden und nach wirkungsvolleren Mechanismen suchten, auf die Seele einzuwirken. So entstand eine körperorientierte Psychotherapie (Wilhelm Reich, Alexander Lowen und viele andere).
In den 80er Jahren gab es in der philosophischen Ethik eine analoge Diskussion. Auch dort war man unzufrieden mit einem Ansatz, der nur über den Intellekt auf das Verhalten der Menschen zugreifen wollte. Der Vernunft wurde nicht zugetraut, das Verhalten zu bestimmen. Beispiele aus der Geschichte liessen ausserdem skeptisch werden gegen den Rigorismus einer Vernunftethik. So suchte man den Zugang über Institutionen, die sich nicht nur mit Normen an den Intellekt richten, sondern diese Werte bereits verkörpern. Damit können diese der neuen Generation auf eine Weise vermittelt werden, damit diese auch „können, was sie sollen“.
So kam es damals zu einer neuen Auseinandersetzung mit ethischen Konzepten, die nicht die «Moralität» der Gesinnung, sondern die objektive „Sittlichkeit“ in den Mittelpunkt stellten. Das Appellieren an Normen kommt immer schon zu spät. Die Menschen müssen auch in die Lage versetzt werden, demgemäss zu handeln. Das geschieht in der Sozialisation und Enkulturation, in der Erziehung, in der biographischen Prägephase. Die Ethik kann sich also nicht nur mit Normen befassen, sondern muss auch die Frage der Erziehung, der Familie, des rechten Staates etc. klären.
Der Fluss und das Flussbett
Zwischen den Normen und dem Verhalten stehen die Institutionen, die das Verhalten lenken. Sie sind wie ein Flussbett. Ist dieses einmal geprägt, kann man den Lauf des Flusses nicht ändern, mit allem Aufwand nicht. Will man, dass er anders läuft, muss man etwas am Flussbett ändern, d.h. an den Institutionen.
Ein solches Flussbett sind auch die Körper-Erinnerungen. Jetzt lässt sich das anders formulieren: Diese Erinnerungen sind Institutionalisierungen des Verhaltens, es sind Reiz-Reaktions-Schemata. Diese lenken nicht nur das Verhalten im Alltag, sie sind auch an biologischen Reifungs- und Werde-Prozessen beteiligt, wie bei der Geburt (oder beim Sterben). Sie steuern die Transformations-Prozesse, die wir in unserem Leben durchmachen, z.B. die Pubertät, die Wechseljahre, das Altern…
Diese Prozesse sind für unser Leben zentral. Es ist wichtig, dass sie gelingen. Aber mit dem bewussten Verhalten haben wir darauf kaum Zugriff, es sind Dinge, die „wie im Traum“ geschehen (die Träume geben uns Hinweise darauf, was im Tun ist). Wir müssen und können uns ihnen überlassen.
Stanislav Grof hat viel interessantes Material dazu beigetragen, wie solche Prozesse gesteuert werden. Für uns interessant ist es, weil er die Erfahrungen mit religiösen Mythen verbindet, die Ähnliches zur Sprache bringen. Er versucht, die Herkunft gewisser mythischer Bilder in einer konkreten Erfahrung zu verankern. Oder umgekehrt: Die Mythen werden als kollektive Bilder für Erfahrungen gesehen, die alle Menschen in gewissen Transformations-Prozessen machen, z.B. bei der Geburt.
(Aus einem Workshop an einem Pfarr-Kapitel 2008)
(Die angesprochene Debatte der 80er Jahre ist zusammengefasst in dem Buch „Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik“. Hg von Wolfgang Kuhlmann, Ffm 1986.)
Verstrickt
Das Verhalten kann sich «verkrusten» in äusseren Strukturen. Dann ist es kaum mehr zu ändern. Die Handlungen folgen dem Muster, das die Strukturen vorgeben, obwohl der Mensch inzwischen anders handeln will. So kann sich das Tun eines Menschen gegen ihn selber richten. Die Freiheit wird aufgehoben durch die Freiheit selbst. Und der gute Wille allein genügt nicht, wieder daraus hervorzukommen. Das lehrt nicht nur die Therapiebewegung, das ist auch eine Erfahrung in den grossen zivilisatorischen Krisen dieser Zeit. Diesem Gedanken bin ich in einem Gottesdienst zum Bettag nachgegangen.
Der Bettag in seiner heutigen Form ist nicht von Kirche und Pfarrern begründet worden, sondern vom Staat. Wenn eine Notzeit war, rief die Obrigkeit die Untertanen auf, zu Gott zu beten, damit er das Unheil abwende.
Beten auf Geheiss der Regierung
Dass das auch heute noch geschieht, haben wir diesen Sommer erlebt. Als es in Polen so stark regnete, forderte die Regierung die Bevölkerung zum Gebet auf. Und als das Feuer in Griechenland monatelang wütete, sprach die Regierung von einer „von Gott gesandten Plage“.
In der Presse ist das nicht gut aufgenommen worden. Wenn man Fehler gemacht habe, könne man sich nicht hinter Gott verstecken. In Griechenland habe der Staat versagt. Die Wälder wurden vernachlässigt, hiess es. Der Abfall blieb liegen und geriet in Brand. Ähnlich in den Überschwemmungs-Gebieten: Man habe Häuser in Risiko-Gebiete gebaut. Wenn diese überschwemmt würden, dürfe man nicht der Natur die Schuld geben.
Es sieht aus wie Natur
Tatsächlich kann man sich fragen, ob das „Natur“ ist, wenn Überschwemmungen wüten. Erinnern Sie sich an das Reaktor-Unglück von Tschernobyl? 1986 hat sich im dortigen Kernkraftwerk ein Unfall ereignet. Grosse Mengen radioaktiven Materials wurden in die Luft geschleudert. Danach konnte man am Fernseher verfolgen, wie sich die radioaktiven Wolken über Europa verbreiteten. Es sah aus wie „Natur“, es glich der Wetterkarte im Fernsehen, aber es war mensch-gemacht.
Als die Radioaktivität einmal freigesetzt war, konnte man sie nicht mehr kontrollieren. So dehnte sich die Tschernobyl-Wolke mit naturwüchsiger Gewalt über die Länder aus, dennoch war der Ursprung technisch. Es war eine Art Mischprodukt aus Naturgewalt und menschlicher Technik, eine „zweite Natur“. Aber die Schuld lag nicht bei der Natur, sondern beim Menschen.
Ähnlich ist es mit der heutigen Klimaveränderung. Sie geht auf menschliche Ursachen zurück, auch wenn die Folgen wie „Natur“ aussehen: wenn Wolken aufziehen, wenn es regnet. Das sieht aus wie die alte Natur, an die die Menschheit seit Jahrtausenden gewohnt ist. Aber es ist etwas Neues.
Das Fehlverhalten verdichtet sich manchmal zu einer „Zweiten Natur“ und spult sich dann ab, losgelöst von dem, was man will, und trotz des Widerspruchs, den man vielleicht einlegen möchte. Aber das System hat sich verselbständigt.
Die Freiheit des Menschen ist nicht aufgehoben, sie steckt da drin. Die Zweite Natur ist die Verkrustung alter Entscheidungen, es ist das alte Kleid, das wir uns selbst geschneidert haben, es sind die Schuhe, die früher passten. Aber heute passen sie nicht mehr, und wir müssen unsere Füsse in Schuhe zwängen, die drücken und beim Gehen schmerzen.
Verstrickt und lahm gelegt
Das ist nicht nur eine moderne Erfahrung. In der Bibel gibt es ein 2000jähriges Nachdenken über den Menschen: was ihn ausmacht, wie er lebt, was es braucht, dass es gut kommt im Leben und woher die Fehler kommen, die den einzelnen treffen, aber auch die ganze Gemeinschaft.
Im Verlauf dieser 2000jährigen Geschichte sieht man so etwas wie eine „Schuldvertiefung“. Anfangs drehte sich das Denken um die Fehler, die man im Moment macht. Wo ein böser Wille ist, geschehen auch schlechte Taten. Dann aber sah man, dass jene Fehler oft noch viel schlimmer sind, die beim besten Willen geschehen, wo wir aber wie verstrickt scheinen, so dass das Ergebnis doch schädlich ist für den einzelnen und für die Gemeinschaft.
Um diese Situationen zu bereinigen, braucht es nicht nur Vergebung, es braucht Heilung. Die Verstrickung selbst muss aufgehoben werden, die sich auch gegen den neuen, veränderten Willen des Menschen immer wieder durchsetzt. Der einzelne Mensch muss geheilt werden, die Gemeinschaft und die Natur des Menschen, die sich zu einer zweiten Natur gewandelt hat.
In der Zweiten Natur stecken die alten Taten des Menschen, aber sie haben sich verewigt, die neuen Taten kommen nicht dagegen an. Der beste Wille nützt nichts, man begeht Fehler. Wir werden objektiv schuldig, auch wenn wir subjektiv der besten Gesinnung folgen.
Der Bach gräbt sich sein Bett
Es ist wie ein Bach, der den Berg hinunter fliesst und sich einen Weg bahnt. Er gräbt sich selber ein Bett, wo er fliessen kann. Am Rand lagert er das Geröll ab. Zwischen diesen Ufern fliesst er. Zuerst ist es der Bach, der sich das Bett gräbt, aber später ist es das Bett, das bestimmt, wo der Bach fliessen kann. – Wer Herr ist und wer Knecht, wer befiehlt und wer gehorcht – das hat sich verkehrt. Wenn man der Welle sagt, ich will nach links, nützt das nichts. Man müsste das ganze Bachbett neu graben, um neue Wege möglich zu machen.
Diese Einsicht findet man auch im ersten Testament. Da klagen die Menschen: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne stumpf“ (Jer 31,29 und Ez 18,2). Die Vorfahren haben die Umwelt belastet, die Kinder baden es aus.
Mit dieser Einsicht vertieft sich auch das Nachdenken, was denn nötig ist, um einen neuen Weg möglich zu machen. Vergebung allein reicht wohl nicht, es braucht mehr.
„Gib uns ein neues Herz!“ beten die Israeliten zu Gott. Nimm uns das steinerne Herz, das tut, was wir nicht wollen. Gib uns ein fleischernes Herz, so dass wir tun können, was richtig ist, statt dass wir uns abmühen und ohnmächtig zuschauen, wie das Verkehrte entsteht. Und wir werden schuldig beim besten Willen!
Aus einem Bettags-Gottesdienst 2007
Zeichen und Worte
Was helfen Sakramente? Ich fange hinten an, bei den Erfahrungen, nicht vorne, mit einer Sakramenten-Lehre. (Als Pfarrer sind wir vielleicht ein Stück weit verbildet, weil wir immer wieder von der Antwort her feiern und kaum dazu kommen, den Weg selber zu finden.)
Wir Menschen kennen die Empfindung – es ist uns vielleicht nicht immer bewusst, aber im Lauf des Lebens taucht es wie eine Ahnung in uns auf: dass es so etwas wie eine Quelle gibt, wo wir uns anschliessen können. Wo das Leben herkommt, wo wir Kraft schöpfen können.
Wir spüren: Gewisse Dinge können wir uns nicht erkämpfen, wir können sie uns nur schenken lassen. Viele kennen auch den Moment, wo sie sich wie leer fühlen, sie können sich anstrengen wie sie wollen, es kommt nichts mehr. Es ist, als ob sie immerzu in einem leeren Kübel kratzten.
Da hilft es nichts, sich noch mehr anzustrengen. Da gibt es nichts, was wir erkämpfen können. Viel eher hilft uns hier ein anderes Bild: Es ist, wie wenn wir uns an einen Tisch setzen und teilnehmen. So können wir Teil haben an einem Geschehen, uns anschliessen an eine Quelle, angeschlossen sein an ein Grosses, Ganzes, das nicht aus uns kommt, aber wir aus ihm.
Hier wird die Feier zu einem Verhalten mit ganz eigenen Möglichkeiten. Sie kann nicht, was das «Machen» kann, sie kann nicht, was das «Denken» kann. Sie kann etwas anderes, aber Tun und Machen, Betrachten und Denken wirken mit und kommen in ein neues Gleichgewicht. Wir lernen uns neu verstehen, unsere Motivation wird erneuert, wir können neu auf die Situation zugehen.
Wir empfangen Vergebung – was die Vergangenheit unabänderlich verschlossen hat, wird aufgeschlossen. Wir vergeben anderen Menschen – die Zukunft, die verriegelt und verrammelt schien, wird aufgeschlossen.
(Aus einem Workshop an einem Pfarr-Kapitel 2008)
Sakramente – richtig feiern
Sakramente sind uns in der Reformierten Kirche fremd geworden, trotz der existenziellen Bedeutung, die sie früher hatten. Wie können wir sie feiern, dass sie wieder helfen auf dem Weg?
Sakramente sind Hilfen auf dem Weg. Sie haben ursprünglich eine grosse praktische Bedeutung für den Alltag und das Leben, auch wenn man das heute vielleicht nicht mehr glauben kann und das Gefühl hat, das seien altertümliche Relikte in Sonder-Gottesdiensten.
Wie können wir sie feiern, dass sie wieder helfen auf dem Weg?
Wie können Sakramente schon jetzt Anteil geben an dem, was sie dem Feiernden zusagen: die Gemeinschaft mit Gott?
Die archaische Zeit kannte Riten, in denen ein Menschen durch Trinken und Essen eine „Seelenreise“ antrat zum Ursprung der Welt und zum Ziel des Lebens. Von dort kam das „Wasser des Lebens“. Dort war der Zugang zur „Quelle“, aus der das Leben stammt, wo es unverlierbar gehalten ist. Dort fand er Unterstützung auf dem Weg.
Die Antike kannte einen „Göttertrank“, der Unsterblichkeit verleiht und einen Ritus, der den Feiernden aufnimmt in eine Gemeinschaft, wo er nicht mehr verloren geht, wo er neue Identität gewinnt.
Die Mysterienkulte der Antike zeigen, wie Adepten in eine religiöse Gemeinschaft eingeführt werden. Dabei wird das Fühlen betont, nicht das Lernen (nicht „mathein“ sondern „pathein“ war das Schlagwort). Dadurch soll sich das Neue, das der Glaube vermittelt, ins Körpergedächtnis einprägen, damit es hilft auf dem Weg.
Das wirft ein Licht auf das Verhältnis von Körper und Spiritualität und zeigt einen Weg für die Feier von Sakramenten.
Körper und Spiritualität
Die christliche Spiritualität hat in den letzten 20 Jahren die Diskussion innerhalb der Therapie-Bewegung aufgenommen. Dort wollte man weg von einer blossen „Rede-Kur“. Diese wird als ohnmächtig erlebt, sie bleibt nur im „Kopf“, während das Fühlen und Verhalten den alten Erfahrungen folgen, die im Körpergedächtnis abgespeichert sind. (Der Schreck sitzt einem noch „in den Knochen“. Man unterdrückt das Atmen, stellt sich tot – eine Haltung, aus der sich eine Depression entwickeln kann.)
Die im Körper gespeicherten Erfahrungen bestimmen die Haltung schon beim Aufstehen und sie haben Folgen für den ganzen Tag. Und man realisiert: „Christ“ ist man erst im Kopf, während der Unglaube noch in den Knien hockt. Vertrauen zu lernen, das muss durch den ganzen Körper gehen! Die Kontinente, die von der Mission noch nicht erreicht sind, liegen im eigenen Körper. Dabei helfen die Sakramente als Bindeglieder zwischen Fühlen und Denken, Kopf und Körper.
Hier ist das Vorgehen der Mysterienkulte interessant. Das Christentum hat seine Feiern in der Antike in Formen gekleidet, die in den Mysterienkulten vorbereitet waren. So wurde eine Taufe gefeiert als Ritual für die Aufnahme und ein Abendmahl für die Feier der Gemeinschaft. Die Gegenwart Gottes erlebte man im Gottesdienst.
Hier ist vieles zu lernen.
Aus dem Bericht über mein Sabbatical an die Kirchenpflege, 19. September 2007
Die Scham oder der Körper
Der Körper bewahrt in sich die Erinnerung an die Verletzung und er verkrümmt sich so, dass diese nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigt. Damit verewigt er sie aber im Gegenteil. Das Kind hat sich totgestellt, es hat den Atem angehalten, die Glieder eingezogen. So spürt es nichts. Wenn immer etwas an seine schmerzhafte Erinnerung rührt, nimmt dieser Mensch unwillkürlich diese Haltung wieder ein, der Atem stockt, der Körper erstarrt, die Empfindungen werden nicht mehr verspürt. Das Kind fühlt sich wie tot.
Er heiligt das Verpönte
Der Körper gehört dazu, der Körper ist das andere Element im Sakrament. Jesus Christus als das Ursakrament ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Seine Herabkunft ist nicht nur theologisch, sondern auch praktisch wahrzunehmen. Und zwar die Herabkunft bis ans Kreuz, bis zu dem Ort der Scham und Schande draussen vor Jerusalem, dem unreinen Ort, wo er hingerichtet wurde, denn er wurde zu den Verbrechern gezählt. Ohne Kreuz kein Heil, ohne Herabkunft keine Auffahrt. Ohne Körper und Welt kein Himmel.
Scham und Schande sind geheiligt, es ist der Ort, wo Christus bei den verletzten Menschen ankommt und sie heilt. Es ist der Ort der Ankunft, wo das Heil geschieht.
Der Körper bewahrt in sich die Erinnerung an die Verletzung und er verkrümmt sich so, dass diese nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigt. Damit verewigt er sie aber im Gegenteil. Das Kind hat sich totgestellt, es hat den Atem angehalten, die Glieder eingezogen. So spürt es nichts. Wenn immer etwas an seine schmerzhafte Erinnerung rührt, nimmt dieser Mensch unwillkürlich diese Haltung wieder ein, der Atem stockt, der Körper erstarrt, die Empfindungen werden nicht mehr verspürt. – Das Kind fühlt sich wie tot.
Abschneiden der Lebendigkeit
Es hat für das Überleben die Lebendigkeit geopfert, sagt der Körperpsychologe Alexander Lowen. Damit aber auch die Spontaneität, das Verfügen über jene selbstverständlichen Verhaltensweisen, die es uns erlauben, uns zu bewegen, uns in ein Verhältnis mit uns selbst zu setzen und mit den Menschen rund herum.
Das Kind „verkrümmt sich“, habe ich gesagt. Das Wort bezeichnet in der theologischen Tradition die Erbsünde (incurbatum in se ipsum). Das hat nichts mit Sexualität zu tun, aus der oben geschilderten Erfahrung ist es eher eine in der Kindheit eingeübte Haltung, die für das Überleben alles andere opfert.
Die Kinderfresser-Religion
Das ist eine Art Kinderfresser-Religion, die dringend zu christianisieren ist. (Aus Angst ist der Mensch in sich verkrümmt, im Vertrauen auf das Evangelium kann er sich entfalten. Aber dieses Vertrauen, Glauben, verfällt immer wieder dem Zweifel. Der Weg durch den Köper hilft dem Glauben und dem Leben aus dem Glauben.)
In dieser Verkrampfung, in der das Kind sich totstellt, gerät auch die Sexualität in Feindschaft zum denkenden ängstlichen Ich. Es gehört zu den Empfindungen, die geopfert werden, die, wenn sie durchbrechen, Angst und Scham auslösen, weil die Deckung verlassen ist. Aber nur von Sexualität zu sprechen, verengt das Thema. Es ist das ganze Leben, das hier abgeschnitten wird.
Aus Notizen 2007
Das erwähnte Buch: Alexander Lowen, The betrayal of the body. Deutsch: Der Verrat am Körper. Bern und München 1980.
Foto von jonas mohamadi, Pexels
Werschätzung
Warum können manche Menschen an ihrem Ziel festhalten und unbeirrt an einer Aufgabe arbeiten und andere verlieren sich immer wieder und resignieren an ihrem Leben? – Viele Menschen haben schon früh gelernt: „Was du machst, ist nichts wert.“ Und sie stimmen in dieses Urteil ein. Sie können im Lauf des Lebens lernen, sich ernst zu nehmen und dem treu zu bleiben, was sie für sich als richtig erkannt haben.
Das ist nicht einfach, da es dem Gefälle des Charakters entgegenläuft. Sie haben das Urteil der andern übernommen. Sie neigen sich vor etwas, was grösser scheint, als ihre Einsicht. Es ist, als ob da ein Götze auf ihrem Altar thronte, dem sie dienten, auch wenn sie grosse Opfer dafür geben müssen. Sie opfern ihre bessere Einsicht und ihre Sehnsucht nach einem richtigen und ganzen Leben – dass das auch für sie eines Tages noch wahr werden könnte.
Innere Widmung
Wenn das gelingen soll, müssen sie andere Grössen auf den Altar setzen und ihren Götzendienst beenden. Das meint die Rede vom „inneren Altar“: dass sie das wertschätzen, was ihnen wirklich etwas bedeutet, statt es kleinzumachen und in den Chor der Spötter einzustimmen.
Sie müssen aufhören, mit dem zu kollaborieren, was sie kaputt macht, nur weil sie Anerkennung suchen, nur weil sie sich das Recht zum Dasein verdienen wollen. Dieses Recht verdient man nicht, man erhält es von Gott geschenkt. Er gehört darum auf den Altar. Ihm muss man danken lernen. Dann wird man vom Dienst an falschen Herren frei.
Psychologisch ausgedrückt geht es um die innere Widmung ihrer Arbeit: Was ist die innerste Ausrichtung ihres Tuns? – Was ist das Ziel, das alles andere relativiert? -Wofür lassen sie alles stehen und liegen, wenn sie nur das eine bekommen? –
„Der Gräuel“
Die Rede vom „inneren Altar“ ist ein religiöses Bild. Die Makkabäer Bücher in der Bibel schildern, wie Israel und der Vordere Orient von den antiken Griechen erobert und von den Diadochen-Staaten nach dem Tod Alexanders verwaltet wurden. Um ihre Herrschaft zu festigen, verfolgten sie eine bewusste Religionspolitik. Sie setzten einen „Gräuel“ auf den Altar, wie es in den Makkabäer-Büchern heisst.
Der Widerstand soll schon im Ansatz gebrochen werden, indem auch die Seelen in Verwaltung genommen werden. Mit dem Tempel, wo das Volk sein Heiligstes verehrt, soll auch das Innerste neu besetzt werden. Die Unterworfenen sollen sich vor den Werten der Besatzer verneigen. (So haben Herrscher in unterworfenen Gebieten immer ihre Repräsentanten zur Verehrung ausgestellt, von den Römern und ihrem Kaiserkult bis zu den Habsburgern mit dem sagenhaften Hut auf der Stange in Schillers „Tell“.)
„Innerer Altar“ als abgekürzte Redewendung heisst: Das wertschätzen, was man als richtig erkannt hat; sich nicht vor falschen Götzen verbeugen; schon am Morgen nach dem Aufstehen die richtige Haltung einnehmen, damit das Verhalten während des ganzen Tags in die richtige Richtung geht. Denn das Bein, mit dem man aufsteht, macht den ersten Schritt. Die Haltung, mit der man aufwacht, bestimmt die Wahrnehmung, die Gefühle und das Verhalten.
Es ist eine komplexe Wechselwirkung von Innerem und Äusserem, was die soziale Realität bestimmt. Da sind Werte, Gefühle, Einsichten, Institutionen und Charakterprägungen, die das Verhalten bestimmen. Vieles scheint seit der Geburt geprägt und kaum veränderbar.
Es ist jedoch die Erfahrung eines spirituellen Lebens, die viele Menschen machen: Es kann verändert werden. Selbst die Verhärtungen des Charakters werden beweglich. Selbst die objektive Gestalt, die Inneres in äusseren Institutionen gefunden hat, kann verändert werden. So baut sich ein Leben ein neues Haus. So wächst es von innen, vom Altar und seinen Werten, nach aussen, in die sichtbare Wirklichkeit hinein.
Was wir wertschätzen spielt eine wichtige und oft unterschätzte Rolle dabei.
(Aus Notizen 24.3.19)
Ein Altar für die tägliche Verehrung
„Egal, ob andere sich für dasselbe interessieren.
Wenn ich es tue, will ich nicht davon abweichen, nur weil es ausserhalb scheinbar nichts gilt. Ich will mich nicht davon abbringen lassen, ob es sie interessiert oder nicht.
Ich will in mir selbst einen Altar errichten, ein Licht anzünden, den Tisch decken, die Hände waschen, ein schönes Kleid anziehen und feiern!“
(Aus Notizen 15.2.04)
Traum-Geschichten
„Ich habe das Gefühl, ich sei durch einen langen Tunnel hindurch gegangen. Und noch ist er nicht fertig. Eine Verletzung weckt alte Verletzungen und Reaktionsweisen. Sie wirft einen zurück. Entweder man wiederholt die alten Geschichten oder es wird eine Chance zu Versöhnung und Wachstum.
Was mir im Lauf meiner Notizen klar geworden ist: Mein ganzer Heilungsweg, was einen Lebensbeweg beinhaltet, einen Glaubensweg, einen Suchweg auf vielen Gebieten der Kultur und des Sich-Verhaltens, ging aus von einem „Trauma“.
Das Wort gefällt mir (und ich möchte nicht, dass gleich alle Aha-Erlebnisse wachgerufen werden, die man damit verbindet, mitsamt den Einordnungen und Schubladisierungen, die man in Auseinandersetzung mit diesem Wort gelernt hat).
Das Wort Trauma erinnert an Traum und das an jene Art, die Realität wahrzunehmen, die auch zu diesen Verletzungsgeschichten gehört, wo man durch eine Landschaft geht wie durch einen Traum. Und wo, wenn es intensiver ist, alles in ein helles Licht getaucht ist. Alle Angst, die vorher noch so bedrängend war, ist weg. Man ist reine Gegenwart, „actus purus“, wie in jenem Moment vor der Geschichte, als alles entstanden ist und alle Wirklichkeit geprägt wurde.
Oder man ist in Blaubarts Zimmer, wo er sein Geheimnis verwahrt hat. Und jetzt ist alles klar. Das ist der Ort, wo Verhalten geprägt, verletzt und geheilt wird. – Wenn man denn den Mut hat, da hinein zugehen, nicht vor der Angst davon zu laufen, sondern ihr entgegen und mitten hinein.
Es ist mein Stück
Das Trauma prägt jene Geschichten, die man immer wiederholt. Und man fragt sich: Warum muss mir das immer geschehen? Warum müssen die Menschen mir immer wieder auf diese Weise mitspielen? Man fühlt sich als Opfer, bis man begreift: Ich bin der Regisseur und die andern sind nur Marionetten in meinem Spiel. Und der Finger, der in ihrem Kopf steckt, das ist meiner. Ich führe das Stück auf. Es ist immer wieder dasselbe, aber ich nehme wechselnde Personen dafür, je nachdem, wie das Leben sie mir an die Hand gibt. Mal sind sie aus der Schule, dann aus dem Beruf, oder aus der Familie, wo immer.
Ich führe das Stück auf, und sie wären wohl froh, wenn ich sie frei liesse und wenn sie mir begegnen könnten, wie es ihnen entspricht und der Situation. Aber sie müssen immer ein Kleid anziehen, das ich ausgesucht habe, in die Maske gehen und einen Text aufsagen, der ihnen übergestülpt wird wie eine fremde Rolle.
Es ist die Rolle in meinem Stück, wo ich immer wieder verletzt, gedemütigt, vernichtet werde. Ich werde nicht müde, das Stück zu wiederholen, so schrecklich es auch ist. – So haben sich die Altvorderen die Hölle vorgestellt, in ewig gleichen Ablauf-Schlaufen, darum in Kreisen aufgebaut, in den neun Kreisen der Hölle.
Die Betrachtung der Passion ist heilsam. Die Geschichten, die in einer Religion erzählt werden, bilden so etwas wie ein gemeinsames Trauma. Viele Generationen von Menschen haben sich darin wiedererkannt und sie haben ihre Erfahrungen darin eingetragen. Und das sind nicht nur die verletzenden, sondern auch die heilsamen.
Die Mitte taucht auf
„Er wird die Schuld der Väter heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied.“ – Das Trauma vererbt sich, es legt sich wie ein dunkler Fluch auf kommende Geschlechter, aber es mildert sich auch. Und nach drei, vier Generationen ist es verheilt.
Das Leben ist kreativ, Kinder sind kreativ. Und auch ein Mensch allein arbeitet schon an seinem Leben. Und dort, wo das „Loch“ war, die Finsternis, wo alles Leben hineinzustürzen drohte, dort wird die „Mitte“ sichtbar. Es ist ein Ort, wo man nicht mehr verschlungen wird, sondern wo man gerne hingeht, wo man sich gehalten und geborgen fühlt, wo man gegenwärtig werden kann, das Ganze des Lebens ergreifen.
Und dieser geplagte Mensch – im Gebet kann er sich einem „Du“ gegenüberstellen, alles fasst er in diesem Du zusammen. Er kann alles übergeben und erhält alles zurück. Er sieht sein Leben jetzt mit andern Augen. Mit den Augen Gottes: Das sind Augen der Liebe, nicht der Verfolgung, der Annahme, nicht der Verwerfung, der Würdigung, nicht der Verachtung.
Die Intuitionen haben ihm dabei geholfen. Jene Ahnungen, die nicht aus der Erfahrung abgezogen werden, sondern vor aller Erfahrung das Leben und Erfahren prägen: dass es so etwas wie Gehalten-Werden gibt, Erbarmen, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt und die Würde der Person, dass Leben gelingen soll, nicht verstümmelt werden, dass ein Weg ankommen soll, nicht in der Wüste verlaufen…
Der Moloch
So füllt sich das Loch, die Farbe ändert sich. Und wo die Makkabäer, die Freiheitskämpfer des antiken Israel, von jenem Ungeheuer sprechen, dem „Gräuel der Verwüstung“, das auf dem Altar sitzt (die Eroberer und Unterdrücker des Volkes haben es als Götzen dorthin gesetzt, damit die Unterworfenen es anbeten sollen und ihre Herrschaft anerkennen), dort ist wieder Gott anzutreffen. Der Altar wird gereinigt, die Verletzung geheilt. Und wer dorthin flieht, findet Hilfe und Heilung.
Aber diese Schande hatte die Lebenskraft des ganzen Volkes geraubt:
„In seiner Vermessenheit betrat der König sogar das Heiligtum; er raubte den goldenen Rauchopferaltar. (…) Da kam grosse Trauer über das ganze Land Israel. Die Vornehmen und Alten stöhnten; die Mädchen und jungen Männer verloren ihre Kraft und die Schönheit der Frauen verfiel. Jeder Bräutigam stimmte die Totenklage an, die Braut sass trauernd in ihrem Gemach. Das Land zitterte um seine Bewohner. Das ganze Haus Jakob war mit Schande bedeckt.“ (1, 21ff)
Der innere Altar
Ich habe meine Notizen aus dem Jahr 2006 unter dem Titel „Der innere Altar“ zusammengefasst. Ich habe damals eingesehen, dass ich meiner Tendenz widerstehen muss, mich immer nach aussen auszurichten. Wenn einer was gut findet, renne ich in diese Richtung, weil ich unersättlich bin nach Anerkennung. Wenn jemand etwas kritisiert, lasse ich mich selber im Stich. Ich verrate das, was mir wichtig geworden ist. Ich muss von mir selber ausgehen und dem treu bleiben, was ich für mich als gut und richtig erkannt habe. Ich muss selber einen Tisch decken, eine Kerze anzünden, einen Altar aufrichten und das feiern, was ich als wahr und richtig und schön erkannt habe.
Das Mädchen mit der Flagge
So hisst das Mädchen in Miyazakis Film „Mohnblumenstrauss“ jeden Morgen die Flagge, weil es auf die Rückkehr seines Vaters hofft, der im Koreakrieg geblieben ist. Es ist wie ein Gruss in den Himmel. Und sie findet, als sie herangewachsen ist, ihren Freud, als ob der Himmel Antwort gegeben hätte.
Sie denkt nie und nimmer daran, dass sie einen Freund finden würde, wenn sie die Flaggen hisst, sie denkt an ihren Vater. Sie zeigt die Flagge und ist dem treu, was ihr wichtig ist, wichtiger als alles andere.
So kann ich meine Arbeit tun und brauche an nichts anderes zu denken. – Ob das je auf Beachtung oder Wertschätzung stossen wird? Ich kann die Flagge hissen, an den Vater denken und den Rest ihm überlassen.
(Aus den Notizen 7.11.17)
Innere Bilder und äussere Wege
„Was wissen innere Bilder von äusseren Ereignissen?
Dieses Buch handelt von inneren Bildern und äusseren Wegen.
Wie soll das eine mit dem andern zusammenhängen?
Ist das Innere nur ein Echo für das Äussere? Oder – wenn es manchmal sogar früher auftaucht als das Äussere und in Träumen und Ahnungen eine Zukunft aufscheint – sollte da eine geheime Alchimie vorhanden sein für eine „innere Führung“ im Leben?
Nicht die Spekulation interessiert hier, sondern die Lebenspraxis: Ist da etwas zu finden, was im Leben hilft?
Der Sturm und sein „Ende“
Heute Morgen sitze ich mit flauem Gefühl am Schreibtisch. Draussen braut sich ein Sturm zusammen. Dunkle Wolken türmen sich auf. Es rüttelt an Bäumen und Ästen. Ich denke an die Klimaveränderung und ihre Folgen. Das flaue Gefühl rührt vielleicht aber eher von meinem Leben her, weil es sich seinem Ende nähert.
Schon gestern haben sie eine Sturmwarnung durchgegeben. Aber morgen soll es schon wieder ruhiger werden. So nimmt die Zivilisation die Angst aus dem Sturm. Die Wetterprognose weiss: „Übermorgen“ ist es vorbei. Aber wenn man den Sturm kommen hört, identifiziert man ihn leicht mit dem, „was kommen muss“ und was allem ein Ende setzt. Da ist ein inneres Ende, ein inneres Bild für Ende, das aufwacht und sich mit diesem und jenem verbindet, das man kommen sieht.
Das innere Bild ist nicht falsch. Die äusseren Ereignisse haben auch das Zeug dazu, ein Ende zu bringen für vieles. Aber die Verknüpfung ist oft falsch. Das innere Bild vom Ende ist auf bestimmte Weise geprägt, es mobilisiert die Angst von „damals“. Es führt auf den abschüssigen Weg traumatischer Erfahrung, wo es „nur noch einen Schritt!“ braucht und alles stürzt ins Loch…
Mein Innenleben an der Zimmerdecke
Letzten Sommer waren wir in Rheinau. Es war „Tag der offenen Türe“ auf der Klosterinsel. Jahrelang kannten wir das Kloster nur von aussen. Aber wir fühlten uns zu diesem Ort hingezogen. Jetzt öffnete sich die Tür. – Wie wird es sein?
Alles ist aufwendig restauriert. Alles sieht teuer aus, die Installationen sind auf modernstem Stand. – Aber ich bin enttäuscht. Alles ist grau-weiss gestrichen. Ein Gefühl von Enge stellt sich ein. Nur dort, wo ein altes Treppenhaus belassen wurde, wird es weit, so dass man atmen kann.
Den Weg, der vom Kloster zur Kirche führt, kann man jetzt inwendig abschreiten. Wir gehen durch diesen Gang. Ein Wohlgefühl stellt sich ein. Obwohl es immer noch eng ist. Aber gehen, etwas abschreiten, einem Ziel entgegen gehen – das ist ein inneres Bild, wie ein „Archetyp“. Es weckt ein Echo, lässt etwas anklingen, dem wir nachhören. Wir werden nach innen geführt, wenn wir aussen gehen. Es weckt die Erinnerung und lässt die Intuition äusserlich erleben. – Architektur wird offenbar als wohltuend empfunden, wenn sie erlaubt, etwas äusserlich zu begehen, was innerlich lebendig ist. Sie bekommt etwas Sakrales. Als ob es Teil von einem Tempel wäre.
Auf diesem Weg kommen wir an einem Zimmer vorbei, dessen Decke original belassen wurde. Man kann sich setzen und das Deckengemälde von 1675 betrachten. Ich staune: Das hielt ich für das Allerprivateste, denn ich kenne es von meinen Träumen. Aber hier ist es öffentlich! Es sind Bilder vom „Tor“, vom „Garten“, vom „goldenen Haus“, vom „Turm“… Es sind offenbar solche Archetypen. Jedenfalls innere Bilder, wie sie auf dem Glaubensweg aufscheinen.
Ich erinnere mich gut an die Träume vom Tor (wenn man hineinging, wurde es ruhig, das Gelärm der Leute verlief sich); vom Garten, der nicht verschlossen war (das Tor zum Garten war immer da, aber bisher bin ich immer daran vorbeigegangen, ich sah es nicht. Hier konnte ich mich in die „Mitte“ stellen.); vom Turm, der am Wegrand stand, ich musste erst dort vorbei (und da sein für unsere Kinder), bevor ich zum Tempel im Hintergrund weitergehen durfte; vom schönen Haus…
Innen und aussen
Das Erlebnis mit dem Sturm zeigt: Es gibt innere Bilder, die bereit stehen, Erlebtes zu deuten. Es gibt dunkle Bilder, die aus traumatischen Erfahrungen stammen. Und es gibt helle Bilder – und diese kommen von weiter her. Auch andere Menschen kennen sie, die nicht meine Erfahrungen geteilt haben. In alter und ältester Zeit finden sich Berichte darüber. In der Religion werden sie kultiviert.
Das Bild vom „Ende“ ist ein Bild, das die traumatische Erfahrung immer wieder wie ein Netz über das tägliche Erleben wirft. Und so wird es gefangen. Es zappelt im Netz. Das Leben zappelt wie ein gefangenes Insekt und will sich befreien. Und der Mensch denkt: „So ist es, das Leben ist ein dunkles Loch, es ist alles sinnlos, alles geht zugrunde.“ Darum sind die andern Bilder so wichtig. Darum ist es so wichtig, dass das Evangelium von aussen kommt und die andern Bilder weckt, die innen in uns ruhen. Dass wir wieder anschliessen können an die lebenspendenden Bilder, an Bilder der Hoffnung, der Liebe und des Vertrauens.
Denn nur so können wir die Spaltung überwinden, die Spaltung in uns und gegen aussen. Nur so finden wir ein Bild des Ganzen, das mit sich übereinstimmt. Nur so ist Integration möglich: Integration in sich selbst und damit psychische Gesundheit und Integration nach aussen, im Zusammenleben mit den Menschen. Nur so auch ein Umgang mit der inneren und äusseren Natur, der diese nicht vergewaltigt sondern Frieden schliesst. Nur so also ein Entwicklungspfad der Zivilisation, der sich nicht selbst ein Ende gräbt, weil er auf Nebenwege führt, wo es kein Durchkommen mehr gibt.
(Aus dem Vorwort für das Buch „36 Ansichten vom Berg Fuji“, Notizen 2009)
Foto von Jose Luis Acevedo Gonzales, Pexels
«Auch im Glauben gibt es Modeströmungen. Auch in der kirchlichen Verkündigung gibt es Themen, die im Vordergrund stehen und Traditionen, die eher unbeachtet bleiben. Wenn aber der Zeitgeist umschlägt, geraten andere Überlieferungen ins Scheinwerferlicht. Oft sind es die Themen im Dunkeln, die die Zukunft prägen. Dort ist etwas zu lernen, was uns in der kommenden Zeit weiterhelfen wird. So wird das Evangelium in der Verkündigung immer wieder verkürzt oder gar „halbiert“. Aber es hat eine Kraft in sich, die neugierig macht, auch die andere Hälfte kennen zu lernen.»
6. Januar 2012
Wo und warum wird das Evangelium «halbiert»?
Im Folgenden einige Texte aus einem Kurs, den ich 2012 gehalten hatte.
Das „halbierte Evangelium“
Sie stöbern in einer Buchhandlung. Vieles lassen Sie achtlos auf der Seite. Aber plötzlich, bei einem Titel, fühlen Sie sich wie erkannt. Sie sind wie elektrisiert! Das Buch scheint wie für Sie gemacht! Wie konnte der Autor das wissen? Aber bald begreifen Sie: Solche Bücher gibt es immer wieder. Aber früher waren Sie nicht offen für dieses Thema. So ein „Buchladen“ mit vielen Texten ist auch die Bibel. Und auch sie kennt eine Entdeckungs-Geschichte.
Nicht alles, was in der Bibel steht, berührt uns beim ersten Lesen. Wer verliebt ist, entdeckt die Liebestexte. Wer krank ist, dem erschliessen sich die Stellen, die von Krankheit und Heilung reden. Viele Erfahrungen sind in der Bibel aufbewahrt. Ob wir sie entdecken, hängt auch an uns, ob wir offen sind dafür. Darum gibt es nicht nur eine Entdeckungs-Geschichte der Bibel, sondern auch eine Verdeckungs-Geschichte. Nicht alles mögen wir hören. Bei gewissen Themen halten wir die Ohren zu.
Sehnsucht und Widerstand
Vielfältig sind die Widerstände, die schon in biblischer Zeit laut wurden und in die Bibel eingingen. So sagt Paulus: „Ich schäme mich nicht des Evangeliums“, weil es da offenbar etwas zu schämen gibt. Als es auf die Passion zugeht, verlassen die Anhänger Jesus. Und auch dem Mutigsten sagt er voraus: „Ich sage dir, noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verraten“.
Der Glaubensweg braucht Mut auch in „normalen“ Zeiten, wo es nicht gleich um die Passion geht. Denn da wird ein Glaube gefordert, den man nicht beweisen kann. Sich mit seinem ganzen Leben einer solchen Botschaft anzuvertrauen, das gleicht einem Gang über ein Seil ohne Netz. Und nur wer muss, geht diesen Weg. Und er bittet Gott, dass er ihm auch gleich beim Glauben helfe: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
Der zornige Gott und der liebe Gott
Was die Kirche aus der Tradition in ihre Verkündigung aufnimmt, ist beeinflusst von diesem Echo, das die Bibel findet. Hier gibt es ein Suchen, dort ein Zurückweisen. Nicht nur einzelne Menschen reagieren mit Zustimmung und Ablehnung auf die Bibel. Auch soziale Gruppen haben eine solche Geschichte von „Ja“ und „Nein“.
Für die einen spricht die Landeskirche zu wenig von „Gericht“ und „Wiederkunft Christi“. Den andern ist gerade das Reden von „Sünde“, „Opfertod“ und „Gericht“ zuwider. Die einen erkennen in der Verkündigung eine „Drohbotschaft“, die andern kritisieren gerade entgegengesetzt, dass der mächtige Gott des Alten Testaments zu einem „lieben Gott“ verniedlicht werde, der nicht mehr wirkmächtig in die Gesellschaft und Wirtschaft hineinreden könne.
Für die einen hat sich die Kirche ins „Lotterbett“ gelegt mit den einflussreichen Schichten. Sie sei kein „Gegenentwurf“ mehr gegen diese Welt und rede den Mächtigen nach dem Mund. Die andern verdächtigen die Kirche und ihre Verkündigung gerade für ihre Parteinahme für Witwen und Waisen und für die Benachteiligten.
Im Schatten des Zeitgeistes
Jede Zeit hat ihre Mode-Themen, und diese werden auch von der Kirche eingefordert. Anderes liegt im Schatten und gerät in Vergessenheit. Wenn aber der Zeitgeist umschlägt, geraten andere Überlieferungen ins Scheinwerferlicht. Oft sind es die Themen im Dunkeln, die die Zukunft prägen. Dort ist etwas zu lernen, was uns in der kommenden Zeit weiterhelfen wird. So wird das Evangelium in der Verkündigung immer wieder verkürzt oder gar „halbiert“. Aber es hat eine Kraft in sich, die neugierig macht, auch die andere Hälfte kennen zu lernen.
Aus einer Ausschreibung, 7. Januar 2012
Das Credo neu buchstabieren
Der Titel des Glaubenskurses im März mag erstaunen: Das halbierte Evangelium. Das Evangelium ist immer ganz, nie halb. Aber jeder Gottesdienst-Besucher hat schon erlebt, dass Lieder gesungen und einzelne Strophen ausgelassen werden. Mit ihrer Rede von „Sünde“, „Opfer“ oder „Gericht“ scheinen sie für Zeitgenossen nicht mehr zumutbar.
So gibt es auch Glaubens-Traditionen und biblische Texte, die in einer bestimmten Zeit kaum verkündigt werden. Aber wenn die Zeit sich wandelt, findet sich der Bibelleser vielleicht genau dort wieder. Und alte Texte werden neu entdeckt, wie es gegenwärtig mit den prophetischen Texten geschieht.
Der Glaubenskurs im März folgt verschiedenen kirchlichen Festzeiten wie Passion, Ostern, Auffahrt und Pfingsten. All diese Feste sind umstellt von Zweifeln und Anfragen.
Das beginnt schon bei der Passion: “Was ist das für eine brutale Religion, die ein Folterinstrument als Erkennungszeichen benutzt?“ Das Kreuz weckt Widerspruch seit Beginn des Christentums. „Was ist das für ein Gott, der seinen Sohn opfern muss, um die Welt mit sich selbst zu versöhnen?“ Die Rede vom Opfer ist uns fremd geworden. Wird der Tod Christi damit sinnlos? Wie kann seine Heilsbedeutung dann ausgesagt werden?
An Ostern hören die Fragen nicht auf. Sie spitzen sich eher noch zu. Dass Jesus stirbt, das zu begreifen fordert die Denkmöglichkeit unserer Kultur nicht heraus. Tod ist bekannt. Aber dass er auferweckt wird – da zeigt sich die ganze Verlegenheit einer Epoche, die den Gottesbegriff im Grunde entsorgt hat und Aussagen vom Ganzen, vom Heil und von einem letzten Gelingen nur noch als menschliche Abstraktionen behandeln kann, denen keine reale Wirklichkeit zukommt. Darum die Verlegenheit, mit der die Osterbotschaft oft verkündet wird.
Ähnlich ist es mit den Ereignissen um Auffahrt und Pfingsten. Hier gibt es nicht nur die alten Vorwürfe gegen die Mission und ihren Missbrauch im Kolonialismus. Es ist auch die Frage, wie verschiedene Weltreligionen, die jede einen absoluten Geltungsanspruch erheben, nebeneinander bestehen sollen. Davon hängt nicht nur die Verständigung ab mit fernen Kulturen, sondern auch das friedliche Zusammenleben mit Bevölkerungsgruppen im eigenen Land.
In den letzten Jahren gab es in all diesen Fragen Veränderungen. Ein anderes Klima ist aufgezogen, andere Fragen wurden wichtig, neue Wertungen kamen. Es lohnt sich, sich diesen Fragen wieder zu stellen. Sie sind herzlich eingeladen zum Glaubenskurs: Das „halbierte Evangelium“. Biblische Traditionen im Schatten des Zeitgeistes. (…)
Zweite Ausschreibung, 6. Februar 2012
Angriffe auf Kirche und Glaube
Gewöhnlich erlebt man sich als Kirchenmitarbeiter in dieser Zeit in der Defensive gegen alle möglichen Anklagen, die sich aus allem Schiefgelaufenen der ganzen Kirchengeschichte nähren. In einer bestimmten Optik ist es nur eine „Kriminalgeschichte des Christentums“.
Das macht auch vor der Theologie und der Bibel nicht Halt. Das gehört zur ganzen Emanzipationsgeschichte der weltlichen Kultur gegen Kirche und Obrigkeit seit der Neuzeit. Es sind die bekannten Vorwürfe, die im Einzelnen gar nicht mehr geprüft werden. Es gibt auch einen Dogmatismus in den unreflektierten Reaktionen, mit denen jede Erinnerung an Kirche oder Religion quittiert wird.
Schon das frühe Christentum wurde angegriffen. Die neue Bewegung traf in der Spätantike auf eine Kultur mit vielen konkurrierenden „Philosophen-Schulen“ (Stoa, Neuplatonismus etc.) Ein Beispiel ist die Polemik von Celsus gegen die Christen, die nicht einmal einen Weisen als Führer hätten, sondern einen Juden, der als Verbrecher am Kreuz hingerichtet wurde. So entstand als Reaktion die Apologetik, der Versuch, sich mit den Denkmitteln der umgebenden Kultur darzustellen, soweit das möglich war. Im Rückblick wurde geklagt, habe das Christentum dadurch viel Eigenes verloren, viel Fremdes aufgenommen. Immerhin konnte die Kirche sich so einen Platz erobern und behaupten, sie wurde salonfähig und später sogar zur Reichsreligion.
Die Apologetik ist der Anfang der Dogmatik: Das ist der Versuch, den Inhalt des Glaubens nicht im liturgischen Vollzug und im Nachgehen des Wegs darzustellen und mitzuteilen, sondern nach den Wahrheitsbegriffen und Erkenntnis-Verfahren der umgebenden Kultur. Wobei wieder die Frage auftaucht, ob eine „Weisheit des Weges“ anders erfahren und mitgeteilt werden kann als über das Gehen eines Weges.
Um es zu sehen und zu begreifen, was gemeint ist, muss ich mich selber auf den Weg machen. Dasselbe gilt für alle existentiellen Situationen. „Gibt es die Liebe?“ – So wohl nicht. Aber wenn ich vom Stuhl aufstehe und mich ins Leben hineingebe, dann geschieht Begegnung, dann gerate ich in eine Dynamik, die grösser ist als ich und alles, was ich will und steuern kann.
Dann begegne ich einem Stück vom Grösseren und Anderen. Und das hat mehr Realität als nur die, eine „existentielle Erfahrung“ zu sein. Es redet von einem Grossen und Ganzen, das sich als solches der Sprache nicht anbequemt. (Darum die Tradition der Verneinung und Übersteigung: Gott ist all das nicht und viel mehr, als was Sprache benennen kann. Aber das bleibt im Sprachspiel der Kultur und ist dem „Schnattern der Gänse“ fremd. Diese spüren den rechten Zeitpunkt und erheben sich zum Flug. Sie verständigen sich über den Flug, den Weg, sie gelangen ans Ziel. Und der Kulturmensch, wenn er an seinem Schreibtisch bleibt, nicht.)
Die Falle von Apologetik und Polemik
Zur Apologetik gehört die Polemik, die Abgrenzung gegen Bewegungen, die vom selben Punkt ausgehen, aber andere Richtungen einschlagen. (Die Erkennbarkeit des Ziels allerdings ist sehr eingeschränkt vom Pult aus.)
Mein Kurs folgt einem anderen Weg. Ich erlebe die Kirche, die Bibel, und alles was mir wichtig und heilig ist, immer wieder als angegriffen und oft auf billigste Weise „heruntergemacht“. Ich will aber nicht in die Falle der Apologetik trappen, auch nicht den Ball polemisch zurückgeben und nach den Schattenseiten der Angreifer fragen.
Mit dem Ansatz meines Kurses verlagere ich den Blick auf die Menschen selbst, die mir gegenübertreten, die mit ihrer Kritik immer schon eine implizite Auslegung verbinden.
Rezeptions-Ästhetik
In der Zeit meines Geschichtsstudiums in den 70er Jahren gab es in der Germanistik eine grosse Welle, eine neue Auslegemethode: die Rezeptions-Ästhetik. Der Blick wird verlagert vom Produzenten auf den Rezipienten: Was sind die Mechanismen bei ihm, bei seiner Wahrnehmung? Wo sind seine Filter, wo ist sein Ja und Nein? Wie färbt er den Inhalt bei der Wahrnehmung ein? Wie umkleidet er die Inhalte mit Mustern der Schuld-Zuweisung, der Verteidigung?
Kann es sein, dass Texte, Impulse auf diesem Weg gar nicht wahrgenommen werden im Sinn der Tradenten, sondern dass sie immer schon umgebogen werden, bevor sie auch nur zur Kenntnis gelangen – so dass es in der Wahrnehmung immer schon „Pfui-Themen“ sind, Dummheiten, Aberglauben, primitiv-archaische Relikte, fundamentalistische Abwehrreflexe auf den Fortschritt, etc.?
Widerstand
Warum wird das Evangelium halbiert? Die Faktoren liegen auf ganz verschiedenen Ebenen. Sie finden sich schon in der Passionsgeschichte des Markus:
Da ist Scham gegenüber dem Zeitgeist und seinem Wahrheits-Bewusstsein. Das ist ein ganz anderer Weg: unten sein, klein sein, das Verlierer-Image tragen.
Da ist Angst – Der prophetische Einspruch gegen Einflussreiche, die Konfrontation mit Mächtigen lösen Angst aus.
Da ist Unglaube: Es ist zu unglaublich, in jeder Welt-Anschauung, dass der Tote aufersteht, dass der Verachtete und Ausgeschlossene wieder aufgenommen wird.
Es gibt Verstummen – „Nach Ausschwitz ist es unmöglich, von Gott zu reden.“
Es gibt den Maulkorb – Das ist die Rolle der Kirche in der Moderne. (Die Geschichte hat die Kirche gebändigt und in ein Futteral gesteckt. Wer etwas sagt, was nicht dazu passt, wird abgelehnt, überhört, gemassregelt, klein gemacht. Wer etwas sagt, was der Rolle entspricht, wird als Rollenträger respektiert, gerade darum aber verachtet, weil er nur noch bellt, wie man ihm beigebracht hat.)
So kommt es zu einer selektiven Wahrnehmung der Überlieferung. Heute gibt es aber viele Anstösse, warum die Tradition neu befragt werden muss. Es gibt ein neues Interesse an untergegangenen Traditionen.
Anstösse für ein neues Hinsehen
Der Anstoss heute für ein neues Nachfragen, für ein neues Buchstabieren der Elemente kommt aus der grossen Verunsicherung von Banken-Krise, Euro-Krise, Währungs-Krise, Schulden-Krise. Und es geht weiter zu „Austerität oder Solidarität“, zu sozialen Protesten und Gewaltszenen. Es geht um Sozialabbau, um das Ausdünnen des Mittelstandes, um den Verlust der sozialen Basis für Demokratie und Bildung. Das geht heute bis zu einer Institutionen-Krise und zur Frage, ob das europäische Projekt weiterentwickelt wird oder auseinanderfällt.
11.Februar 2012
Domestizierung der Kirche
Kirche und Christentum stehen immer wieder in der Kritik, oft zu Recht, man muss die Arbeit immer überprüfen. Anderes betrifft die Botschaft selbst, wenn z.B. das Kreuz angegriffen wird, oder die Vorstellungen von Sünde, Sühne, vom stellvertretendem Tod Christi oder von Auferstehung.
Die Filter der Verkündigung
„Halbiertes Evangelium“ – Es gibt verschiedene Motive für das, was die Kirche sagt oder nicht sagt, verschiedene Filter für das, was ein Pfarrer verkündigt oder nicht verkündigt. Ein Filter ist auch die Stellung der Kirche in der Gesellschaft.
Das ist ja das Resultat eines langen historischen Prozesses. Seit der Antike gibt es Auseinandersetzung zwischen den Machtträgern um die Definitionsmacht im religiösen und sozialen Bereich. Das geht von der Einheit der religiösen und weltlichen Macht im antiken „Cäsaro-Papismus“ bis zum Streit zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter.
Domestizierung der Kirche
In unserer Zeit ist die Kirche domestiziert. Die Grundfragen des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens sind „säkularisiert“, sie sind dem Zugriff der religiösen Instanzen entzogen.
(Und es wird als Störung empfunden, wenn Immigranten aus anderen Kulturen naiv glauben, das ganze Leben von ihrem Glauben her gestalten zu können. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte wirken sie auf uns fundamentalistisch und nicht angepasst. Wir haben vergessen, dass die Katholische Kirche noch im 19. Jh. die ganze moderne Kultur abgelehnt hat in einem Kulturkampf. (1864 veröffentlichte Pius IX den Syllabus Errorum», eine Auflistung von 80 „Irrtümern“ der Moderne in Politik, Kultur und Wissenschaft.))
Rollenprosa
Diese Stellung der Kirche in der modernen Gesellschaft und Kultur führt zu einem „lustigen Phänomen“: Was kirchliche Amtsträger sagen können, ist weitgehend normiert. Es gibt enge Toleranzgrenzen für ihre Äusserungen.
So entdeckt ein Pfarrer, je länger er im Amt ist, je länger er sozialisiert ist in diesem Amt, dass er eigentlich nur noch Rollenprosa absondert. Wenn er nicht anecken will sagt er, was erwartet wird, was der Rolle der Kirche und der Pfarrer in der Gesellschaft entspricht.
Entspricht er der Rollenerwartung, so wird das honoriert. Widerspricht er der Erwartung, wird es sanktioniert.
Die Belohnung für ein Entsprechen ist eine Art von gleichgültiger Akzeptanz. Sie ist gemischt mit Geringschätzung. Denn der Pfarrer sagt ja nur, was von ihm erwartet wird und was der Stellung der Kirche in der Gesellschaft entspricht. Das kennt man schon, bevor er den Mund aufmacht.
Weicht er ab von dem, was erwartet und toleriert wird, so wird er sanktioniert. Das geht vom Nicht-Beachten, Ignorieren bis zum Lächerlich-Machen, an den Rand stellen, Skandalisieren…
Der Narr des Evangeliums
(Den Narren zu machen ist eine Form, die Rolle zu übernehmen und ihr zugleich zu widersprechen. Das Problem ist, dass ein grosser Teil von Behörde und Mitarbeiterschaft die gesellschaftliche Position einnimmt und die Rolle des komischen Kauzes, der nicht in die Zeit hineinpasst, auf die Pfarrpersonen abwälzt. Von diesen wollen auch immer weniger als Trottel dastehen.)
Das ist keine Erfindung unserer Zeit. In diesem Spannungsfeld standen religiöse Instanzen schon immer. (Spannend sind die Auseinandersetzungen im Alten Testament zwischen den Propheten und den Heilspropheten. Die waren angestellt am Hof oder an einem Kult-Ort. Sie gaben Orakel und erfüllten die Erwartungen der Kundschaft.)
Opportune – importune
Ich möchte zum Schluss zwei Stellen aus der Bibel zitieren. Sie ist letztlich die verpflichtende Basis der kirchlichen Verkündigung. Auf sie legt eine Pfarrperson das Amts-Versprechen ab. Die erste Stelle ist aus Jeremia 23. Da sagt Gott:
„Ich höre es wohl, was die Propheten predigen und falsch weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die falsch weissagen und ihres Herzens Trügerei weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse? Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HERR. Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“
Und der Apostel Paulus schreibt im Brief an Timotheus:
„So ermahne ich dich inständig vor Gott und Jesus Christus, der da kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten: Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit; weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre. Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden. Sondern sie werden sich nach ihren eigenen Gelüsten selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken. Sie werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Fabeln zukehren. Du aber sei nüchtern in allen Dingen, leide willig, tu das Werk eines Predigers des Evangeliums, und richte dein Amt redlich aus.“ (2. Tim 4,2)
„Predige zur Zeit oder Unzeit“, auf Latein heisst das: „opportune – importune“. Richte die Botschaft aus, ob es opportun ist oder nicht!
(Das opportune-importune hat sich mir besonders eingeprägt durch Peter Walss, den «Chilenen-Pfarrer», der bekannt wurde durch die Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen in der Kirchgemeinde Seebach Mitte der 80er Jahre. Er wurde für sein Engagement heftig angegriffen, in und ausserhalb der Kirche. Er ist später an Krebs gestorben und hat seine Eindrücke in Psalm-Gedichten verarbeitet, „Gebete auf dem Rücken liegend“. Bei einer Pressekonferenz in dieser Zeit – ich arbeitete damals als Journalist – hat er sich auf diese Stelle 2. Tim 4,2 berufen. Für mich ist er ein Glaubenszeuge in unserer Zeit.)
Aus einem Referat vor der Kirchen-Behörde, 7. März 2012
Kirchenregiment im liberalen Zürich
Zürich war damals keine provinzielle Ecke in Europa, sondern stand an vorderster Front der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung. Was hier geschah, fand damals weite Beachtung. Der Liberalismus fand in Zürich eine Heimstätte, als in Europa noch Restauration und Reaktion das Feld beherrschten. Der Versuch, die Kirche dem liberalen Zeitgeist zu unterwerfen, fand weitherum Beachtung und das Wort „Putsch“ ging von Zürich aus in die deutsche Sprache ein. – Auslöser war eine Revolte der Untertanenbevölkerung gegen das liberale Kirchenregime.
Der Staats-Theologe und der Putsch der Landschaft
Das 19. Jh. ist noch einmal eine Zeit intensiver Auseinandersetzung mit Religion, weil diese v.a. in der Landschaft, bei den ehemaligen Untertanen, noch lebendig war und zur Legitimierung von Forderungen herangezogen wurde.
Die liberale Obrigkeit kontrollierte Kirche und Religion. Sie säkularisierte Kirche und Schule und verstaatlichte den Klosterbesitz. Um Kirche und Glaube in ihrem Sinn zu formen, berief sie den Hegel-Schüler David Friedrich Strauss auf den neugeschaffenen theologischen Lehrstuhl, was eine Revolte der Landschaft auslöste, die das Wort „Putsch“ in der deutschen Sprache verankerte.
Das Armen-Evangelium im Gefängnis
Einige Jahre später besuchte der Schneidergeselle und Frühsozialist Wilhelm Weitling Zürich. Auch er fasste ein «Evangelium» ab für die Bedürfnisse der Zeit, diesmal aber nicht im Sinn der liberalen, sondern der sozialen Forderungen.
Während Strauss zum Professor der theologischen Lehranstalt berufen worden war (und unter dem Protest der Landschaft zurücktreten musste, bevor er sein Amt antreten konnte), wurde Weitling inhaftiert und aus der Stadt ausgeschafft. Die Arbeiterbewegung hat ihm mit einem Strassennamen bei einer Baugenossenschaft ein ehrendes Andenken in Zürich verschafft.
Der eine leitet vom Reich Gottes Forderungen ab für die Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Der andere „erklärt“ Jesus philosophisch und hebt so seine religiöse und soziale Brisanz auf. Hier versucht ein Vertreter des Handwerksburschen-Sozialismus Christus als Helfer der Armen zu denken, dort übernimmt eine liberale Obrigkeit die Verwaltung von Theologie und Kirche und passt sie den neuen politischen Gegebenheiten an.
Es geht also nicht nur um das rechte Verständnis des Christentums, es geht viel mehr noch um die Verwendung religiöser Kategorien für soziale und politische Forderungen. Solche waren schon in der Reformationszeit vorgebracht worden, bis zur Konfrontation in den Bauernkriegen.
Das Entstehen einer Arbeiterschaft im 19. Jh. gab noch einmal Anlass für ein Ernstnehmen der Bibel in den sozialen Auseinandersetzungen, bis weltanschauliche Ideologien das Feld übernahmen. Auf den christlichen Schwärmer Weitling folgte der Systematiker Marx, der aus Hegels System einen «wissenschaftlichen Sozialismus» ableitete.
Wurde das Evangelium «halbiert»? Es gerät zwischen die Fronten der sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Es hilft, die eigene Situation zu verstehen und dient für die Legitimation von Forderungen. Das kann auch zynisch erfolgen, wenn also keine innere Bindung an die biblische Begründung besteht, wenn nur ihre soziale Bedeutung für eigene Zwecke eingesetzt wird. In diesem Sinn haben politisch dominierende Gewalten immer auch die Deutungshoheit über Religion und Kirche beansprucht und durchgesetzt.
9.März 2012
Das Ende der Ironie
Alle Welt spricht Rollen-Prosa. Alle reden uneigentlich. Man hat es verinnerlicht, dass alles, was aus dem Radio kommt, nicht so gemeint ist: die Werbung in der Wirtschaft, die Werbung in der Politik, die Event-Werbung. Dazu gehört die Rollenprosa in der Kirche.
Ich muss wieder lernen, eigentlich zu reden. Wenn ich Nachrichten schaue, gibt es eine Sorte von Nachrichten, die den Stempel der Wahrhaftigkeit an sich tragen: dort wo Menschen von einer Katastrophe betroffen sind. Da fällt die Rolle, die Distanz, das Tun-Als-ob ab.
Für mich kommt noch etwas dazu: Ich kann die ironische Distanz aufheben. Mit der Ironie versuchte ich, zwei Dinge zu verbinden: das Festhalten an etwas, das mir wichtig ist, und das Wissen, dass es in der umgebenden Gesellschaft keinen Wert hat. So sprach auch ich uneigentlich vom Glauben. So redet ein verbitterter alter Mann, der seiner Wahrheit nicht mehr zutraut, dass sie die Mehrheit erobern kann. Der es sich in seiner Nische recht macht.
17.März 2012
Weltbilder von Staats wegen
Die Zeit, als Europa kolonisatorisch auf die ganze Welt ausgriff, war getragen von einer universellen Wahrheitsbehauptung, was sich in der Mission der unterworfenen Gebiete abzeichnete. Eine säkularisierte Version ist die Unterwerfung von ganz Europa unter das napoleonische Frankreich. Es war getragen von der Behauptung, „allen Völkern das Licht der Aufklärung“ zu bringen und sie an den Errungenschaften der Französischen Revolution teilhaben zu lassen.
Die Gegenwehr in Deutschland, die preussischen Befreiungskriege, gingen darum einher mit einer relativierenden Gegenerzählung: Jede Epoche, jedes Volk, jedes Land sei unmittelbar zu Gott und habe einen je eigenen Geist, der eine Individualität darstelle.
So war auch die Entkolonisierung nach dem 2. WK getragen von einem Geist der Relativierung. Die Moderne, die in der Globalisierung ein einheitliches Modell über alle Kulturkreise gespannt hatte, wurde abgelöst von einer Post-Moderne, die anstelle der universalistischen Behauptung eine relativierende Zurückweisung setzte.
Diesem Wechselbad von universalistischen Wahrheitsbehauptungen und relativierenden Auflösungen ist auch das religiöse Denken unterworfen. Es erfasst auch die Gläubigen in den Heimatländern, die gar nichts im Sinn haben mit Kolonien oder globalen Interessen. Ihnen wird das Glauben schwer gemacht. Dagegen hilft die Einsicht in dieses historische Schaukelspiel. Es ist interessegeleitet:
Jeder Ausgriff auf andere Kulturen ist begleitet von universalistischen Wahrheits-Behauptungen, jede Abwehr von solchen Übergriffen sucht Hilfe in Positionen, die die „Wahrheit“ relativieren oder die Erkennbarkeit skeptizistisch zurückweisen.
Der Skeptizismus ist die „Waffe des kleinen Mannes“. Das Christentum hat sich in der Kulturgeschichte oft dieser Waffe bedient, wenn es von Seiten der Philosophie bedrängt wurde. Das verhinderte leider nicht, dass es selber wieder universalistische Ansprüche bediente, wenn es sich im Vorteil sah.
26.März 2012
Worum ging es in dem Kurs?
Welche Kräfte und Motive bewirken eine «Halbierung der Verkündigung»?
Widerstände
Es war eine Auswahl von Themen, die es heute erschweren, die biblischen und kirchlichen Glaubens-Traditionen nachzusprechen: weil das Weltbild sich geändert hat („Christus-Mythos“) oder weil die Wirkungs-Geschichte Schatten auf eine Tradition legte („Opfer“, „Kreuz“, Mission).
Anderes ist ein Streitpunkt zwischen verschiedenen Strömungen, die eher das Beharrende vertreten (Grosskirche) oder die befreienden Tendenzen (wie Befreiungstheologie, Religiöser Sozialismus, Feministische Theologie).
Oder es sind Positionen, die sich in der Kirchengeschichte schon in verschiedene Organisationsformen auseinander gelegt haben (Landes-Kirchen, Freikirchen mit ihren je anderen Schwerpunkten).
Anderes hat Widerstände aufgegriffen, die aus der Spiritualität selber kommen (der Nachfolgeruf oder die Aufforderung, sein Kreuz auf sich zu nehmen).
Neue Interessen in dieser Zeit
Schliesslich gibt es den Wandel des Zeitgeistes, der bisher Unterdrücktes neu ins Licht rückt (das prophetische Einstehen für Gerechtigkeit, nicht auf der Ebene der Individual-Moral, sondern als Forderung der sozial-ökonomischen Gestaltung des Zusammenlebens).
Mein Interesse
Für mich wichtig war das biographische Element: Ich wollte, und sei es erst vor der Pensionierung, wenigstens einmal das machen, für das ich Pfarrer geworden bin, gegen die Übermacht der Forderungen, die dem Träger der Pfarrer-Rolle übergestülpt werden. Es war anstrengend bis zur Erschöpfung, aber auch befriedigend, weil ich dem folgte, wo ich Notwendigkeit verspürte.
3o.März 2012
Der Leidenschaftliche Gott
Eine kraftvolle Sprache hatten die Menschen früher, um von Gott zu reden. Unsere Sprache heute wirkt seltsam blass dagegen. Farblos und unbeteiligt, wenn wir an all das denken, was in der Welt geschieht. Ist das Gott egal, wenn Menschen ausgenützt werden, wenn sie Haus und Stelle verlieren? Wenn sie fliehen müssen und nichts retten als das nackte Leben? – Ist es ihm egal, wenn Tiere aussterben, Pflanzen ausgerottet werden, die Gestalt der Erde verödet?
„So spricht Gott, der Herr – mit glühender Leidenschaft will ich reden!“ (Ez 36,5)
Das kündigt Gott beim Propheten Ezechiel an. Sein Zorn ist erregt, er sieht, wie Unrecht geschieht und will einschreiten. –
In der Bibel begegnet uns immer wieder ein Gott voller Gefühle und Leidenschaft. Das ist ungewohnt für uns und wirkt seltsam. Unserer Gottesdienste fliessen in einem ruhigen Gleichmass dahin. Ein Gott, der zornig wird, das erscheint uns urtümlich und primitiv. Gott, wie wir ihn uns vorstellen, hat keine Gefühle. Und wir müssen uns erst sagen lassen, dass das zur alttestamentlichen Vorstellung von einem König gehört: ein König muss das Recht wahren in seinem Land. Wenn er Unrecht sieht, wird er zornig. Und das wird von ihm erwartet. Denn dann greift er ein. Das hat den Menschen in der Bibel geholfen. Wenn sie sahen, dass Gott zornig wurde, dann wussten sie, dass einer da ist und sieht. Sie sind nicht allein. Da ist einer, der helfen kann, und er ist der Sache gewachsen.
Die Sprache
Eine kraftvolle Sprache hatten die Menschen früher, um von Gott zu reden. Unsere Sprache heute wirkt seltsam blass dagegen. Farblos und unbeteiligt, wenn wir an all das denken, was in der Welt geschieht. Ist das Gott egal, wenn Menschen ausgenützt werden, wenn sie Haus und Stelle verlieren? Wenn sie fliehen müssen und nichts retten als das nackte Leben? – Ist es ihm egal, wenn Tiere aussterben, Pflanzen ausgerottet werden, die Gestalt der Erde verödet? –
Aber sollen wir so von Gott reden, dass er sich in alles einmischt und politisch Partei ergreift? Im Islam gibt es Prediger, die das Volk aufhetzen. Das ist sicher kein Weg. Von Gott zu reden, als ob ihn alles nichts anginge, was auf der Welt geschieht, kann uns aber auch nicht helfen. Ein gutes Beispiel von Gott zu reden und dabei die Sorgen ernst zu nehmen, das finden wir im ersten Testament bei den Propheten.
Wer die Bibel liest, dem fallen die Propheten zuerst gar nicht auf. Die Bibel beginnt mit langen Erzählungen, und darin eingebettet tauchen einige Propheten auf. Im 19. Jh. hat die Bibel-Forschung entdeckt, dass die Propheten älter sind als die Erzählungen. Sie sind ursprünglicher. Das hat damals eine eigentliche Propheten-Begeisterung ausgelöst.
Wie aus dem Nichts scheinen sie aufzutauchen, diese Propheten. Als das Land leidet unter Ungerechtigkeit, als die Not gross ist in der Bevölkerung, da treten sie auf und sie verkündeten Gottes Wort. Sie scheuen den Konflikt nicht mit Autoritäten. Sie stehen ein für das Recht, unerschrocken und bereit, auch die Ablehnung und Verfolgung zu tragen, die mit dieser Aufgabe verbunden ist.
So etwas, dachte man, müsste man auch heute wiederhaben. Und die Dichter damals, liessen sich anstecken. Sie wollten auch Propheten sein und das Wort verkünden, so dass sich unter ihrem Wort die Welt verändert.
Die Welt verändern durch eine Predigt – das ist viel verlangt. Was wir brauchen, was wir suchen, ist eine kräftige Verkündigung, eine Sprache, die das aufnimmt, was die Menschen heute bewegt. Gesucht ist das Bild eines Gottes, der den Dingen gewachsen ist. Und der nicht abseitssteht.
Abseitsstehen ist nicht gern gesehen in der Bibel. Das ist das, was Gott den Menschen vorwirft im Neuen Testament: dass sie abseitsstehen. „Ihr sagt, ihr seid reich und habt alles. Ihr braucht nichts. Ihr seid weder kalt noch warm. Ach dass ich doch warm wäret. Ihr seid lau, und ich will euch ausspucken aus meinem Mund, spricht Gott!“ So heisst es in der Offenbarung über die Gemeinde von Laodizea. (1,14ff)
Wir sehen: eine leidenschaftliche Sprache ist gewöhnungs-bedürftig! Wenn die Kirche sie nicht mehr sprechen kann, wandert sie aus. Viele wichtige Dinge werden heute ausserhalb der Religion zur Sprache gebracht. Die Menschen sehen keinen Grund mehr, in der Kirche zu bleiben. Denn dort finden sie ihre Anliegen nicht.
In der Kirche hören sie immer von einem Gott, der lieb und zufrieden ist. Im ersten Testament tönt das anders: „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert? (Jeremia 23, 29) Da ist ein leidenschaftlicher Gott, der Anteil nimmt an der Welt!
Die Sache
Eine leidenschaftliche Sprache ist das! Warum haben wir sie verloren?
Es ist nicht nur das Gottes-Bild: dass wir uns einen Gott mit Gefühlen nicht mehr vorstellen mögen. Es ist auch die Sache, um die es da geht.
Im ersten Testament geht es um das Engagement für ein ganzes Volk. Bei uns ist der Glauben privatisiert. Darum wirft das erste Testament den Blick auf das ganze Dasein der Menschen: wie sie leben, wie die Gesellschaft sich verändert, wer abgehängt wird von der Entwicklung. Und diese Menschen werden von der Gemeinschaft nicht aufgegeben, auch wenn sie aus dem System fallen.
Bei uns ist das Glaubensleben verengt auf den einzelnen und seine Psyche. Wenn man das Programm der kirchlichen Bildungshäuser anschaut, dann findet man da Wellness, Psyche, Spiritualität, aber kaum ein soziales Thema. Das ist ausgewandert aus der Kirche (und mit ihnen die Menschen, die sich dafür interessieren).
Das war nicht immer so. In den 30er Jahren erhob sich die Bekennende Kirche gegen Nationalsozialismus. Und in den 80er Jahren protestierte die Weltkirche gegen die Politik der Rassentrennung in Südafrika. Der Reformierte Weltbund erklärte, ein solches Regime sei nicht vereinbar mit dem christlichen Glauben, mit der christlichen Überzeugung von der Würde jedes Menschen. (1982 wurde der „status confessionis“ ausgerufen).
Wie sollen wir das wieder lernen: ein Interesse für Fragen der ganzen Gemeinschaft?
Wir sind nicht mehr ein Volk wie im Alten Testament, das hinter Moses aus der Wüste auswandert und den Weg in ein gelobtes Land sucht. – Aber wir sind ein Volk wie im Neuen Testament, das hinter Jesus Christus aus der Wüste auswandert und den Weg ins Reich Gottes sucht. Auch die Kirche versteht sich als Gottesvolk. Und dieses lebt nicht nur im Einzelnen und in seiner Seele. Es lebt real in dieser Welt.
Aber wer ist die „Kirche“? Wer ist das Volk, das uns angeht? –
Das ist dein Nächster, sagt die Bibel: Und Christus erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Wenn einer in Not fällt, musst du nicht überlegen, ob er jetzt zu Dir gehört oder nicht, ob er dein Nächster ist. Christus kehrt die Frage um: hilft ihm, dann bist du für ihn der Nächste! (Lk 10,25ff)
So lebt die Kirche als Volk im realen Volk. Die Kirche hat keine äusseren Grenzen, keine Beschränkung nach Alter, Geschlecht oder Herkommen. Sie ist aber auch kein Phantasiegebilde. Sie lebt ganz real in realen Menschen. Mit ihnen hat sich Christus identifiziert, wenn er sagt: «Was du einem dieser meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan.» (Mt 25)
Wenn wir uns öffnen für konkrete Menschen und ihre konkreten Sorgen, dann kommt auch die Leidenschaft zurück, die wir in der heutigen Kirche vermissen. Dann finden wir auch eine starke Verkündigung. Es wird vielleicht nicht jene Predigt, „unter der sich die Welt verändert“. Aber sie hilft, den Glauben wieder neu verstehen.
Dann finden wir wieder einen Gott, der den Dingen gewachsen ist:
Weil wir unsere konkreten Sorgen zu ihm bringen,
Weil wir ihn für kompetent halten,
Weil wir auf seine Antwort hören, die er uns gibt, auch im sozialen und wirtschaftlichen Zusammenleben,
Weil wir uns anstecken lassen von unserem Glauben und unser Verhalten danach ausrichten.
So sagt Gott im ersten Testament: „Hütet euch, dass ihr den Bund des Herrn, eures Gottes, nicht vergesst. …Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer und ein eifernder Gott. Wenn du aber den Herrn, deinen Gott, suchst, so wirst du ihn finden. Denn der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben.“ Amen (Dtn 5,23 ff)
15.Oktober 2012
Die Texte aus dem Kurs „Das halbierte Evangelium“ sind zu einem Buch zusammengefasst und zum Herunterladen auf diesen Blog gestellt.
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